Medizinrecht

Ersatzzustellung an Rechtsanwalt am Samstag durch Einlegung in den Kanzleibriefkasten

Aktenzeichen  M 6 K 16.992

Datum:
5.12.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 60, § 74 Abs. 1 S. 1, § 173 S. 1
ZPO ZPO § 85 Abs. 2, § 182, § 418

 

Leitsatz

1 Zur Erschütterung der Beweiskraft einer Zustellurkunde als öffentliche Urkunde gemäß § 182 Abs. 1 S. 2, § 418 Abs. 1 ZPO bedarf es eines Gegenbeweises im Sinne des § 418 Abs. 2 ZPO. (redaktioneller Leitsatz)
2 Ein Rechtsanwalt darf zwar unter bestimmten Voraussetzungen die Berechnung, Notierung und Überwachung von Fristen an Büromitarbeiter delegieren, er muss den Fristablauf aber dann selbst nachprüfen, wenn ihm die Akte im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Prozesshandlung vorgelegt wird (Anschluss an BVerfG BeckRS 2002, 21907). (redaktioneller Leitsatz)
3 Ein Rechtsanwalt hat dafür Sorge zu tragen, dass Schriftstücke von Zustellungsumschlägen, aus denen sich der Zeitpunkt der Zustellung ergibt, nicht getrennt und diese zusammen mit dem zugestellten Schriftstück vorgelegt werden, damit er eventuelle Fehler bei der Eingangsregistrierung des Schriftstücks erkennen und korrigieren kann. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage ist unzulässig, weil sie nicht innerhalb der gesetzlichen Klagefrist des § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO erhoben worden ist. Wiedereinsetzung in die versäumte Klagefrist nach § 60 VwGO war nicht zu gewähren.
1. Die Klage ist verfristet, weil sie nicht innerhalb eines Monats entsprechend der gesetzlichen Bestimmung des § 74 Abs. 1 Satz 1 VwGO erhoben worden ist. Der Widerspruchsbescheid wurde dem Prozessbevollmächtigten des Klägers ausweislich der Postzustellungsurkunde am Samstag, den 30. Januar 2016 zugestellt. Mit der Beweiskraft einer öffentlichen Urkunde geht gemäß § 182 Abs. 2 Nr. 7, § 418 Abs. 1 ZPO der Zeitpunkt der Zustellung aus der Zustellungsurkunde hervor. Einen diesen Beweis erschütternden Gegenbeweis im Sinne des § 418 Abs. 2 ZPO hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers nicht erbracht. Die Richtigkeit seiner eidesstattlichen Versicherung vom 16. August 2016 unterstellt, schließt er aus seiner Anwesenheit am Tag der Zustellung in der Kanzlei, es sei entgegen der Vorschrift des § 180 Abs. 1 ZPO erst gar kein Zustellversuch in den Kanzleiräumen unternommen worden, weshalb die Vornahme einer Ersatzzustellung unzulässig gewesen sei. Dazu ist zunächst festzustellen, dass der Prozessbevollmächtigte keine Angaben dazu macht, welche Arbeiten er in der fraglichen Zeit durchgeführt hat. So könnte er beispielsweise telefoniert, ein Headset benutzt oder sich sonst in einer Art und Weise diesen Arbeiten zugewandt haben, dass er ein Klingeln oder Klopfen überhört haben könnte. Es erscheint auch keineswegs lebensfremd, dass er sich nicht über den von ihm angegeben Zeitraum von 3½ Stunden hinweg permanent an seinem Schreibtisch befunden, sondern diesen zeitweise verlassen haben könnte. Die Schlussfolgerung aus seiner Anwesenheit auf einen tatsächlich unterbliebenen Zustellversuch in den Kanzleiräumen erscheint dem Gericht daher keineswegs zwingend. Zudem handelt es sich bei einem Samstag nicht um einen üblichen Bürotag, so dass ein Zusteller nicht von der Anwesenheit empfangsberechtigter Personen in Büro- oder Kanzleiräumen ausgehen muss. Das gilt vorliegend umso mehr, als ausweislich des Briefkopfs des Prozessbevollmächtigten dessen Kanzlei am Samstag keine Bürozeiten hat. Das Gericht geht davon aus, dass sich auf dem Kanzleischild entsprechende Angaben über die Bürozeiten finden, von deren Richtigkeit ein Zusteller hat ausgehen dürfen. Außerdem entfaltet die Postzustellungsurkunde als öffentliche Urkunde auch insoweit Beweiskraft, als in ihr angegeben ist, es habe einen Zustellversuch durch Übergabe des Schriftstücks in den Geschäftsräumen gegeben. Die gegenläufige Darstellung und Mutmaßung des Prozessbevollmächtigten des Klägers vermag dem nicht mit gleichwertiger Beweiskraft entgegenzutreten, so dass von einer wirksamen Zustellung durch Einlegung des Widerspruchsbescheids in den Kanzleibriefkasten am 30. Januar 2016 auszugehen ist.
2. Wiedereinsetzung in die versäumte Klagefrist nach § 60 Abs. 1, § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO ist der Klagepartei nicht zu gewähren, weil insoweit dem Kläger das Verschulden seines Prozessbevollmächtigten gemäß § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnen ist. Nach dieser Vorschrift ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in eine versäumte Frist dann zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden an deren Einhaltung gehindert war. Diese Voraussetzungen sind vorliegend deshalb nicht gegeben, weil den Prozessbevollmächtigten des Klägers ein Verschulden an der Versäumung der Klagefrist trifft.
In der Rechtsprechung ist geklärt, dass ein Rechtsanwalt zwar unter bestimmten Voraussetzungen die Berechnung, Notierung und Überwachung von im Bürobetrieb häufig vorkommenden Fristen an gut ausgebildete und sorgfältig beaufsichtigte Büromitarbeiter delegieren darf, den Fristablauf aber dann selbst nachprüfen muss, wenn ihm die Akte im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Prozesshandlung vorgelegt wird (st. Rspr. z.B. BVerfG, B.v. 27.3.2002 NJW 2002, 3014; BGH B.v. 13.7.2015, AnwZ 2015 – juris, Rn. 5; BVerwG v. 7.3.1995 BayVBl. 1995, 570; BayVGH, B.v. 22.9.2015 – 11 ZB 15.1367 -, zitiert nach juris m.w.N.). Nach den eigenen an Eides statt versicherten Angaben des Prozessbevollmächtigten hat ihm die Akte mit dem Widerspruchsbescheid am Montag, den 1. Februar 2016 vorgelegen. Aus seiner eidesstattlichen Versicherung und derjenigen der bearbeitenden Kanzleiangestellten ergibt sich weiter, dass nicht diese, sondern er selbst die Klagefrist berechnet und deren entsprechende Eintragung verfügt hat. Doch selbst wenn ihm eine entsprechende Eintragung zusammen mit der Akte und dem Widerspruchsbescheid vorgelegt worden wäre, so hätte es ihm oblegen, die Klagefrist eigenverantwortlich zu kontrollieren bzw. zu berechnen.
Hinzu kommt die Fehlerträchtigkeit hinsichtlich von Fristberechnungen bei Eingang fristbestimmender Schriftstücke außerhalb der Bürozeiten und insbesondere an einem Samstag. Ein sorgfältig arbeitender Rechtsanwalt muss nicht nur die Fehleranfälligkeit im Zusammenhang mit der ordnungsgemäßen Handhabung solcher Schriftstücke kennen, sondern durch geeignete Maßnahmen sicherstellen, dass beim Öffnen der Post am darauffolgenden ersten Werktag zuverlässig das Eingangsdatum des Tages der tatsächlichen Zustellung aufgestempelt wird, anstatt des Eingangsdatums dieses auf den Tag der Zustellung folgenden ersten Werktags. Zusätzlich hat er dafür Sorge zu tragen, dass die Schriftstücke von den zugehörigen Zustellungsumschlägen, aus denen sich einzig und allein zweifelsfrei der Zeitpunkt der Zustellung ergibt, nicht getrennt werden und ihm diese zusammen mit dem zugestellten Schriftstück vorgelegt werden, damit er eventuelle Fehler bei der Eingangsregistrierung des Schriftstücks erkennen und korrigieren kann (ebenso BSG, U.v. 27.5.2008, NZS 2009, 413 bis 415, NVwZ 2009, 64). Diese Obliegenheiten, die keineswegs einen eher fernliegenden Sachverhalt betreffen, hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers verletzt und, als ihm am 1. Februar 2016 der Widerspruchsbescheid mit der Akte vorgelegt wurde, nicht zugleich nach dem Verbleib des zugehörigen Zustellungsumschlags gefragt, sondern sich ungeprüft auf den Eingangsstempel der Kanzlei verlassen und daher die Frist zur Klageerhebung falsch berechnet. Da der Kläger sich dieses Verschulden seines Prozessbevollmächtigten zurechnen lassen muss, war er nicht unverschuldet im Sinne des § 60 Abs. 1 VwGO an der rechtzeitigen Klageerhebung gehindert, weshalb ihm auch keine Wiedereinsetzung in die versäumte Klagefrist zu gewähren war.
3. Nur hilfsweise und insoweit selbsttragend für den Fall, dass man die Klage als nicht verfristet und damit zulässig ansehen wollte, wird ergänzend ausgeführt, dass der streitgegenständliche Bescheid der Beklagten vom 1. Juli 2015 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 28. Januar 2016 rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO analog).
3.1 Bei seiner Verkehrsteilnahme am … April 2014 stand der Kläger ausweislich der ihm entnommenen Blutprobe unter dem, weil über 1,0 ng/ml liegenden, verkehrsrelevanten Einfluss des wirkaktiven Tetrahydrocannabinol (THC), das mit einer Konzentration von 1,4 ng/ml zusammen mit 34,5 ng/ml THC-COHH in seinem Blut nachgewiesen worden ist. Damit lagen die Voraussetzungen vor, um dem Antragsteller nach § 3 Abs. 1 Straßenverkehrsgesetz – StVG -, § 46 Abs. 1 Sätze 1 und 2 Fahrerlaubnisverordnung – FeV -, Nr. 9.2.2 der Anlage 4 zur FeV, § 11 Abs. 7 FeV die Fahrerlaubnis zu entziehen, ohne dass es zuvor der Einholung eines Gutachtens bedurft hätte. Entgegen der von der Fahrerlaubnisbehörde der Beklagten vertretenen Auffassung ist nämlich vom Vorliegen eines mindestens zweimaligen und damit gelegentlichen Konsums der Droge Cannabis durch den Kläger auszugehen, was ohne weitere Aufklärung den Schluss auf dessen fehlende Fahreignung auf Grund seiner Verkehrsteilnahme am … April 2014 nach sich zieht. Denn es ist mit den vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht in Einklang zu bringen, dass der Kläger 48 Stunden vor seiner Verkehrsteilnahme erstmals und letztmals Cannabis konsumiert haben will. Nach spätestens 12 Stunden ist der psychoaktive Wirkstoff THC fast vollständig abgebaut und allenfalls in Spuren unterhalb von 1,0 ng/ml im Blut noch nachweisbar. Dagegen liegt die Konzentration 48 Stunden nach dem letztmaligen Konsum mit Sicherheit bereits unterhalb der Nachweisgrenze im Blut, während möglicherweise das Abbauprodukt THC-COOH noch länger als 12 Stunden, in Einzelfällen jedenfalls im Urin sogar mehrere Tage lang noch nachweisbar bleibt. Nach alledem ist von einem mindestens zweimaligen und damit gelegentlichen Cannabiskonsum des Klägers auszugehen, so dass ihm nach Maßgabe des § 11 Abs. 7 FeV die Fahrerlaubnis ohne vorangehende Anordnung eines Gutachtens zu entziehen war (vgl. zum Ganzen auch VG München, B.v. 17.11.2016, Az. M 6 S. 16.3838).
3.2 Kommt man mit Blick auf die Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (st. Rspr. seit dem Beschluss vom 9.5.2005 – 11 CS 04.2526; siehe zur ständigen Rechtsprechung der Kammer auch die weiteren Nachweise im Beschluss vom 17.11.2016, a.a.O.) zu der Ansicht, eine sofortige Entziehung der Fahrerlaubnis des Klägers sei deswegen nicht in Betracht gekommen, weil der anlaßgebende Vorfall im Zeitpunkt des Erlasses des Bescheids bereits mehr als ein Jahr zurückgelegen habe, so war ihm die Fahrerlaubnis im vorliegenden Fall gleichwohl zu entziehen, weil er das von ihm dann zu Recht geforderte ärztliche Gutachten zur weiteren Aufklärung der Frage eines Drogenkonsums innerhalb der ihm gesetzten Frist ohne rechtfertigenden Grund nicht vorgelegt hat und die Fahrerlaubnisbehörde deshalb berechtigt war, nach Maßgabe des § 11 Abs. 8 FeV auf seine mangelnde Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen zu schließen und ihm die Fahrerlaubnis zu entziehen. Insoweit sieht das Gericht von einer weiteren Begründung ab und verweist stattdessen auf die unter der vorstehenden Annahme zutreffenden rechtlichen Ausführungen im Bescheid der Beklagten vom 1. Juli 2015, die es sich zur Begründung der vorliegenden Entscheidung (hilfsweise) zu Eigen macht (§ 117 Abs. 5 VwGO).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Entscheidung über vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung und die Abwendungsbefugnis haben ihre Rechtsgrundlage in § 167 Abs. 2, Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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