Medizinrecht

erstmaliges Nichtbestehen der Diplomprüfung (Diplomarbeit), 3-Tages-Fiktion bei Bekanntgabe, Qualität des Bestreitens, Ruhen der Bearbeitungsfrist wegen Krankheit, Dauerleiden, Verfassungsmäßigkeit der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum Dauerleiden

Aktenzeichen  AN 2 K 21.00348

Datum:
29.11.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 49684
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayVwVfG Art. 41 Abs. 2
§ 4 Abs. 3 S. 2, § 30 Abs. 5

 

Leitsatz

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist insoweit vorläufig vollstreckbar. 
3. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

I.
Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Bescheid der Beklagten vom 3. August 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Januar 2021 ist rechtmäßig, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf erstmalige Ablegung der Diplomprüfung bzw. erstmalige Anfertigung der Diplomarbeit im Studiengang …, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
1. Der Ausspruch des erstmaligen Nichtbestehens der Diplomarbeit ergibt sich aus § 4 Abs. 3 Satz 2 Diplomprüfungsordnung für Studenten der … an der … Fakultät der …, zuletzt geändert durch die Satzung vom …, wonach insbesondere die Diplomarbeit erstmalig nicht bestanden ist, sofern sie auch nach Ablauf einer Überschreitungsfrist von vier Semestern über die Regelstudienzeit von acht Semestern hinaus aus Gründen nicht eingereicht ist, die Studierende zu vertreten haben, bzw. aus dem Rechtsgedanken des § 30 Abs. 5 … Danach ergibt sich das erstmalige Nichtbestehen bereits aus der Bestandskraft des Bescheides vom 26. Juli 2019 (nachfolgend lit. b). Überdies ist der streitgegenständliche Bescheid aber auch unabhängig von der Bestandskraft des genannten Bescheides vom 26. Juli 2019 rechtmäßig (nachfolgend lit. c).
a) Anwendbar ist vorliegend die … Im Übrigen unterscheidet sich die … in den vorliegend entscheidungserheblichen Vorschriften nicht von der zuletzt durch Satzung vom … geänderten Version (…).
b) Die Feststellung des erstmaligen Nichtbestehens nach § 4 Abs. 3 Satz 2 … bzw. dem Rechtsgedanken des § 30 Abs. 5 … ergibt sich hier bereits daraus, dass die letztmalige, krankheitsbedingte Verlängerung der Abgabefrist der klägerischen Diplomarbeit zum 31. März 2020 gemäß Bescheid der Beklagten vom 26. Juli 2019 in Bestandskraft erwachsen ist und die Diplomarbeit nicht rechtzeitig eingereicht wurde.
aa) § 4 Abs. 2 Sätze 1 und 2 … sehen sinngemäß vor, dass die Diplomprüfung spätestens bis zum achten Fachsemester abgelegt und spätestens innerhalb der ersten beiden Monate des folgenden Semesters beendet wird. Studierende sollen sich so rechtzeitig zur Diplomprüfung melden, dass sie diese mit allen Teilprüfungen und der Diplomarbeit bis zum genannten Fristende ablegen können. § 4 Abs. 3 Satz 1 … regelt, dass die Frist für die Ablegung der Diplomprüfung bis zu vier Semester überschritten werden kann. Wird diese Frist aus Gründen überschritten, die Studierende zu vertreten haben, gilt insbesondere eine nicht eingereichte Diplomarbeit als erstmalig nicht bestanden (§ 4 Abs. 3 Satz 2 …). Gem. § 30 Abs. 5 Satz 1 … darf die Zeit von der Themenstellung bis zur Ablieferung der Diplomarbeit sechs Monate nicht überschreiten. Auf begründeten Antrag des Kandidaten kann der Vorsitzende des Prüfungsausschusses mit Zustimmung des Prüfers, der die Arbeit vergeben hat, gem. § 30 Abs. 5 Satz 2 … die Bearbeitungszeit ausnahmsweise um höchstens drei Monate verlängern. Weist der Kandidat durch ärztliches Zeugnis nach, dass er wegen Krankheit an der Bearbeitung gehindert ist, ruht die Bearbeitungsfrist, § 30 Abs. 5 Satz 3 … Die Diplomarbeit ist innerhalb der festgesetzten Zeit in zwei Exemplaren und in gebundener Form beim Prüfungsamt einzureichen, § 30 Abs. 6 Satz 1 … bb) Danach ergibt sich hier das erstmalige Nichtbestehen des Prüfungsteils der Diplomarbeit bereits mit Blick auf die Bestandskraft des Bescheides vom 26. Juli 2019.
(1) Die Klägerin hat ihre Diplomarbeit unstreitig nicht innerhalb der fünfwöchigen Frist bis zum 5. Mai 2020 eingereicht, die an die letztmalige Fristsetzung bis 31. März 2020 gemäß Bescheid vom 26. Juli 2019 anknüpft.
(2) Mit dem Bescheid vom 26. Juli 2019 ist davon auszugehen, dass die ausgebliebene Einreichung der Diplomarbeit auf Gründe zurückgeht, die die Klägerin im Sinne von § 4 Abs. 3 Satz 2 bzw. § 30 Abs. 5 … zu vertreten hat. Mit dem genannten Bescheid hat die Beklagte die Bearbeitungszeit für die Diplomarbeit der Klägerin letztmalig bis zum 31. März 2020 festgesetzt. Dabei ergibt jedenfalls die Auslegung des Bescheides entsprechend §§ 133, 157 BGB (vgl. von Alemann/Scheffczyk, Beck‘scher Online-Kommentar VwVfG, 54. Edition Stand 1.1.2022, § 35 Rn. 46), dass sich die ausgesprochene Letztmaligkeit auf die Erkrankung der Klägerin bezieht. Denn in dem Bescheid ist im Kern ausgeführt, bei der Erkrankung der Klägerin handele es sich um ein prüfungsrechtlich nicht berücksichtigungsfähiges Dauerleiden. Damit stellt der Bescheid jedenfalls im Rahmen der Auslegung fest, dass eine weitere Verlängerung der Bearbeitungsfrist mit Blick auf die fortbestehende Erkrankung der Klägerin ausscheidet.
(3) Weiter ist der Bescheid vom 26. Juli 2019 auch in Bestandskraft erwachsen, so dass an dieser Stelle unerheblich ist, ob die ausgesprochene Letztmaligkeit der Fristverlängerung mit Blick auf ein etwaig zugrundeliegendes Dauerleiden in tatsächlicher oder (verfassungs-)rechtlicher Hinsicht rechtmäßig war. Denn anerkannt ist, dass auch (ggf.) rechtswidrige Verwaltungsakte in Bestandskraft erwachsen (vgl. Schemmer in Beck’scher Online-Kommentar VwVfG, 53. Edition Stand 1.10.2021, § 43 Rn. 15, 20).
(a) Bestandskräftig wird ein Verwaltungsakt, wenn er nach Bekanntgabe nicht binnen Monatsfrist (§ 70 Abs. 1, § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO) mit regulären Rechtsbehelfen angegriffen wird (vgl. Schemmer in Bader/Ronellenfitsch, Beck’scher Online-Kommentar VwVfG, 53. Edition Stand 1.10.2021, § 43 Rn. 20). Gem. Art. 41 Abs. 2 Satz 1 BayVwVfG gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt, der im Inland durch die Post übermittelt wird, am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben. Dies gilt gem. Art. 41 Abs. 2 Satz 3 Halbs. 1 BayVwVfG nicht, wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Ein Verwaltungsakt ist dann zugegangen, wenn er derart in den Machtbereich des Empfängers gelangt ist, dass dieser bei gewöhnlichem Verlauf und unter normalen Umständen unter Berücksichtigung der Verkehrsanschauung die Möglichkeit hat, von ihm Kenntnis zu nehmen (Stelkens in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Auflage 2018, § 41 Rn. 62). Abzustellen ist auf den gewöhnlichen Verlauf und normale Umstände, sodass in der Person des Empfängers liegende Gründe wie Urlaub oder Krankheit unberücksichtigt bleiben (vgl. Stelkens in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Auflage 2018, § 41 Rn. 62). Gem. Art. 41 Abs. 2 Satz 3 Halbs. 2 BayVwVfG hat im Zweifel die Behörde den Zugang des Verwaltungsakts und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen. Bestreitet der Empfänger den Zugang, muss der Verwaltungsakt als nicht bzw. zu dem von dem Empfänger behaupteten späteren Zeitpunkt als zugegangen behandelt werden, es sei denn die Behörde kann beweisen, dass die Bekanntgabe an dem nach Absatz 2 anzunehmenden Tag erfolgt ist. Das Bestreiten des Empfängers muss sich hierbei auf den Zugang beziehen. Dass lediglich die tatsächliche Kenntnisnahme unterblieben ist, reicht nicht aus (vgl. hierzu im Ganzen Baer in Schoch/Schneider, VwVfG, Werkstand: Grundwerk Juli 2020, § 41 Rn. 88).
(b) Danach ist hier der Bescheid der Beklagten vom 26. Juli 2019 in Bestandskraft erwachsen. Denn die Klägerin hat den Verwaltungsakt nach Bekanntgabe nicht binnen Monatsfrist angegriffen. Nach Aktenlage wurde der Bescheid am 30. Juli 2019 versandt. Nach Art. 41 Abs. 2 Satz 1 BayVwVfG gilt er daher als am 2. August 2019 der Klägerin bekannt gegeben. Ein hinreichendes Bestreiten des Zugangs durch die Klägerin liegt nicht vor. Denn selbst wenn man ein schlichtes Bestreiten des Zugangs zur Widerlegung der Drei-Tages-Fiktion des Art. 41 Abs. 2 Satz 1 BayVwVfG genügen lassen will (vgl. etwa BayVGH, U.v. 24.11.2011 – 20 B 11.1659 – juris Rn. 27 ff.), fehlt es vorliegend bereits an einem solchen. So trug die Klägerin im Rahmen des Verwaltungsverfahrens zunächst vor, sie habe den Bescheid nicht erhalten. Vielleicht sei das Schreiben angekommen, aber von der Familie zur Werbung oder auf einen falschen Haufen gelegt worden. Ein Bestreiten des Zugangs kann hierin nicht gesehen werden. Denn bereits mit Einlegen in den Briefkasten gelangt eine Willenserklärung in den Machtbereich des Empfängers (vgl. Stelkens in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Auflage 2018, § 41 Rn. 70). Dass der Bescheid in den Briefkasten eingelegt wurde, wurde durch die Klägerin nicht hinreichend bestritten. Da bezüglich der Möglichkeit der Kenntnisnahme auf einen gewöhnlichen Verlauf abzustellen ist, bleibt eine etwaige Abwesenheit der Klägerin wegen stationärer Behandlung unberücksichtigt. Insoweit wäre die Klägerin im Übrigen hinreichend durch die Grundsätze der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand geschützt. Im weiteren Verlauf des Verwaltungsverfahrens verwies die Klägerin lediglich pauschal darauf, den Bescheid nicht erhalten zu haben, wobei unklar blieb, ob der Bescheid nicht zugegangen sein soll oder die Klägerin lediglich meint, hiervon keine Kenntnis genommen zu haben. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung hat der Klägervertreter sodann klargestellt, die Klägerin habe keine Kenntnis von dem damaligen Bescheid genommen. Es sei nicht bekannt, wo das Schreiben letztlich geblieben sei, es könne aber sein, dass es im Briefkasten der Klägerin gelandet sei. Die Klägerin führte aus, es könne sein, dass das Schreiben bei ihr angekommen und auf einem falschen Stapel gelandet sei. Außerdem wohne sie in der Nähe eines … und es sei schon vorgekommen, dass Kinder etwas aus ihrem Briefkasten genommen hätten. Auch in diesem Vorbringen liegt kein Bestreiten des Zugangs, da gerade eingeräumt wird, dass der Bescheid möglicherweise in den Briefkasten der Klägerin eingelegt wurde.
c) Der angegriffene Bescheid ist überdies auch unabhängig von der Bestandskraft des Bescheides vom 26. Juli 2019 rechtmäßig. Denn bei der Erkrankung der Klägerin ist von einem Dauerleiden auszugehen, das bei verfassungskonformer Auslegung der Prüfungsordnung keine Fristverlängerung nach § 4 Abs. 4 Satz 1 … bzw. kein Ruhen der Bearbeitungsfrist nach § 30 Abs. 5 Satz 3 … ermöglicht.
aa) Ein Dauerleiden ist eine erhebliche Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes, die die Einschränkung der Leistungsfähigkeit trotz ärztlicher Hilfe bzw. des Einsatzes medizinisch-technischer Hilfsmittel prognostisch nicht nur vorübergehend, sondern dauerhaft oder doch auf unbestimmte Zeit ohne sichere Heilungschance bedingt (Jeremias in Niehues/Fischer/Jeremias, Prüfungsrecht, 7. Auflage 2018, Rn. 258). Für das Nichtvorliegen eines Dauerleidens tragen die Prüflinge die Darlegungs- und Beweislast. Denn diese tragen die Darlegungs- und Beweislast für die Prüfungsunfähigkeit. Dieser Grundsatz gilt auch, wenn ein Dauerleiden im Raum steht, das etwa einen Rücktritt, oder wie vorliegend ein weiteres Ruhen der Bearbeitungsfrist der Diplomarbeit, nicht rechtfertigt. Hier muss nicht etwa die Prüfungsbehörde das Vorliegen eines Dauerleidens als für sie günstige Ausnahme von der Prüfungsunfähigkeit nachweisen. Vielmehr bleibt es dabei, dass der Prüfling seine Prüfungsunfähigkeit darlegen und notfalls beweisen muss. Dies beinhaltet dann auch den Nachweis, dass ein akuter Zustand von seinem normalen, dauerhaften Zustand, der ggf. durch ein Dauerleiden geprägt ist, negativ abweicht (vgl. hierzu im Ganzen Jeremias in Niehues/Fischer/Jeremias, Prüfungsrecht, 7. Aufl. 2018, Rn. 281; VG Freiburg, U.v. 25.9.2020 – 1 K 4619/19 – juris Rn. 63). Anders wird dies lediglich in Fällen gesehen, in denen die Behörde eine bestehende, amtsärztlich bescheinigte Prüfungsunfähigkeit nicht anerkennen will, weil sie Folge eines Dauerleidens sei. Diesbezüglich wird von einer Darlegungs- und Beweislast der Prüfungsbehörde ausgegangen (vgl. hierzu im Ganzen VG Freiburg, U.v. 25.9.2020 – 1 K 4619/19 – juris Rn. 63).
Danach ist hier von einem Dauerleiden auszugehen.
Zunächst sprechen zahlreiche Umstände für die durch die Beklagte vorzunehmende Prognoseentscheidung, wonach ein Dauerleiden vorliege. So trug die Klägerin bereits … vor, unter physischen und psychischen Beschwerden zu leiden. Aus der eingereichten Bescheinigung ging hervor, dass die Klägerin sich bereits seit … in psychosomatischer Behandlung befunden habe und ihre Lebensgestaltung in allen Lebensbereichen stark beeinträchtigt gewesen sei. Mit psychologisch-psychotherapeutischer Stellungnahme vom … wurde der Klägerin bescheinigt, dass Geschehnisse in der privaten Lebenssituation ihre Lebensgestaltung derart massiv beeinträchtigt hätten, dass eine ordnungsgemäße Teilnahme am Vorlesungs- bzw. Seminarbetrieb im Wintersemester … nicht möglich gewesen sei. Mit Attest vom … wurde der Klägerin eine überlastungsbedingte Einschränkung der psychophysischen Leistungsfähigkeit bescheinigt. Auch mit Attest vom … wurden der Klägerin diverse psychische und physische Erkrankungen bescheinigt, die zu massiv seien, um weiter an der Diplomarbeit zu schreiben. Mit Attest vom … wurde bescheinigt, dass die Beschwerden noch anhielten. Mit E-Mail vom 7. Januar 2015 erklärte die Klägerin, dass sie nach wie vor krank sei und keine Besserung in Sicht sei. Es werde eher immer schlechter (Bl. 140 d. Behördenakte). Mit Attesten vom … und … wurde der Klägerin bescheinigt, dass die Beschwerden weiter anhielten (Bl. 146, 150 f. d. Behördenakte). Als Diagnose wurde im Attest vom …, wie auch in darauffolgenden, u.a. eine somatoforme Störung genannt. Mit E-Mail vom 17. Januar 2016 erklärte die Klägerin, dass sich ihr Gesundheitszustand weiter verschlechtert habe. Auch eine stationäre Behandlung in der … für Orthopädie und Psychosomatik vom … bis … war nach Angaben der Klägerin wenig erfolgreich. Sie begebe sich parallel in psychiatrische Behandlung, da ihre Psyche mittlerweile überhaupt nicht mehr mitspiele (Bl. 195 d. Behördenakte). Mit Attest vom …, wie auch mit Folgeattesten, wurden der Klägerin u.a. eine Somatisierungsstörung inklusive Schmerzstörung, eine mittelgradige depressive Episode sowie eine Posttraumatische Belastungsstörung bescheinigt. Die Klägerin selbst erklärte mit E-Mail vom 10. März 2020, dass sich ihr körperlicher Zustand verschlechtert habe und sie auch 2020 krankgeschrieben bleibe. Sie denke zwar nicht, dass sich ihr Zustand noch einmal verbessere und sie ihre Arbeit irgendwann schreiben könne, aber vielleicht klappe es ja doch. Nach nochmaliger Übersendung des Bescheides vom 26. Juli 2019 per E-Mail, mithin nachdem die Klägerin unstreitig Kenntnis von der Feststellung des Dauerleidens genommen hatte, erklärte sie selbst, sie wisse nicht, ob sie irgendwann einmal wieder in der Lage sein werde, eine solche Arbeit zu schreiben, zu arbeiten etc. Aber zu wissen, dass der Abschluss grundsätzlich möglich wäre, wäre trotzdem sehr schön.
Darüber hinaus hat Klägerin nicht substantiiert geltend gemacht, es liege kein Dauerleiden vor. Auch im Termin zur mündlichen Verhandlung ließ sie über ihren Prozessbevollmächtigten erklären, es solle nicht bestritten werden, dass eine somatoforme Erkrankung zugrunde liege. Es sei jedoch fraglich, inwieweit diese jeweils ursächlich für die jeweilige Prüfungsunfähigkeit gewesen sei.
Nach alledem ist jedenfalls mit den Grundsätzen der Darlegungs- und Beweislast von einem Dauerleiden auszugehen Dem steht auch die Bescheinigung der Deutschen Rentenversicherung über das Vorliegen einer vollständigen Erwerbsminderung auf Zeit nicht entgegen. Gem. § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI sind voll erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Zwar ist auf der Bescheinigung der Deutschen Rentenversicherung vom 24. Mai 2018 angegeben, dass die volle Erwerbsminderung der Klägerin auf Zeit bestehe, weil nicht unwahrscheinlich sei, dass die volle Erwerbsminderung behoben werden könne. Allerdings ist bereits der Prüfungsmaßstab, der durch die Deutsche Rentenversicherung zur Feststellung der Erwerbsminderung angelegt wird, ein anderer, als derjenige, der bzgl. der Prüfung eines Dauerleidens anzulegen ist. Denn § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI stellt auf eine beliebige Erwerbstätigkeit im Umfang von drei Stunden täglich ab. Im vorliegenden Fall geht es jedoch nicht um die Frage einer beliebigen Erwerbstätigkeit, sondern um die Tätigkeit des Schreibens einer Diplomarbeit bzw. die spätere Tätigkeit als … und zudem nicht lediglich um eine Tätigkeit von drei Stunden täglich. Überdies hatte die Beklagte eine Prognoseentscheidung im Zeitpunkt der Prüfungsentscheidung zu treffen. Im Rahmen dieser musste sie auch berücksichtigen, dass es bei der einmaligen Feststellung der Erwerbsminderung nicht sein Bewenden hatte. So hatte sich die für den Zeitraum 5. Oktober 2017 bis 31. März 2020 festgestellte Erwerbsminderung nach eigenem Vortrag der Klägerin schon einmal verlängert (bis zum 31. März 2021).
Die Erkrankung der Klägerin beeinträchtigte auch ihre Leistungsfähigkeit, da ihr über einen Zeitraum von sieben Jahren eine Arbeit an der Diplomarbeit nicht möglich war.
bb) Die Vorschriften nach § 4 Abs. 3 Satz 2 und § 30 Abs. 5 Satz 3 … sind im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. etwa BVerwG, U.v. 24.2.2021 – 6 C 1.20 – BeckRS 2021, 8678) verfassungskonform dahingehend auszulegen bzw. teleologisch zu reduzieren, dass die Annahme eines Nichtvertretenmüssens bzw. ein Ruhen der Bearbeitungsfrist bei Dauerleiden nicht in Betracht kommt. Eine solche Auslegung ist vor dem Hintergrund des in Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 12 Abs. 1 GG verankerten Grundsatzes der Chancengleichheit verfassungsrechtlich geboten. Nach diesem Grundsatz muss der Normgeber Sorge dafür tragen, dass für alle Teilnehmer vergleichbarer Prüfungen so weit wie möglich gleiche Prüfungsbedingungen und Bewertungsmaßstäbe gelten. Bevorzugungen und Benachteiligungen einzelner Teilnehmer oder Teilnehmerinnen müssen danach vermieden werden, um gleiche Erfolgschancen zu gewährleisten. Den Prüflingen muss etwa eine gleiche Anzahl an Prüfungsversuchen zustehen und die Prüfer müssen an die Prüfungsleistungen einen einheitlichen Bewertungsmaßstab ohne Rücksicht auf die individuelle Leistungsfähigkeit des jeweiligen Prüflings anlegen (vgl. hierzu im Ganzen BVerwG, U.v. 24.2.2021 – 6 C 1.20 – BeckRS 2021, 8678 Rn. 17). Da durch die Prüfung gerade das Leistungsvermögen des Prüflings gemessen werden soll, sind die Prüfungsanforderungen nicht an das Leistungsvermögen des Prüflings anzupassen. Minderungen der Leistungsfähigkeit, deren Ursache in der Person des Prüflings liegt, sollen im Unterschied zur Darstellungsfähigkeit gerade nicht abgebildet werden (vgl. hierzu im Ganzen Jeremias in Niehues/Fischer/Jeremias, Prüfungsrecht, 7. Auflage 2018, Rn 258 ff.). So kommt etwa die Anerkennung eines Rücktritts wegen krankheitsbedingter Prüfungsunfähigkeit in Betracht, wenn der Prüfling auf Grund einer vorübergehenden krankheitsbedingten Beeinträchtigung seines physischen oder psychischen Zustands nicht in der Lage ist, in der Prüfung seine individuelle Leistungsfähigkeit nachzuweisen (vgl. BVerwG U.v. 24.2.2021 – 6 C 1.20 – BeckRS 2021, 8678 Rn. 18). Ein Nachteilsausgleich kommt auch bei chronischen Krankheiten in Betracht, sofern der Prüfling durch seine Krankheit lediglich daran gehindert ist, seine tatsächlich uneingeschränkt bestehende Leistungsfähigkeit in der geforderten Prüfungsform nachzuweisen (OVG Lüneburg, U.v. 22.6.2021 – 2 LA 461/20 – juris Rn. 15). Anders liegt der Fall aber, wenn die Krankheit, wie vorliegend, dauerhaft den Zustand des Prüflings beeinträchtigt und dessen individuelle Leistungsfähigkeit prägt, mithin ein Dauerleiden vorliegt. Bei einem Dauerleiden bleibt der fehlgeschlagene Prüfungsversuch gerade die Folge einer die Persönlichkeit prägenden und deshalb nicht irregulären Leistungsbeeinträchtigung des Prüflings. Der prüfungsrechtliche Grundsatz der Chancengleichheit verbietet es mit Blick auf den Prüfungszweck über derartige Leistungsmängel hinwegzusehen und die der tatsächlichen Leistungsfähigkeit entsprechenden Prüfungsleistung unberücksichtigt zu lassen (vgl. hierzu im Ganzen BVerwG, U.v. 24.2.2021 – 6 C 1.20 – BeckRS 2021, 8678 Rn. 17).
Zwar stellt die Nichtgewährung des Ruhens der Arbeit mit der Folge des erstmaligen Nichtbestehens einen Eingriff in das Grundrecht der Berufsfreiheit dar, Art. 12 Abs. 1 GG. Der Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG ist eröffnet, da es sich bei der Diplomprüfung um eine berufsbezogene Prüfung handelt. Der Eingriff ist jedoch mit Blick auf den prüfungsrechtlichen Grundsatz der Chancengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 GG gerechtfertigt. Die Nichtanerkennung eines Dauerleidens verfolgt den legitimen Zweck der Sicherstellung prüfungsrechtlicher Chancengleichheit. Die Nichtanerkennung von Dauerleiden ist zur Erreichung dieses Ziels geeignet und erforderlich. Denn sonst würde die Prüfung aus den oben genannten Gründen letztlich ihren Zweck verfehlen, die individuelle Leistungsfähigkeit von Prüflingen zu messen, wie sie letztlich in der Persönlichkeit des Prüflings begründet liegt. Auch überwiegt die Sicherstellung der Chancengleichheit im Rahmen der Angemessenheitsprüfung die Beeinträchtigung der Berufsfreiheit. Denn bei einer berufsbezogenen Prüfung sollen gerade die Fähigkeiten und Kenntnisse nachgewiesen werden, die in der Ausbildung erworben wurden und für die spätere Ausübung des Berufs erforderlich sind. Vor dem Hintergrund des Grundsatzes der Chancengleichheit kann daher keine Angleichung der Prüfungsanforderungen an die jeweilige Leistungsfähigkeit des Prüflings erfolgen. Würden jedoch Dauerleiden Berücksichtigung finden, wäre dies, wie ausgeführt, der Fall.
Auch ein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG liegt nicht vor. Gem. Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG darf niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Bei psychischen Erkrankungen liegt eine Behinderung vor, wenn die Beeinträchtigung längerfristig und von solcher Art ist, dass sie den Betroffenen an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern kann (Kischel in Beck’scher Online-Kommentar, 49. Edition Stand 15.11.2021, Art. 3 GG Rn. 233). Danach dürfte zwar bei (überwiegend psychisch bedingten) Dauererkrankungen oftmals eine Behinderung im Sinne von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG vorliegen. Aber auch wenn in der Nichtberücksichtigung von Dauerleiden eine nicht nur mittelbare (vgl. insoweit Kischel a.a.O. Rn. 235, 215, 186), sondern unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Merkmals der Behinderung gesehen wird, ist der Eingriff in das Benachteiligungsverbot jedenfalls gerechtfertigt. Denn anerkannt ist, dass die Benachteiligung durch zwingende Gründe gerechtfertigt werden kann (Kischel a.a.O. Rn. 236). Da – wie ausgeführt – im Fall der Berücksichtigung von Dauerleiden eine berufsbezogene Prüfung letztlich ihren Sinn verlöre, die Leistungsfähigkeit der Prüflinge zu messen, liegt hier ein rechtfertigender zwingender Grund vor. Auch im vorliegenden Fall verfolgt die Diplomarbeit den Zweck, dass die Prüflinge nachweisen, in der Lage zu sein, eine wissenschaftliche Arbeit innerhalb einer bestimmten Bearbeitungsfrist zu verfassen. Dieser Zweck verbietet eine Anpassung der Prüfungsbedingungen an die individuelle Leistungsfähigkeit. Hierin liegt auch nicht, wie vom Klägervertreter in der mündlichen Verhandlung gerügt, eine pauschale Ungleichbehandlung von psychischen bzw. psychosomatischen Krankheiten auf der einen und physischen Erkrankungen auf der anderen Seite. Denn auch psychische Erkrankungen sind nicht pauschal als Dauerleiden einzustufen. Vielmehr ist auch bei diesen im Rahmen einer Prognoseentscheidung ausschlaggebend, ob die Erkrankung lediglich vorübergehend ist bzw. lediglich die Nachweisbarkeit der Leistungsfähigkeit betrifft oder ob sie als Dauerleiden die Leistungsfähigkeit des Prüflings dauerhaft beeinträchtigt. Danach wären etwa episodenhafte psychische Erkrankungen, die lediglich auf absehbare Zeit bestehen, nicht als Dauerleiden einzustufen. Ein solcher Fall ist vorliegend, wie bereits aufgezeigt, jedoch nicht gegeben. Schließlich ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass bzw. wie die krankheitsbedingten Einschränkungen der Klägerin im Rahmen einer künftigen Ausübung von Tätigkeiten als Diplom- … ausgeglichen werden könnten.
2. Ein Anspruch der Klägerin auf erstmalige Fertigung der Diplomarbeit scheidet nach alledem aus, zumal die Klägerin den erstmaligen Antrag auf Ruhen der Bearbeitungsfrist der Diplomarbeit erst am … April 2014 stellte, mithin zwei Tage vor Ablauf der Frist am … April 2014.
II.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 161 Abs. 1, § 154 Abs. 1 VwGO, der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, §§ 711, 713 ZPO.


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