Medizinrecht

Erwerbsminderungsrente – Keine nachträgliche Herstellbarkeit fehlender 3/5-Belegung

Aktenzeichen  L 19 R 34/16

Datum:
13.10.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 113500
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VI § 4 Abs. 2, § 43 Abs. 2 S. 1 Nr. 2, Abs. 4, § 241
SGB III § 57, § 58, § 117 Abs. 3, § 421 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Zu den Voraussetzungen einer Rente wegen Erwerbsminderung. (amtlicher Leitsatz)
2 Ist die versicherungsrechtliche Voraussetzung der 3/5-Belegung für eine Erwerbsminderungsrechte nicht erfüllt, weil eine selbstständige Tätigkeit aufgenommen wurde, so kann diese Lücke nicht durch nachträgliche Beiträge für eine rentenversicherungspflichtige selbstständige Tätigkeit aufgefüllt werden. (redaktioneller Leitsatz)
3 Ein auf Füllung dieser Lücke gerichteter Herstellungsanspruch wegen Beratungsmängel scheitert jedenfalls am Kausalitätserfordernis, weil die Rentenpflichtversicherung auf Antrag für Selbstständige keine generell übliche Versicherung ist, die nach Hinweis jedermann sogleich beantragt. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 4 R 180/15 2015-11-27 GeB SGNUERNBERG SG Nürnberg

Tenor

I. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Nürnberg vom 27.11.2015 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz -SGG -) ist zulässig, aber nicht begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.
Gemäß § 43 Abs. 2 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersrente Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie
1. voll erwerbsgemindert sind,
2.in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Tätigkeit oder Beschäftigung haben und
3.vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Voll erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Dies ist bei der Klägerin nach übereinstimmender Ansicht der Beteiligten und den überzeugenden ärztlichen Feststellungen ab 19.03.2013 der Fall, wobei es aber noch nicht als unwahrscheinlich anzusehen ist, dass sich das Erwerbsvermögen der Klägerin nach weiterer Rekonvaleszenz noch einmal bessert. Der medizinische Leistungsfall, d.h. der Eintritt der Erwerbsminderung, ist damit für den 19.03.2013 gegeben und determiniert den Zeitraum, in dem die Erfüllung der besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (§ 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB VI) gegeben sein muss.
Während die Klägerin unproblematisch mehr als 60 Monate Beitragszeiten aufzuweisen hat und damit die allgemeine Wartezeit erfüllt hat (§ 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI iVm § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB VI), liegen in den letzten 5 Jahren vor dem medizinischen Leistungsfall – d.h. vom 19.03.2008 bis 18.03.2013 – nur 32 Monate Beitragszeiten und damit keine 3 Jahre (= 36 Monate) mit Pflichtbeitragszeiten vor. Auch sind keine Zeiten vorhanden, die nach § 43 Abs. 4 SGB VI den 5-Jahres-Zeitraum verlängern würden; insbesondere ist das Vorliegen von Arbeitslosigkeit neben einer in Vollzeit ausgeübten selbstständigen Tätigkeit ausgeschlossen. Ein ausnahmsweises Absehen von dieser Bedingung, wie es § 241 Abs. 2 SGB VI aus Gründen des Vertrauensschutzes vorsieht, kommt im Fall der Klägerin ebenfalls nicht in Betracht, da sie zum 01.01.1984 die allgemeine Wartezeit noch nicht erfüllt gehabt hatte.
Ein hypothetisch unterstellter späterer Zeitpunkt für den medizinischen Leistungsfall würde erst recht nicht zur Erfüllung dieser Voraussetzung führen; ein früherer Leistungsfall – etwa schon im November 2012 – ist auf Grund der tatsächlichen Verhältnisse – Ausübung einer selbstständigen Tätigkeit – ausgeschlossen.
Der Senat sieht – wie bereits das SG Nürnberg – auch keine Möglichkeit dafür, dass in dem derzeit nicht mit Beitragszeiten belegten Zeitabschnitt November 2010 bis März 2013 noch ein anderer rechtlicher Zustand erreicht werden könnte. Zwar wäre es denkbar, wenn man den Beginn eines Rentenverfahrens im März 2013 annehmen könnte – Reha-Antragstellung war allerdings ohnehin erst im Mai 2013 -, dass die Klägerin über § 197 Abs. 2 iVm § 198 SGB VI noch für die Jahre 2012 und 2013 freiwillige Beiträge zahlen könnte. Diese wären jedoch weder Pflichtbeiträge, noch würden sie den maßgeblichen Zeitraum nach § 43 Abs. 4 SGB VI strecken.
Mangels Erfüllung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen hat die Klägerin keinen Anspruch auf Zahlung einer Erwerbsminderungsrente durch die Beklagte. Der Hauptantrag der Klägerin ist nicht begründet.
Auch auf die hilfsweise beantragte Beitragsnachzahlung mit anschließender Erwerbsminderungsrentenzahlung hat die Klägerin keinen Anspruch. Die Zahlung von Pflichtbeiträgen aus einer Antragspflichtversicherung für Selbstständige (§ 4 Abs. 2 SGB VI) ist regelmäßig nur für die Zukunft möglich. Eine Antragstellung für einen Zeitpunkt vor dem 19.03.2013 kommt auch nicht im Rahmen einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 27 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch -SGB X-) oder eines richterrechtlich geschaffenen sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs (vgl. Seewald in: Kasseler Kommentar, Stand Juni 2012, vor § 38 SGB I, Rn. 120 ff) in Betracht.
Die Klägerin mag sich in einem Irrtum über das Fortbestehen einer Mitgliedschaft und Beitragszahlung in der Rentenversicherung befunden haben – obwohl ihr Untätigbleiben nach Kündigen bzw. Wegfall der freiwilligen Arbeitslosenversicherung eher für ein Nichtbedenken, als einen Irrtum spricht -, dieser wäre aber durch eine Nachfrage der Klägerin nach ihrem Rentenversicherungsschutz einfach zu vermeiden gewesen, so dass hier kein unverschuldetes Versäumen der Antragsfrist vorgelegen hat.
Es hat auch eindeutig kein Beratungsfehler vorgelegen, da der Klägerin von keiner Seite positiv der Hinweis auf ein Fortbestehen des Rentenversicherungsschutzes gegeben worden ist.
Ein Beratungsmangel durch die Beklagte scheidet aus, da kein Kontakt mit der Beklagten zu dieser Zeit erfolgt ist und es keine Verpflichtung der Beklagten gibt, ohne jeden Anlass Versicherte zu beraten, nur weil eine Pflichtversicherung geendet hat.
Zur Überzeugung des Senats kann die Klägerin auch nicht aus einem Beratungsmangel der Beigeladenen einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch dergestalt herleiten, dass ihr nachträglich noch die Zahlung von Pflichtbeiträgen zur Rentenversicherung für ihre selbstständige Tätigkeit zugelassen wird. Zwar sieht der Senat generell bei Personen, die zur Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit motiviert werden, wohl für den beteiligten Sozialleistungsträger eine Notwendigkeit, umfassend über die soziale Absicherung zu beraten bzw. auf weitere Beratungsmöglichkeiten hinzuweisen, was möglichst auch dokumentiert werden sollte. Zum wirksamen Schutz vor Beratungsmängeln könnte auch insoweit die Fiktion einer funktionalen Einheit angezeigt sein. Im Fall der Klägerin minderten jedoch zwei Umstände den Beratungsbedarf wesentlich. Zum einen war die Klägerin schon früher einmal lange Zeit selbstständig tätig gewesen und damit nicht erstmalig mit den Fragen der sozialen Absicherung bei Selbstständigkeit konfrontiert. Zum anderen hatte sie eine Planung bezüglich ihrer sozialen Absicherung vorgelegt, was eine entsprechende Beschäftigung mit der Thematik – explizit auch der Rentenversicherung – dokumentierte.
Ein Beratungsmangel durch die Beigeladene ist somit auf Grund der genannten besonderen Umstände im Fall der Klägerin nicht als belegt anzusehen. Unabhängig davon, dass die Annahme einer funktionalen Einheit zwischen Beigeladener und Beklagter, eine zusätzliche Hürde darstellen würde, scheitert ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch im Übrigen an der nicht hinreichend belegbaren Kausalität. Es ist keinesfalls zwingend, dass die Klägerin bei zusätzlicher Beratung zum Rentenversicherungsschutz einen Antrag auf Pflichtversicherung für Selbstständige nach § 4 Abs. 2 SGB VI gestellt hätte. Es handelt sich dabei nicht um eine generell übliche Art der Versicherung, die nach Hinweis jedermann sogleich beantragen würde. So besteht etwa in der Anfangszeit der Selbstständigkeit in den meisten Fällen – so auch bei der Klägerin – ein hinreichender nachgehender Schutz aus der Rentenversicherung und § 4 Abs. 2 SGB VI lässt eine spätere Antragstellung – allerdings nur mit Wirkung für die Zukunft – ausdrücklich zu. Auch kann eine private Absicherung vorgezogen werden, nachdem etwa das Risiko der Berufsunfähigkeit bei der Klägerin auf Grund ihres Geburtsjahrganges ohnehin nicht in der gesetzlichen Rentenversicherung abgedeckt werden könnte (§ 240 SGB VI). Dafür dass die Klägerin nicht zwingend diesen Antrag gestellt hätte, sprechen weiter ihr Verhalten während der früheren Selbstständigkeit – keine Beitragszahlung -, ihre Altersvorsorge im Rahmen einer sog. Riesterversicherung und ihr kritischer Umgang mit nicht zwingend notwendigen Aufwendungen zur eigenen Absicherung – Beendigung der freiwilligen Arbeitslosenversicherung.
Dass im Ergebnis bei Ansprechen der Rentenversicherungsangelegenheit zwingend ein Antrag auf Pflichtversicherung durch die Klägerin gestellt worden wäre und diese fortgeführt worden wäre, ist nicht zu erkennen. Ein durch einen Beratungsmangel kausal verursachter Schaden, der im Rahmen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruches ausgeglichen werden könnte, ist nicht belegt.
Dementsprechend sind die Entscheidungen der Beklagten, die einen Rentenanspruch der Klägerin nicht als belegt ansehen, nicht zu beanstanden. Nach alledem war die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Nürnberg vom 27.11.2015 als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.


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