Medizinrecht

ITP kein Abschiebungshindernis für Ukraine

Aktenzeichen  B 1 K 16.30532

Datum:
9.3.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 50194
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1

 

Leitsatz

1. Ein Ausländer muss sich grundsätzlich auf den Behandlungsstandard, der in seinem Herkunftsland für die von ihm geltend gemachten Erkrankungen allgemein besteht, verweisen lassen, wenn damit keine grundlegende Gefährdung verbunden ist. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
2. Idiopathische Thrombozytopenie (ITP) ist in der Ukraine behandelbar. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Klagen werden abgewiesen.
2. Die Kläger haben die Kosten des Verfahrens als Gesamtschuldner zu tragen.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

1. Mit ihren Klagen begehren die Kläger zuletzt nur noch die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
Die zulässigen Klagen haben in der Sache keinen Erfolg. Der Bescheid des Bundesamts vom 4. März 2016 ist insoweit rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). Diese haben keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Auch gegen die begleitenden Verfügungen der Androhung der Abschiebung und die Festsetzung der Frist des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots bestehen keine Bedenken.
a. Gem. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nach Satz 2 dieser Vorschrift in der ab 17. März 2016 geltenden Fassung vom 11. März 2016 nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung in einem angemessenen Prognosezeitraum wesentlich verschlechtern würden. Für die Bestimmung der “Gefahr” gilt der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, d. h. die drohende Rechtsgutsverletzung darf nicht nur im Bereich des Möglichen liegen, sondern muss mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein (vgl. BVerwG, B.v. 2.11.1995 – 9 B 710.94). Die Verschlimmerung einer Erkrankung, die der Betroffene nicht mit einer Vielzahl seiner Landsleute teilt, so dass kein Bedürfnis für eine ausländerpolitische Leitentscheidung gemäß § 60a Abs. 1 AufenthG besteht und die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG nicht greift, ist danach als individuelle, unmittelbar am Maßstab der genannten Vorschrift zu prüfende Gefahr anzusehen. In Fällen einer Erkrankung eher singulären Charakters sind die Voraussetzungen des genannten Abschiebungsverbots erfüllt, wenn sich die Krankheit des Betroffenen mangels (ausreichender) Behandlung im Abschiebungszielstaat verschlimmert und sich dadurch der Gesundheitszustand wesentlich oder sogar lebensbedrohlich verschlechtern würde. Nicht gravierende oder nicht hinreichend wahrscheinliche Gefahren sind dabei nicht ausreichend. Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind auch dann nicht gegeben, wenn von einer Heilung der Erkrankung im Zielland der Abschiebung wegen der dortigen Verhältnisse nicht auszugehen ist, die Erkrankung sich aber auch nicht gravierend zu verschlimmern droht. Das Abschiebungsverbot dient nicht dazu, dem ausreisepflichtigen erkrankten Ausländer eine optimale Behandlung zu sichern oder die Heilungschancen zu verbessern; es begründet insbesondere keinen Anspruch auf Teilhabe am medizinischen Fortschritt und auf eine Behandlung im Rahmen des sozialen Systems der Bundesrepublik Deutschland; vielmehr stellt es alleine den Schutz vor einer gravierenden Beeinträchtigung von Leib und Leben im Zielland einer Abschiebung oder Rückkehr sicher. Der Ausländer muss sich grundsätzlich auf den Behandlungsstandard, der in seinem Herkunftsland für die von ihm geltend gemachten Erkrankungen allgemein besteht, verweisen lassen, wenn damit keine grundlegende Gefährdung verbunden ist (BayVGH, B.v. 28.05.2015 – 21 ZB 15.30076 -; VG Gelsenkirchen Urt. v. 27.11.2014 – 17a K 3614/13.A unter Verweis auf OVG NRW, B.v. 15.09.2003 – 13 A 3253/03.A; VG Schwerin, Urt.v. 29.03.2016 – 5 A 2716/15 -; VG München, B.v. 04.07.2016 – M 16 S 16.31358). Auch dann, wenn die medizinischen Behandlungsmöglichkeiten im Herkunftsland zwar gegeben sind, diese für den betroffenen Ausländer aber im speziellen Fall aus finanziellen oder persönlichen Gründen nicht erreichbar sind, kann ein Abschiebungsverbot vorliegen (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.11.1997 – 9 C 58/96; BayVGH, Urt. v. 9.2.2007 – 9 B 06.30021 – m.w.N.). Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass der Betroffene alle ihm zumutbaren Anstrengungen unternehmen muss, sich diese Behandlung im Herkunftsland zu sichern. Er ist z.B. darauf zu verweisen, staatliche Beihilfen, soweit vorhanden, in Anspruch zu nehmen. Auch die mögliche Unterstützung durch Angehörige im In- und Ausland ist in die gerichtliche Prognose mit einzubeziehen, ob bei Rückkehr eine konkrete Gefahr für Leib und Leben besteht, (vgl. BVerwG, B.v. 1.10.2001 – 1 B 185/01).
Gemessen an diesen Grundsätzen besteht für die Klägerin zu 1 kein Abschiebungsverbot wegen der Erkrankung einer idiopathischen Thrombozytopenie. Durch die vom Gericht eingeholte Auskunft zu den Behandlungsmöglichkeiten einer ITP im Herkunftsland (vgl. die Auskunft der Vertrauensärztin, Bl. 139 f. der Gerichtsakte) wird belegt, dass einer ITP in der Ukraine behandelbar ist. In der Ukraine wird eine ITP durch folgende Methoden behandelt: mit Glukokortikoiden (Kortison) oder Immunglobulinen oder Immunsuppressiva oder einer Splenektomie. Dies entspricht auch den Behandlungsansätzen, die der Leiter des Fachbereichs Gesundheitswesen im Landratsamt B* ., Dr. v. St. in seinem Gutachten vom 16. Mai 2017 benennt. Die Vertrauensärztin hat zudem die Verfügbarkeit des Medikaments Revolade bestätigt (zu den Einwendungen der Klägerseite siehe unten). Soweit in Deutschland eine Behandlung mit Rituximab durchgeführt wird, einem Antikörper, entspricht dies wohl der von der Vertrauensärztin angeführten Behandlung mit Immunglobulinen.
Unter Einbeziehung der individuellen Situation und der Nachteile bzw. Nebenwirkungen bzw. Risiken der einzelnen Behandlungsmethoden kommt Dr. v. St. zu dem Ergebnis, dass bei der Klägerin zu 1 neben einer Behandlung mit Revolade auf lange Sicht auch eine Milzentfernung als ein geeignetes Mittel angesehen werden kann. Sowohl die Behandlung mit Kortison, als auch mit Immunsuppressiva, die auf lange Sicht als problematisch angesehen werden oder mit Rituximab, das lediglich als kurzfristige Behandlungsmöglichkeit erachtet wird, jedoch gravierende Nebenwirkungen haben kann, sind aus seiner Sicht weniger wirksam bzw. mit größeren gesundheitlichen Risiken verbunden oder haben bei der Klägerin nicht angeschlagen.
Während ihres nunmehr vierjährigen Aufenthalts wurde ärztlicherseits durch Prof. Dr. M. vom Uniklinikum E* . auch eine Splenektomie mit der Klägerin zu 1 als mögliche Therapieform diskutiert. Nach dem ärztlichen Gutachten des Dr. v. St., der bei seiner Gutachtenserstellung auch den Arztbrief des Prof. M. einbezogen hat, ist eine solche Behandlungsmethode bei der Klägerin zu 1 nicht von vorneherein ausschließbar, d.h. sie ist als mögliche Behandlung geeignet. Damit wird der Klägerin zu 1 das jeder Operation innewohnende Risiko zugemutet, andererseits ist zu bedenken, dass ein jahrelanger Medikamenteneinnahme in der Regel auch mit Nebenwirkungen verbunden ist und zudem offensichtlich durch die nunmehr mehr als ein Jahr durchgeführte Behandlung mit Revolade nach den Angaben der Klägerin zu 1 in der mündlichen Verhandlung noch kein zufriedenstellendes Ergebnis bzw. ein Ergebnis im unteren Bereich der Thrombozytenwerte eingetreten ist. Außerdem würde der Eingriff (zumindest in Deutschland) in der für den Patienten möglichst schonenden und weniger belastenden minimalinvasiven Operationstechnik durchgeführt.
Für die Klägerin zu 1 steht damit in ihrem Heimatland zumindest eine Splenektomie als geeignetes Mittel zur Verfügung. Ob ihr daneben die weiter genannten medikamentösen Behandlungsmethoden wegen der genannten Risiken zugemutet werden können, kann vorliegend dahingestellt bleiben. In diesem Zusammenhang ist aber auszuführen, dass sich die Klägerin zu 1 auf die in ihrem Herkunftsland vorhandenen Behandlungsmethoden verweisen lassen muss (§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG), soweit diese nicht unmittelbar eine erhebliche konkrete Gefährdung für Leib oder Leben bedeuten.
Das Gericht ist zudem auch der Überzeugung, dass das Medikament Revolade in der Ukraine verfügbar ist, allerdings zu einem für dortige Verhältnisse außerordentlich hohen Preis, der einem durchschnittlichen Monatseinkommen entsprich (was im Übrigen auch für deutsche Verhältnisse gilt). Soweit die Klägerseite auf die Bestätigung des Krankenhauses in Ochtirka abstellt, hält das Gericht dieses nicht für stichhaltig, denn aus den Ausführungen der Vertrauensärztin in Kiew und den von der dortigen Botschaft vorgelegten Unterlagen ist eindeutig ersichtlich, dass Revolade bzw. Eltrombopag dort eine Zulassung erhalten hat, die derzeit bis 29. Dezember 2020 läuft. Die Frage der finanziellen Erreichbarkeit dürfte bei einer Behandlung mit Revolade das eigentliche Problem sein angesichts der Tatsache, dass zwar auf dem Papier die medizinische Versorgung kostenfrei ist, Medikamente bei ambulanter Behandlung in der Regel aber selbst bezahlt werden müssen (Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine vom 7. Februar 2017; im Verfahren eingeholte Auskunft der Vertrauensärztin vom 13. Juli 2017; Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Ukraine des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich vom 20. Dezember 2017, S. 67). Unter Berücksichtigung des durchschnittlichen Einkommens in der Ukraine dürften die wenigsten Bewohner der Ukraine in der Lage sein, höhere Medikamentenkosten selbst aufzubringen. Nach dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Ukraine des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich vom 20. Dezember 2017 betrug der Durchschnittslohn in der Ukraine im Januar 2017 6.008 Grywna brutto (ca. 206 EUR), wobei der Durchschnittslohn in Kiew etwas höher, nämlich bei 223 EUR liegt. Dies stellt eine Steigerung um 50 EUR zum Vorjahr dar. Der Schattensektor der Wirtschaft wird vom ukrainischen Wirtschaftsministerium auf 35% geschätzt, andere Schätzungen sprechen von 50%. Das Existenzminimum für eine alleinstehende Person wurde zum 1. Dezember 2017 auf ca. 59 EUR festgelegt (BFA, S. 63).
Zwar ist bei der finanziellen Erreichbarkeit medizinischer Behandlung im Heimatland neben eigenem Verdienst und dem Verdienst des Ehepartners/Lebensgefährten auch eine mögliche Hilfeleistung durch im In- und Ausland lebende Verwandte mit zu berücksichtigen. Im Fall der Klägerin zu 1 sind damit die bereits in der Vergangenheit erfolgten mehr oder weniger regelmäßigen Geldzahlungen der Schwiegermutter und Schwägerin der Klägerin zu 1 einzubeziehen. Diese haben, immer wenn eine Notlage vorlag, den Klägern finanziell zur Seite gestanden. Damit kann die Klägerin zu 1 grundsätzlich darauf verwiesen werden, dass sie auf die finanzielle Hilfe ihrer Verwandten zurückgreifen muss. Ob dieser Grundsatz bei einer auf sehr lange Sicht und möglicherweise lebenslang notwendigen Behandlung mit monatlichen Kosten von mindestens 200 EUR Gültigkeit beanspruchen kann bzw. der Klägerin zu 1 dieses Risiko der möglicherweise lebenslangen Leistungsbereitschaft ihrer Verwandten zumutbar ist, kann vorliegend deshalb dahingestellt bleiben, weil ihr mit der Splenektomie eine Behandlungsmöglichkeit zur Verfügung steht, die durch eine nur kurzzeitige finanzielle Unterstützung durch ihre Verwandten zumutbar ist.
Nach der Auskunft der Vertrauensärztin ist die Operation einschließlich des Krankenhausaufenthalts, der Labortests und der Medikamente kostenfrei, wobei es aber durchaus auch sein kann, dass die Patienten die Medikamentenkosten selbst übernehmen und ein sog. “Handgeld” zahlen müssten, wobei aber auf die soziale Stellung durchaus Rücksicht genommen wird. Nach den oben dargestellten Grundsätzen, wonach ein Asylsuchender auch auf Hilfemöglichkeiten durch Verwandte zurückgreifen muss, ist es der Klägerin zu 1 daher zumutbar, evtl. Zuzahlungen für die Splenektomie in der Ukraine durch finanzielle Zuwendungen ihrer in Deutschland lebenden Verwandten (wie bisher auch geschehen) und durch Erwerbstätigkeit ihres Lebensgefährten und Vaters der Kläger zu 2 und 3 aufzubringen. Dabei ist noch nicht einmal berücksichtigt, dass die Klägerin zu 1 aufgrund ihrer Anerkennung als Tschernobyl-Opfer besondere Vorteile genießt, u.a. auch eine kostenfreie medizinische Behandlung. Der Klägerin zu 1 ist es daher nach Überzeugung des Gerichts durchaus möglich, ihre Erkrankung einer ITP mit den im Herkunftsstaat zur Verfügung stehenden Mitteln behandeln zu lassen. Die dortigen Behandlungsmöglichkeiten sind auch nicht von vorneherein als unzumutbar anzusehen.
Andere Gründe, die zur Zuerkennung eines Abschiebungsverbots für die Kläger sprechen würden, sind nicht ersichtlich.
Der Asylantrag des Lebensgefährten der Klägerin zu 1 und Vater der Kläger zu 2 und 3 ist rechtskräftig abgelehnt worden, er ist freiwillig wieder ausgereist (auch wenn er sich in der Zwischenzeit wohl wieder in Deutschland aufgehalten hat, um, wie die Klägerin zu 1 erklärt hat, den Kontakt zu seiner Familie aufrechtzuerhalten). Die Kläger sind damit bei einer Rückkehr in die Ukraine nicht völlig auf sich gestellt, die Klägerin zu 1 hat ihre Eltern dort, es besteht im Haus der Schwiegermutter eine Wohnmöglichkeit, nicht zuletzt haben die Kläger Verwandte in Deutschland, die sie bislang finanziell unterstützt haben. Damit ist es den Klägern auch bei den bekanntermaßen schwierigen Lebensbedingungen in der Ukraine möglich, dort erneut zu leben.
b. Der Bescheid des Bundesamtes gibt hinsichtlich der Ziffer 5, wonach die Kläger unter Androhung der Abschiebung zur Ausreise aufgefordert worden sind, keinen Anlass zu Bedenken. Zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung, auf den gemäß § 77 Abs. 1 AsylG abzustellen ist, sind Gründe, die dem Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen gegenüber den Klägern entgegenstünden, nicht ersichtlich.
c. Die Entscheidung des Bundesamts, das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 bis 3 AufenthG auf 30 Monate zu befristen, gibt im Rahmen der dem Gericht möglichen Überprüfung (vgl. § 114 VwGO) keinen Anlass zur Beanstandung (vgl. hierzu auch BayVGH, B.v. 28.11.2016 – 11 ZB 16.30463).
2. Nach allem ist die Klage mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1, § 159 Satz 2 VwGO, § 83b AsylG abzuweisen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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