Medizinrecht

Kein Vorliegen von Abschiebungsverboten

Aktenzeichen  M 30 K 17.43920

Datum:
9.9.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 36200
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 11, § 60 Abs. 5, Abs. 7

 

Leitsatz

1. Von einer konkreten Gefahr ist in Krankheitsfällen dann auszugehen, wenn die erhebliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes alsbald nach der Abschiebung in den Zielstaat eintreten würde, weil eine adäquate Behandlung dort nicht möglich ist. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
2. Trotz der schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Sierra Leone ist es einem Mann mittleren Alters mit Berufserfahrung möglich, sein Existenzminimum zu sichern. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

I.
Soweit die Klage zurückgenommen wurde (Anerkennung der Asylberechtigung, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus), ist das Verfahren einzustellen (§ 92 Abs. 3 VwGO).
II.
Die im Übrigen aufrechterhaltene, zulässige Klage ist unbegründet. Die ablehnende Entscheidung des Bundesamts vom 25. August 2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, da dieser zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich einer Abschiebung nach Sierra Leone hat. Die auf der Ablehnung des Asylantrags als unbegründet beruhende Ausreiseaufforderung mit 30tägiger Ausreisefrist und die Abschiebungsandrohung gemäß §§ 34, 38 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG sowie das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 AufenthG und dessen Befristung sind ebenfalls nicht zu beanstanden.
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsverboten.
1.1 Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen nicht vor.
1.1.1 Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Erfasst sind davon nur solche Gefahren‚ die in den spezifischen Verhältnissen im Zielstaat begründet sind‚ während Gefahren‚ die sich aus der Abschiebung als solcher ergeben‚ nur von der Ausländerbehörde als inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis berücksichtigt werden können. Nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG liegt eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis kann sich auch aus der Krankheit eines Ausländers ergeben‚ wenn diese sich im Heimatstaat wegen unzureichender Behandlungsmöglichkeiten verschlimmert. Es ist aber nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist (§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG). Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist (§ 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG). Es kann sich darüber hinaus trotz an sich verfügbarer medikamentöser und ärztlicher Behandlung aber auch aus sonstigen Umständen im Zielstaat ergeben‚ die dazu führen‚ dass der betroffene Ausländer diese medizinische Versorgung tatsächlich nicht erlangen kann. Denn eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist. In die Beurteilung miteinzubeziehen und bei der Gefahrenprognose zu berücksichtigen sind sämtliche zielstaatsbezogenen Umstände‚ die zu einer Verschlimmerung der Erkrankung führen können. Von einer konkreten Gefahr ist in Krankheitsfällen dann auszugehen, wenn die erhebliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes alsbald nach der Abschiebung in den Zielstaat eintreten würde, weil eine adäquate Behandlung dort nicht möglich ist (vgl. zum Ganzen: BayVGH, U.v. 17.3.2016 – 13a B 16.30007 – juris; BVerwG‚ U.v. 17.10.2006 – 1 C 18.05 – NVwZ 2007, 712).
Allerdings hat der Ausländer eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung nach § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG glaubhaft zu machen. Diese soll insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlichmedizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten. Diese Anforderungen des § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG an ein ärztliches Attest sind dabei auf die Substantiierung der Voraussetzungen an ein krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu übertragen (vgl. u.a. BayVGH, B.v. 24.1.2018 – 10 ZB 18.30105 – juris Rn 7 m.w.N.; B.v. 4.10.2018 – 15 ZB 18.32354 – beckonline; B.v. 26.4.2018 – 9 ZB 18.30178 – juris). Dies ergibt sich seit der Gesetzesänderung mit Wirkung vom 21. August 2019 auch ausdrücklich aus § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG.
Die Überprüfung, ob die vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen diesen Anforderungen entsprechen, ist dabei Aufgabe des erkennenden Gerichts. Die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens ist insoweit nicht erforderlich (BayVGH, B.v. 24.1.2018 – 10 ZB 18.30105 – beckonline).
Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, wie etwa eine unzureichende Versorgungslage, sind hingegen bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist jedoch im Einzelfall Ausländern, die einer gefährdeten Gruppe im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG angehören, für welche aber ein Abschiebestopp nach § 60a Abs. 1 AufenthG oder eine andere Regelung, die vergleichbaren Schutz gewährleistet, nicht besteht, ausnahmsweise Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in verfassungskonformer Handhabung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zuzusprechen, wenn die Abschiebung wegen einer extremen Gefahrenlage im Zielstaat Verfassungsrecht verletzen würde. Das ist der Fall, wenn der Ausländer gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde (st. Rspr. des BVerwG, U.v. 17.10.1995 – 9 C 9/95 – BVerwGE 99, 324/328; U.v. 19.11.1996 – 1 C 6/95 – BVerwGE 102, 249/258 f.; U.v. 8.12.1998 – 9 C 4/98 – BVerwGE 108, 77/80 f.; U.v. 12.7.2001 – 1 C 2/01 – BVerwGE 114, 379/382; U.v. 29.6.2010 – 10 C 10/09 – BVerwGE 137, 226/232 f.). Diese Grundsätze über die Sperrwirkung bei allgemeinen Gefahren und die Voraussetzungen für eine ausnahmsweise verfassungskonforme Anwendung in den Fällen, in denen dem Betroffenen im Abschiebezielstaat eine extreme zugespitzte Gefahr droht, sind auch für die neue Rechtslage nach dem Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes maßgeblich (vgl. BVerwG, B.v. 23.8.2006 – 1 B 60/06 (1 C 21/06) – juris).
1.1.2 Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe droht dem Kläger keine erheblich konkrete Gefahr für Leib, Leben oder dessen Freiheit.
1.1.2.1 Die vorgelegten Atteste genügen – weder einzeln noch in der Gesamtschau – den Anforderungen an eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung i.S.d. § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG nicht. Damit gilt die Vermutung, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen (§ 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG).
Der Arztbrief vom 23. Dezember 2019 enthält zwar zwei Diagnosen („eitrige Leberabszesse mit Sepsis unklarer Genese“ und „Refluxösophagitis Grad A, Los Angeles Klassifikation“), diese Erkrankungen werden aber weder nach ihrem lateinischen Namen noch nach ICD 10 klassifiziert. Insbesondere fehlt es dem Arztbrief aber an einer Darstellung der Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingen Situation voraussichtlich ergeben. Laut Arztbrief wurde die antibiotische Therapie am 20. Dezember 2019 beendet. Die Ärzte empfahlen lediglich eine ambulante Kontrolle der Infektwerte (BB und CRP) am 30. Dezember 2019 sowie eine poststationäre Wiedervorstellung am 2. Januar 2020 zur sonographischen Verlaufskontrolle. Eine Dauermedikation bei Entlassung wurde nicht angeordnet.
Die ärztliche Bescheinigung vom 26. August 2020 nennt schon nicht die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist. Insoweit heißt es in dem Schreiben lediglich, dass sich der Kläger in der haus- und fachärztlichen Behandlung befinde und im Dezember 2019 wegen einer schweren Sepsis mit Leberabszessen stationär behandelt worden sei. Darüber hinaus fehlt es auch an der Darlegung der Methode der Tatsachenerhebung und an einer konkreten Diagnose; jedenfalls fehlt es einer solchen an einer Klassifizierung nach ICD 10 oder nach ihrem lateinischen Namen. Letztlich setzt sich die ärztliche Bescheinigung nicht mit Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingen Situation voraussichtlich ergeben, auseinander. Pauschal wird lediglich erklärt, dass aufgrund der Vorgeschichte kurzfristige Kontrollen erforderlich seien.
Auch in der Gesamtschau aller Atteste ist für das Gericht nicht ausreichend erkennbar, dass der Kläger an einer derart schweren Erkrankung leidet, die sich bei Rückkehr nach Sierra Leone alsbald wesentlich bis gar lebensbedrohlich verschlechtern wird. Zwar haben beide Atteste gemein, dass der Kläger an Lebeabszessen leiden solle. Doch sprechen sowohl der Arztbrief als auch die ärztliche Bescheinigung davon, dass sich der gesundheitliche Zustand des Klägers seitdem gebessert habe. Im Arztbrief heißt es hierzu, dass die ergänzende Koloskopie vom 23. Dezember 2019 einen unauffälligen Befund ergab. Die Abszesse seien in der Abschluss-Sonographie des Abdomens am Tag der Entlassung größenstabil. Bei Entlassung wurde keine Dauermedikation empfohlen. In der ärztlichen Bescheinigung erklärt die behandelnde Fachärztin, dass nach mehreren Monaten eine Normalisierung der Befunde stattfand. Bei fortbestehenden belastungsabhängig auftretenden Schmerzen rechtslateral am abdominothorakalen Übergang bestehe derzeit eine leichte Erhöhung des CRP-Wertes sowie der Alpha-2- und Gammaglobuline bei sonst unauffälligem Labor- und Sonografiebefund.
Soweit Kontrollmaßnahmen empfohlen werden, stehen diese aber nicht unmittelbar in einem kausalen Zusammenhang mit einer zielstaatsbezogenen Verschlechterung des Gesundheitszustandes, sondern ermöglichen lediglich im Krankheitsfalle eine möglichst frühzeitige Behandlung.
Anhaltspunkte für eine extreme Gefahrenlage für den Kläger sind nach den noch folgenden Ausführungen zu § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht ersichtlich.
Damit liegt die für eine verfassungskonforme Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erforderliche hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger alsbald existenzbedrohenden Mangellagen ausgesetzt wäre, nicht vor.
Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ergibt sich ebenfalls nicht aufgrund der Covid-19-Pandemie. Unabhängig von der Regelung in § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG, wonach es bei allgemeinen Gefahren einer – vorliegend nicht bestehenden – Anordnung nach § 60a Abs. 1 AufenthG bedürfte, wäre der Kläger nicht über das allgemeine Risiko hinaus in besonderer Weise gefährdet, insbesondere nicht derart, dass er „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder Verletzungen ausgeliefert würde“ (vgl. BayVGH, B.v. 24.7.2015 – 9 ZB 14.30457 – juris Rn. 11; OVG NRW, B.v. 17.12.2014 – 11 A 2468/14.A – juris Rn. 14). Bei dem Großteil der Bevölkerung verläuft eine vom Coronavirus verursachte Erkrankung in der Regel eher mild. Ein erhöhtes Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf haben ältere Personen und Personen mit Vorerkrankungen, auch wenn schwere Verläufe auch bei Personen ohne bekannte Vorerkrankung auftreten können und auch bei jüngeren Patienten beobachtet wurden (vgl. Steckbrief des RKI, Stand 7.8.2020, https://www.rki.de/DE/ Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html). Der Kläger ist zwar nicht vollkommen gesund. Jedoch ist weder vorgetragen, noch aus den ärztlichen Schreiben sowie den Angaben des RKI und sonstigen Umständen ersichtlich, dass dieser zu einer Risikogruppe gehört.
Darüber hinaus wird die Ausländerbehörde etwaige Veränderungen in den humanitären Verhältnissen Sierra Leones vor einer Abschiebung prüfen und ggf. berücksichtigen müssen.
1.1.2.2 Auch der familiäre Streit zwischen dem Kläger und seiner muslimischen Familie in Sierra Leone begründet keine erheblich konkrete Gefahr für dessen Leib, Leben oder Freiheit. Zum einen trägt der Kläger im Ergebnis selbst vor, dass die Familie ihn lediglich des Hauses verwiesen habe. Zwar befürchtet der Kläger, dass die Familie ihn töten wolle, doch hat er zugleich bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt hierzu näher ausgeführt, dass er diese Befürchtung darauf stützt, dass er einer Person den Willen zuschreibt, einen anderen Menschen töten zu wollen, wenn diese jemanden auszusetzt und seinem Schicksal überlässt. Zum anderen ist schon nicht erkennbar, dass die Familie den Kläger in ganz Sierra Leone sucht und tatsächlich in der Lage ist, diesen zu finden. Schließlich existiert in Sierra Leone kein ausreichendes Melderegister (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 17.10.2017). Wie das Auffinden von Personen gelingen soll, vermag das Gericht trotz der verhältnismäßig geringen Landesgröße Sierra Leones nicht nachzuvollziehen. Das Gericht ist daher auch davon überzeugt, dass die Familie den Kläger nicht noch einige Jahre später in ganz Sierra Leone und allen größeren Städten suchen wird. Der Aufwand wäre enorm, vor allem im Vergleich zu der Chance, tatsächlich den Kläger zu finden. Zudem ist der Familie bereits nicht bekannt, ob sich der Kläger überhaupt in Sierra Leone aufhält.
1.2 Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK liegen nicht vor. Es ist nicht erkennbar, dass der Antragsteller bei einer Rückkehr nach Sierra Leone unmenschlichen Verhältnissen i.S.v. Art. 3 EMRK ausgesetzt würde. Es wird dem Kläger trotz der schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Sierra Leone möglich sein, sein Existenzminimum zu sichern. Ein außergewöhnlicher Fall, wonach unter dem allgemeinen Gesichtspunkt schwieriger humanitärer Bedingungen im Herkunftsland von einer Abschiebung entsprechend den Anforderungen des Art. 3 EMRK „zwingend“ abzusehen wäre, liegt nicht vor. Dabei ist § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG auch im Rahmen der Prüfung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG anzuwenden, wenn sich der Ausländer auf eine Erkrankung beruft, aufgrund derer er im Zielstaat seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sicher könne (OVG Lüneburg, B.v. 13.3.2020 – 9 LA 46/20 BeckRS 2020, 4520 Rn. 13 ff; Zimmerer in Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, 5. Edition Stand: 1.7.2020, § 60 AufenthG Rn. 23; vgl. ferner BVerwG, B.v. 22.1.2020 – 1 B 3.20 – juris Rn. 4 unter Hinweis auf OVG SH, B.v. 1.11.2019 – 4 LB 18/17 – n.v. wohl zu § 60 Abs. 5 AufenthG).
Sierra Leone gehört trotz seines Rohstoffreichtums zu den ärmsten Ländern der Erde.
Nach den Jahren des Bürgerkriegs erholt sich das Land wirtschaftlich nur langsam. Sierra Leone ist eines der am wenigsten entwickelten Länder der Welt. Die Wirtschaft Sierra Leones ist geprägt von der Landwirtschaft (überwiegend kleinbäuerliche Subsistenzwirtschaft) und der Rohstoffgewinnung. Das Land ist mit einem Bruttoinlandsprodukt von ca. 4,1 Milliarden US-Dollar und einem Pro-Kopf-Einkommen von ca. 539,2 US-Dollar (Stand Oktober 2019) eines der ärmsten Länder der Welt und belegt nach dem Human Development Index von 2019 Rang 181 der 189 untersuchten Länder. Ein Großteil der Bevölkerung (ca. 77%) lebt in absoluter Armut und hat weniger als 2 US-Dollar pro Tag zur Verfügung. Die Arbeitslosenrate im Land ist sehr hoch. Die Jungendarbeitslosigkeit ist ein besonderes Problem (Bertelsmann Stiftung, Bertelsmann Stiftung’s Transformation Index (BTI) 2016 – Sierra Leone Country Report, Gütersloh, Bertelsmann Stiftung, 2016). Staatliche oder nichtstaatliche finanzielle Fördermöglichkeiten wie Sozial- oder Arbeitslosenhilfe existieren nicht. Erwerbslose, Kranke, Behinderte und ältere Menschen sind ganz besonders auf die Unterstützung der traditionellen Großfamilie angewiesen. Auch nichtstaatliche oder internationale Hilfsorganisationen bieten in der Regel keine konkreten Hilfen zum Lebensunterhalt. Die Wirtschaft wird mit etwa 60,3% am Bruttoinlandsprodukt vom landwirtschaftlichen Sektor dominiert. Der Dienstleistungssektor trägt mit 32,4% und der Industriesektor mit 5,2% zum Bruttoinlandsprodukt bei. Die Mehrheit versucht mit Gelegenheitsjobs oder als Händler/in ein Auskommen zu erwirtschaften. Die Subsistenzwirtschaft wird in Familien oft parallel oder alternativ genutzt, um den Lebensunterhalt zu sichern (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Sierra Leone, Wien am 4.7.2018). Ungelernten Arbeitslosen gelingt es nur durch Hilfstätigkeiten, Gelegenheitsarbeiten (z.B. im Transportwesen), Kleinhandel (z.B. Verkauf von Obst, Süßigkeiten, Zigaretten) und ähnlichen Tätigkeiten etwas Geld zu verdienen und in bescheidenem Umfang ihren Lebensunterhalt sicher zu stellen (vgl. zu damals noch prekäreren Verhältnissen: OVG NRW, B.v. 6.9.2007 – 11 A 633/05.A – juris Rn 28). Die Lebensumstände in Sierra Leone sind also als äußerst schwierig zu bezeichnen. Man geht aber davon aus, dass sich ein junger, gesunder und arbeitsfähiger Mann in Sierra Leone ein Existenzminimum – wenn auch nur durch Gelegenheitsjobs – erwirtschaften kann. (vgl. VG Regensburg, U.v. 11.02.2019 – RN 14 K 17.3514 – juris).
Die medizinische Versorgung ist in Sierra Leone nach wie vor schwierig und es herrscht ein ausgeprägter Mangel an Fachärzten (vgl. BFA Republik Österreich a.a.O.; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Informationszentrum Asyl und Migration, Glossar Islamische Länder – Band 17 Sierra Leone, Mai 2010).
Auch angesichts der aktuellen Covid-19-Pandemie liegen keine Erkenntnisse vor, dass sich die Verhältnisse in Sierra Leone derart verschlechtert haben, dass es dem Kläger unzumutbar wäre, sein Existenzminimum zu sichern.
Die tatsächlichen individuellen Umstände des Klägers werden es ihm daher ermöglichen, trotz dieser humanitären Verhältnisse in Sierra Leone seinen Lebensunterhalt zu sichern.
Der Kläger ist mittleren Alters und hat Berufserfahrung als Tischler und insbesondere als Automobilmechaniker gesammelt. Er hat seit 1999 in Nigeria, Griechenland und Deutschland als Automobilmechaniker gearbeitet. Damit verfügt er über fast zwei Jahrzehnte an Berufserfahrung in diesem Bereich. Zwar hatte der Kläger nach eigenen Angaben Schwierigkeiten in der Kommunikation mit den Bewohnern von Freetown, da diese Krio sprechen, doch spricht der Kläger selbst Englisch und beherrscht die Landessprache ein wenig. Auch konnte sich dieser während seines Aufenthalts in Sierra Leone mit den dortigen Menschen – wenngleich mit Schwierigkeiten – verständigen. Der Kläger hat darüber hinaus bewiesen, dass er sich auch in einer neuen Umgebung schnell zurechtfinden und in die örtlichen Gesellschaften integrieren kann. So ist er während seines Griechenlandaufenthalts einer langjährigen Anstellung als Automobilmechaniker nachgegangen. Auch in Deutschland hat er nach seiner Ankunft eine Arbeitsstelle gefunden. Dabei sprach der Kläger zu den jeweiligen Zeitpunkten weder Griechisch noch Deutsch. Die Lebenserfahrung und Fertigkeiten des Klägers werden es ihm auch ermöglichen, sich in die Gesellschaft seines Heimatlandes – jedenfalls mittelfristig – integrieren zu können; zumal der Kläger viele Jahre lang in Nigeria und damit in einem zu seinem Herkunftsland sehr ähnlichen Kulturkreis gelebt und gearbeitet hat.
Auch soweit der Kläger geltend macht, dass er gesundheitlich nicht in der Lage wäre eine – körperlich anstrengende – Arbeit anzunehmen, um sich eine Existenz aufzubauen und zu sichern, begründet dies kein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG. Die Atteste genügen sowohl einzeln für sich, als auch in der Gesamtschau nicht den Anforderungen an § 60a Abs. 2c AufenthG; insoweit wird auf obige Ausführungen Bezug genommen. Soweit der Kläger vorträgt, dass er keinen Sport machen dürfe, findet sich für eine solche Aussage schon bereits keine Grundlage in den ärztlichen Stellungnahmen. Darüber hinaus entspricht die körperliche Anstrengung beim Sport nicht zwingend jener, die der Kläger bei einer Erwerbstätigkeit aufbringen müsste. So ist der Kläger derzeit nach eigener Aussage selbst arbeitsfähig und weiterhin an seiner Arbeitsstelle tätig. Eine Arbeitsunfähigkeit des Klägers wurde weder vorgetragen, noch ist eine solche aus den ärztlichen Stellungnahmen ersichtlich. Zwar mag die Arbeit als Automobilmechaniker in Sierra Leone in bestimmten Bereichen mit mehr körperlichem Kraftaufwand verbunden sein, doch verfügt der Kläger aufgrund seiner jahrelangen Berufserfahrung eine besondere Expertise. Es ist davon auszugehen, dass der Kläger sich über die Jahre ein Wissen angeeignet hat, auf Grund dessen er in der Lage ist, innerhalb seines Berufsfeldes auch mit weitaus weniger kraftaufwendigen Arbeiten betraut zu werden. Die Tätigkeit eines Automobilmechanikers besteht nicht nur aus „groben Arbeiten“ mit einem gewissen Kraftaufwand, sondern kann auch „leichte“ wenngleich komplizierte Detailarbeiten umfassen, die ein gewisses Knowhow erfordern. Der Kläger konkurriert auf dem Arbeitsmarkt aber nicht mit jungen, ungelehrten oder unerfahrenen Personen, sondern besitzt über eine lange und für das Herkunftsland wohl überdurchschnittliche Berufserfahrung.
Eine mögliche Verfolgung des Klägers durch seine Familie steht einer Existenzsicherung nicht entgegen. Auf obige Ausführungen wird verwiesen.
Unter Zugrundelegung aller Umstände ist davon auszugehen, dass der Kläger in der Lage ist, sich bei einer Rückkehr ein Existenzminium aufzubauen und zu sichern.
2. Im Übrigen wird auf die Bescheidsbegründung nach § 77 Abs. 2 AsylG, insbesondere hinsichtlich der Ausreisefrist von 30 Tagen und der Abschiebungsandrohung nach §§ 34, 38 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG sowie dem gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG, Bezug genommen.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO bzw. – soweit die Klage zurückgenommen wurde – auf § 155 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
IV.
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. der Zivilprozessordnung.


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