Medizinrecht

Kein Wohngruppenzuschlag bei fehlender Präsenzkraft

Aktenzeichen  S 21 P 57/17

Datum:
9.5.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 48562
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Nürnberg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
BayPfleWoqG § 2
SGB XI § 38a, § 77

 

Leitsatz

1. Für einen Anspruch auf Wohngruppenzuschlag muss eine Präsenzkraft i. S. d. § 38a Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB XI von den Mitgliedern der Wohngemeinschaft beauftragt werden. (Rn. 14 und 17) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine nur alle zwei Wochen erscheinende und auf Abruf bereitstehende Person kann keine Präsenkraft sein. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
3. Familien mit mehreren pflegebedürftigen Angehörigen, die zum Zweck der gemeinschaftlich organisierten pflegerischen Versorgung in einer Wohnung zusammenleben, können eine Wohngemeinschaft i. S. d. § 38a SGB XI bilden. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
4. Unentgeltliche, ehrenamtliche Hilfe genügt nicht, um einen Anspruch auf Wohngruppenzuschlag zu begründen, da dieser keine schlichte Aufstockung der den Mitgliedern der Wohngruppe ohnehin individuell gewährten Leistungen der häuslichen Pflege bewirken soll (Anschluss an BSG, Urteil vom 18.02.2016 – BeckRS 2016, 69694). (Rn. 19 – 20) (redaktioneller Leitsatz)
5. Sinn und Zweck des Wohngruppenzuschlags ist es, die Selbstbestimmtheit der Pflegebedürftigen zu bewahren. (Rn. 23 – 24) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

Die Klage auf Gewährung eines Wohngruppenzuschlags gem. § 38a Abs. 1 SGB XI ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben, jedoch nicht begründet. Der Leistungen der Pflegeversicherung in Gestalt des Wohngruppenzuschlags ablehnende Bescheid der Beklagten vom 21.02.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.05.2017 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin kann den begehrten Wohngruppenzuschlag mangels Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen nicht beanspruchen.
Gemäß § 38 a Abs. 1 S. 1 SGB XI in der ab dem 01.01.2017 geltenden Fassung haben Pflegebedürftige Anspruch auf einen pauschalen Zuschlag von 214,00 € monatlich, wenn
1.sie mit mindestens zwei und höchstens elf weiteren Personen in einer ambulant betreuten Wohngruppe in einer gemeinsamen Wohnung zum Zweck der gemeinschaftlich organisierten pflegerischen Versorgung leben und davon mindestens zwei weitere Personen pflegebedürftig im Sinne der §§ 14, 15 sind,
2.sie Leistungen nach den §§ 36, 37, 38, 45a oder § 45b beziehen,
3.eine Person durch die Mitglieder der Wohngruppe gemeinschaftlich beauftragt ist, unabhängig von der individuellen pflegerischen Versorgung allgemeine organisatorische, verwaltende, betreuende oder das Gemeinschaftsleben fördernde Tätigkeiten zu verrichten oder hauswirtschaftliche Unterstützung zu leisten, und
4.keine Versorgungsform einschließlich teilstationärer Pflege vorliegt, in der ein Anbieter der Wohngruppe oder ein Dritter den Pflegebedürftigen Leistungen anbietet oder gewährleistet, die dem im jeweiligen Rahmenvertrag nach § 75 Absatz 1 für vollstationäre Pflege vereinbarten Leistungsumfang weitgehend entsprechen; der Anbieter einer ambulant betreuten Wohngruppe hat die Pflegebedürftigen vor deren Einzug in die Wohngruppe in geeigneter Weise darauf hinzuweisen, dass dieser Leistungsumfang von ihm oder einem Dritten nicht erbracht wird, sondern die Versorgung in der Wohngruppe auch durch die aktive Einbindung ihrer eigenen Ressourcen und ihres sozialen Umfelds sichergestellt werden kann.
Zur Überzeugung der Kammer liegen diese Voraussetzungen des § 38a SGB XI nicht vor. Zwar handelt es sich nach Auffassung des Gerichts grundsätzlich um eine Wohngemeinschaft gem. § 38a SGB XI, der Anspruch scheitert jedoch daran, dass von den Mitgliedern der Wohngemeinschaft keine Person i.S.d. Nr. 3 mit der Wahrnehmung der dort benannten Aufgaben beauftragt wurde.
1. Entgegen der Ansicht der Beklagten handelt es sich nach Auffassung des Gerichts um eine Wohngemeinschaft im Sinne des § 38 a SGB XI. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 18. Februar 2016 – B 3 P 5/14 R -, BSGE 120, 271-281, SozR 4-3300 § 38a Nr. 1) können Familien, die zum Zweck der gemeinschaftlich organisierten pflegerischen Versorgung in einer Wohnung zusammenleben, einen Anspruch auf Wohngruppenzuschlag haben. Vorliegend wohnen die pflegebedürftige Mutter und der Vater mit ihren beiden über 50-jährigen pflegebedürftigen Kindern zusammen in einer Wohngruppe. Es erscheint dem Gericht plausibel, dass diese Form des Zusammenlebens dem Zweck der gemeinschaftlich organisierten Pflege dient. Dies ist auch nach außen hin objektiviert, denn die Pflege wird gemeinschaftlich durch Pflegedienste organisiert, die die Versorgung der Bewohner gemeinschaftlich vornehmen.
2. Es handelt sich bei dem von der Wohngemeinschaft beauftragten Herrn A. jedoch nicht um eine Person im Sinne des § 38a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB IX.
a) Die Anerkennung als Person im Sinne des § 38a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB IX scheitert bereits daran, dass Herr A. nach der Angabe im Antrag vom 14.02.2017 und bedingt durch seinen Wohnsitz in D-Stadt nur ab Abruf und am Wochenende tatsächlich bei den Pflegebedürftigen anwesend ist. Es muss sich bei der beauftragten Person jedoch um eine „Präsenzkraft“, also um eine Person handeln, die in einer gewissen Regelmäßigkeit tatsächlich anwesend ist oder sein kann. Dies ergibt sich zwar nicht unmittelbar aus dem Wortlaut des Gesetzes, wird jedoch nach Sinn und Zweck vorausgesetzt. Die amtliche Begründung spricht von einer „Präsenzkraft“ (vgl. BT-Drs. 17/9369, S. 41; BT-Drs. 18/2379 S. 6 unten). Im Schrifttum wird thematisiert, wie lange die Pflegekraft in der Wohngruppe anwesend sein muss. So geht beispielsweise Reimer in Hauck/Noftz, SGB XI (02/18) § 38a Rn. 18 davon aus, dass bei kleinen Wohngruppen eine Anwesenheit von zwei Stunden täglich notwendig sein soll. Nach dem Gemeinsamen Rundschreiben des GKV-Spitzenverbandes – Verbände der Pflegekassen auf Bundesebene – zu den leistungsrechtlichen Vorschriften des SGB XI in der Fassung vom 22.12.2016, S. 153 ist eine Anwesenheit der beauftragten Person rund um die Uhr nicht erforderlich, eine Rufbereitschaft reiche jedoch auch nicht aus (so auch Wiegand in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XI, 2. Aufl. 2017, § 38a SGB XI, Rn. 32; KassKomm/Leitherer SGB XI § 38a Rn. 4-13, BAYERN.RECHT). Nach Krauskopf in Soziale Krankenversicherung, Pflegeversicherung, SGB XI § 38a Rn. 15-17, BAYERN.RECHT ist keine Präsenz von bestimmter Dauer vorausgesetzt, so dass das Gesetz keinen Maßstab biete.
Herr A., der selbst berufstätig ist, wohnt in D-Stadt und kann aus diesem Grund lediglich am Wochenende und auf Abruf anwesend sein. Nach Angabe der Klägerin in ihrem Antrag vom 14.02.2017 ist Herr A. 14-tägig und auf Abruf anwesend. Nach Ansicht der Kammer ist dies nicht ausreichend, um „Präsenzkraft“ im Sinne des § 38a Abs. 1 Nr. 3 SGB XI zu sein. Selbst wenn der Gesetzgeber keine zeitliche Mindestanwesenheit festgelegt hat, so ist dennoch nach Sinn und Zweck des Gesetzes davon ausgegangen, dass die beauftragte Person zur Erfüllung ihrer Aufgaben regelmäßig – wenn möglich täglich – aber zumindest 1-2 wöchentlich anwesend sein muss. Dies ist vorliegend nicht gegeben.
b) Des Weiteren entstehen der Wohngruppe durch die Hilfestellung von Herrn A. keine weiteren Kosten, die durch den Wohngruppenzuschlag kompensiert werden könnten. Nach Sinn und Zweck des § 38a SGB XI genügt eine unentgeltliche und ehrenamtliche Hilfestellung jedoch nicht, um einen Anspruch auf einen Wohngruppenzuschlag zu begründen.
Eine (ehrenamtliche) Pflegeperson, an die das Pflegegeld als materielle Anerkennung weitergereicht wird, reicht nicht aus, um den Anspruch nach § 38a SGB XI zu begründen. Zwischen der „Pflegekraft“ und den Pflegebedürftigen muss vielmehr ein entgeltliches Vertragsverhältnis bestehen. (Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, Pflegeversicherung, SGB XI § 38a Rn. 15, BAYERN.RECHT). Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass es Sinn und Zweck des § 38a SGB XI ist, die Kosten, die durch diese besondere Wohnform entstehen, aufzufangen. Aus der Gesetzesbegründung zu dieser Vorschrift ergibt sich, dass mit dem Wohngruppenzuschlag jene Aufwendungen zweckgebunden abgegolten werden sollen, die der Wohngruppe durch die gemeinschaftliche Beauftragung der Präsenzkraft entstehen. Damit soll dem besonderen Aufwand Rechnung getragen werden, der Folge der neu organisierten pflegerischen Versorgung der Wohnform ist. Die Leistung wird pauschal zur eigenverantwortlichen Verwendung für die Organisation sowie Sicherstellung der Pflege in der Wohngemeinschaft gewährt (vgl. BT-Drucks. 17/9369, S. 40f.; BSG, Urteil vom 18. Februar 2016 – B 3 P 5/14 R Rn. 22; SG Stralsund, Urteil vom 21. September 2016 – S 12 P 22/15 -, Rn. 37, juris). Der Wohngruppenzuschlag soll jedoch keine schlichte Aufstockung der den Mitgliedern der Wohngruppe ohnehin individuell gewährten Leistungen der häuslichen Pflege (§§ 36 ff SGB XI) bewirken (BSG, Urteil vom 18. Februar 2016 – B 3 P 5/14 R – Rn. 23).
Vor dem Hintergrund dieses Gesetzeszwecks genügt die aufgrund familiärer Verpflichtungen übernommene organisatorische Tätigkeit des Herrn A. nicht, um einen Wohngruppenzuschlag zu begründen. Herr A. stellt der Wohngruppe keine Rechnung aus, die diese zu begleichen hätte. Auch sonstige höhere Kosten durch die Wohngemeinschaft sind nicht erkennbar. In dieser Situation stellt der Wohngruppenzuschlag eine schlichte Aufstockung der Leistungen der häuslichen Pflege dar.
c) Im Gegensatz zu einer normalen häuslichen Versorgung liegen auch keine zusätzlichen Strukturen vor, die mit dem Wohngruppenzuschlag finanziert werden können.
Sinn und Zweck des Wohngruppenzuschlags ist es die Selbstbestimmtheit der Pflegebedürftigen zu bewahren. Die Betreuungsleistungen sollen durch ein gemeinschaftliches Management der Bewohner organisiert werden. Es müssen im Vergleich zu einer normalen häuslichen Versorgung zusätzliche Strukturen vorliegen, die mit diesem Zuschuss finanziert werden sollen. Im Sinne der Selbstbestimmtheit müssen daher besondere Aufwendungen vorliegen, welche von dem Pflegebedürftigen zu leisten sind (vgl. SG Aurich, Urteil vom 15. August 2017 – S 12 P 16/16 -, Rn. 24, juris; Wiegand in: juris Praxiskommentar-SGB XI, 2. Aufl. 2017, Stand: 15.04.2017, § 38 a SGB XI, Rdn. Nr. 16). Die Aufgaben der Präsenzkraft sollen dabei aber stets neben den Aufgaben den Beiträgen der Bewohnerinnen und Bewohner und denjenigen des sozialen Umfeldes stehen. Denn es handelt sich bei der Wohngruppe um eine ambulante Versorgung. Das zentrale Merkmal einer ambulanten Versorgung ist, dass regelhaft Beiträge der Bewohnerinnen und Bewohner selbst, ihres persönlichen sozialen Umfelds oder von bürgerschaftlich Tätigen zur Versorgung notwendig bleiben. Ist nicht vorgesehen, dass sich das soziale Umfeld der in der Wohngruppe lebenden Menschen in die Leistungserbringung und in den Alltag einbringen kann – etwa durch die Sicherstellung der Arztbesuche, die Gestaltung und kleine Reparaturen in der Wohnung, Entscheidungen über neue Bewohnerinnen und Bewohner, die Neuanschaffung von Geräten, den Einkauf von Lebensmitteln oder die Verwaltung der Gruppenkasse – besteht keine mit der häuslichen Pflege vergleichbare Situation (vgl. BT-Drs. 18/2909, S. 42).
Herr H. ist zwar nicht als Pflegeperson tätig und erhält auch kein Pflegegeld gem. § 37 SGB XI. Er ist ausschließlich – auch bedingt durch den weit entfernten Wohnsitz – für organisatorische Fragen zuständig. Die wahrgenommenen Tätigkeiten gehen jedoch nicht über die normalen und bei jedem Pflegebedürftigem mit einer ambulanten Versorgung einhergehenden Aufgaben hinaus. Es ist gerade der Kern einer ambulanten Versorgung, dass das soziale Umfeld sich einbringt und Teilaufgaben bei der Pflege erbringt. Dies geschieht hier durch die – bei allen Pflegebedürftigen anfallende – Organisation der Pflegedienst durch Herrn A.. Zusätzliche Strukturen, die durch den Wohngruppenzuschlag finanziert werden könnten sind nicht erkennbar.
Nach alldem sind die Voraussetzungen für die Gewährung eines Wohngruppenzuschlags in der vorliegenden Konstellation nicht erfüllt. Die Klage war daher abzuweisen.
4. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 193 SGG.


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