Medizinrecht

Keine Berufungszulassung mangels grundsätzlicher Bedeutung oder Divergenz – Posttraumatische Belastungsstörung

Aktenzeichen  9 ZB 17.30411

Datum:
12.3.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 6050
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 1, Nr. 2, Abs. 4 S. 4
AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
VwGO § 108 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

Eine posttraumatische Belastungsstörung kommt nur zum Entstehen, wenn ein belastendes Ereignis stattgefunden hat, dessen Nachweis bei der fachärztlichen Begutachtung weder zu erbringen noch zu leisten ist. Daher muss das behauptete traumatisierende Ereignis vom Schutzsuchenden gegenüber dem Tatrichter nachgewiesen bzw. wahrscheinlich gemacht werden. (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 21 K 13.30391 2017-01-10 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
1. Die Berufung ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG).
Die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache setzt voraus, dass eine konkrete noch nicht geklärte Rechts- oder Tatsachenfrage aufgeworfen wird, deren Beantwortung sowohl für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war als auch für die Entscheidung im Berufungsverfahren erheblich sein wird und die über den konkreten Fall hinaus wesentliche Bedeutung für die einheitliche Anwendung oder für die Weiterentwicklung des Rechts hat (vgl. BayVGH, B.v. 22.1.2019 – 9 ZB 18.31719 – juris Rn. 2). Dem wird das Zulassungsvorbringen nicht gerecht.
a) Die aufgeworfene Frage, „ob im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bei Geltendmachung einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) der objektive Ereignisaspekt des Traumas gegenüber dem Tatrichter nachgewiesen bzw. wahrscheinlich gemacht werden muss“, hat der erkennende Senat bereits positiv beantwortet. Da eine posttraumatische Belastungsstörung nur zum Entstehen kommt, wenn ein belastendes Ereignis stattgefunden hat, dessen Nachweis bei der fachärztlichen Begutachtung weder zu erbringen noch zu leisten ist, muss das behauptete traumatisierende Ereignis vom Schutzsuchenden gegenüber dem Tatrichter nachgewiesen bzw. wahrscheinlich gemacht werden (vgl. BayVGH, B.v. 23.5.2017 – 9 ZB 13.30236 – juris m.w.N.).
Anders, als der Kläger vorträgt, steht die Auffassung des Senats, dass die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung nicht nur eine spezifische Symptomatik, sondern auch ein traumatisches Lebensereignis als Auslöser für die Symptomatik erfordert, auch nicht „im Widerspruch zur übrigen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung“, deren Maßstab dagegen lediglich die Frage sei, ob eine PTBS vorliege.
In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ist geklärt, dass es ausschließlich Sache des Tatrichters ist, sich selbst die nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO notwendige Überzeugungsgewissheit von der Wahrheit des Parteivortrags zu verschaffen (BVerwG, B.v. 22.2.2005 – 1 B 10.05 – juris Rn. 2; BayVGH, B.v. 13.12.2018 – 13a ZB 18.33056 – juris Rn. 10 m.w.N.; B.v. 17.1.2018 – 10 ZB 17.30723 – juris Rn. 5; B.v. 23.5.2017 – 9 ZB 13.30236 – juris Rn. 7). Die Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Asylbewerbers gehört – auch in schwierigen Fällen – zum Wesen der richterlichen Rechtsfindung, vor allem der freien Beweiswürdigung (BVerwG, B.v. 18.7.2001 – 1 B 118.01 – juris Rn. 3). Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung umfasst dabei sowohl die Würdigung des Vorbringens der Partei im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren einschließlich der Beweisdurchführung als auch die Wertung und Bewertung vorliegender ärztlicher Atteste sowie die Überprüfung der darin getroffenen Feststellungen und Schlussfolgerungen auf ihre Schlüssigkeit und Nachvollziehbarkeit. Der Sachverständige begutachtet demgegenüber als „Gehilfe“ des Richters einen grundsätzlich vom Gericht festzustellenden (Mindest-)Sachverhalt aufgrund seiner besonderen Sachkunde auf einem Fachgebiet (vgl. BVerwG, U.v. 6.2.1985 – 8 C 15.84 – BVerwGE 71, 38 = juris Rn. 16). Die Feststellung der Wahrheit von Angaben des Asylbewerbers oder der Glaubhaftigkeit einzelner Tatsachenbehauptungen unterliegt als solche nicht dem Sachverständigenbeweis (BayVGH, B.v. 23.5.2017 – 9 ZB 13.30236 – juris Rn. 7 m.w.N.).
Ferner ist in der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs geklärt, dass die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung nicht nur eine spezifische Symptomatik erfordert, sondern auch ein traumatisches Lebensereignis als Auslöser für die Symptomatik. Eine posttraumatische Belastungsstörung entsteht als „verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde“ (vgl. ICD-10: F.43.1, Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme). Die Störung ist also stets die direkte Folge der akuten schweren Belastung; ihr Beginn folgt dem Trauma (vgl. ICD-10: F.43 Info und F.43.1). Auch geklärt ist insoweit, dass der Nachweis des Ereignisses, „das bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde“, nicht Gegenstand der gutachtlichen (fachärztlichen) Untersuchung einer posttraumatischen Belastungsstörung ist (BayVGH. B.v. 23.5.2017 – 9 ZB 13.30236 – juris Rn. 8 f. m.w.N.; s. auch B.v. 13.12.2018 – 13a ZB 18.33056 – juris Rn. 7 ff). Mit psychiatrisch-psychotherapeutischen Mitteln kann nicht sicher geschlossen werden, ob tatsächlich in der Vorgeschichte ein Ereignis vorlag und wie dieses geartet war (vgl. Ebert/Kindt, Die posttraumatische Belastungsstörung im Rahmen von Asylverfahren, VBlBW 2004, 41 ff.).
Somit ist zum Nachweis einer PTBS vom Schutzsuchenden gegenüber dem Tatrichter – und nicht gegenüber einem ärztlichen Gutachter – nachzuweisen bzw. wahrscheinlich zu machen, dass ein behauptetes traumatisierendes Ereignis tatsächlich stattgefunden hat. Es ist Sache des Betroffenen, dem Gericht die behaupteten Geschehnisse, die bei ihm eine posttraumatische Belastungsstörung zum Entstehen gebracht haben sollen, jedenfalls in Grundzügen unter Angabe von Einzelheiten schlüssig und widerspruchsfrei zu schildern. Der Umstand, dass bei Opfern von Traumatisierungen Aussagediskrepanzen aufgrund von Konzentrations- und Gedächtnisstörungen sowie komplexe Verdrängungsvorgänge vorliegen können, ändert nichts an der nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO maßgeblichen freien Überzeugungsbildung des Gerichts (vgl. BayVGH, B.v. 13.12.2018 – 13a ZB 18.33056 – juris Rn. 7 ff.; B.v. 6.9.2018 – 1 ZB 17.30420 – juris Rn. 3; B.v. 27.3.2018 – 9 ZB 18.30057 – juris Rn. 14; B.v. 17.1.2018 – 10 ZB 17.30723 – juris Rn. 17; B.v. 23.5.2017 – 9 ZB 13.30236 – juris Rn. 10/25; B.v. 15.2.2017 – 9 ZB 14.30433 – juris Rn. 12 f.; B.v. 4.11.2016 – 9 ZB 16.30468 – juris Rn. 23; B.v. 17.10.2012 – 9 ZB 10.30390 – juris Rn. 8; B.v. 15.12.2010 – 9 ZB 10.30376 – juris Rn. 3). Der Zulassungsantrag des Klägers gibt keinen Anlass, diese ständige Rechtsprechung in Frage zu stellen.
Denn entgegen dem Zulassungsvorbringen maßte sich das Verwaltungsgericht nach alledem nicht etwa medizinische Sachkunde hinsichtlich des Vorliegens einer PTBS an, die es nicht besitzt. Es setzte sich auch nicht – wie in der vom Kläger zitierten Zulassungsentscheidung des 13a. Senats des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 14. Mai 2013 (13a ZB 13.30097 – nicht veröffentlicht) – über vorgelegte Stellungnahmen hinweg, ohne den Sachverhalt weiter aufzuklären. Vielmehr bemühte es sich in der mündlichen Verhandlung in Bezug auf die Ermittlung traumaauslösender Umstände, die nach dem im erstinstanzlichen Verfahren eingeholten psychiatrisch-psychotherapeutischen Gutachtens des Klinikums der Universität München vom 23. November 2016 (s. S. 30) als vom Kläger erinnerlich angesehen werden durften, um die Feststellung des Wahrheitsgehalts der Angaben des Klägers bzw. der Glaubhaftigkeit einzelner Tatsachenbehauptungen. Zu den Gründen dafür, dass es dem Kläger die von ihm benannten Anknüpfungstatsachen hinsichtlich der geltend gemachten PTBS, die als solche weder allgemein dem Sachverständigenbeweis unterliegen, noch im vorliegenden Fall der Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung Gegenstand der sachverständigen Beurteilung waren, nicht glaubte, führte das Verwaltungsgericht in seinem Urteil umfänglich aus (s. UA S. 10 ff.).
In dem Sachverständigengutachten wird zwar ebenfalls die Frage der Glaubhaftigkeit thematisiert und auf Seite 27 ausgeführt, dass die Einschätzung, ob sich eine Aussage mit hoher Wahrscheinlichkeit auf tatsächlich Erlebtes beziehe, eine große Rolle spiele und nach festgeschriebenen Kriterien erfolge. Die gekürzt und zusammengefasst dargestellten Kriterien A bis F nach der American Psychiatric Association (DSM-V) lassen jedoch nicht erkennen, dass und in welcher Weise die Angaben des jeweiligen Probanden einer Glaubhaftigkeitsprüfung zu unterziehen wären. Dementsprechend werden die vom Kläger geschilderten traumatischen Ereignisse im Gutachten auch an keiner Stelle in Zweifel gezogen oder sonst hinterfragt (s. S. 26 unten, S. 29 unten, S. 37 oben), obwohl Anlass hierzu bestanden hätte. Es wird zwar einerseits ein deutliches emotionales Berührtsein beim Erzählen der traumatischen Ereignisse (Weinen, schweißnasse Hände, s. S. 23) vermerkt, was für den Wahrheitsgehalt der Schilderungen des Klägers sprechen mag, es werden andererseits aber auch als dagegen sprechend interpretierbare Auffälligkeiten, wie Flüchtigkeitsfehler, das häufige Vergessen von Frage- und Aussageinhalten, das Abschweifen der Erzählinhalte sowie Schwierigkeiten des Klägers bei der chronologischen Darstellung der Ereignisse, festgestellt (s. S. 22 f. des Gutachtens). Diese werden allerdings auf das Nachlassen der Aufmerksamkeit und Konzentration bzw. körperliche und mentale Erschöpfung zurückgeführt, ohne in diesem Zusammenhang die Diskrepanzen zu den Sachverhaltsdarstellungen des Klägers gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, die den Gutachtern aufgrund des ausführlichen Schreibens des Verwaltungsgerichts vom 2. März 2015 bekannt waren, oder sonst die Frage der Glaubwürdigkeit des Klägers zu diskutieren. Anderen medizinischen Befunden, die der Kläger im Laufe seines Asylverfahrens vorlegte, kann ebenfalls nicht entnommen werden, dass seine Ereignisdarstellungen hinterfragt worden wären.
b) Die außerdem aufgeworfene Frage, ob ein Abschiebungsverbot unter Zugrundelegung des Maßstabs von § 60 Abs. 7 Sätze 2 bis 4 AufenthG auch dann nicht vorläge, wenn man vorliegend von der im Gutachten diagnostizierten PTBS ausgehen würde, könnte nur für den Einzelfall des Klägers beantwortet werden. Sie ist damit nicht grundsätzlich klärungsbedürftig. Ebenso wie die weitere als grundsätzlich klärungsbedürftig benannte Frage, „ob in Sierra Leone eine zur Vermeidung lebensbedrohlicher oder schwerwiegender Krankheitsfolgen erforderliche Fortsetzung der medikamentösen Behandlung mit Antidepressiva möglich ist“, ist sie aber auch nicht entscheidungserheblich bzw. in einem Berufungsverfahren nicht klärungsfähig, weil das Vorliegen einer PTBS-Erkrankung gerade nicht als nachgewiesen angesehen werden kann. Eine andere psychische Erkrankung, aus der die Notwendigkeit der Einnahme von Antidepressiva resultieren könnte, wurde für den Kläger nicht geltend gemacht und nach den vorgelegten ärztlichen Unterlagen nicht diagnostiziert.
2. Soweit mit dem Zulassungsvorbringen noch Divergenz (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG) geltend gemacht werden soll, erfüllt es die entsprechenden Darlegungsanforderungen nicht (s. § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG).
Eine Divergenz setzt voraus, dass das Verwaltungsgericht im angefochtenen Urteil einen Rechtssatz aufgestellt hat, der einem Rechtssatz widerspricht, den eines der in § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG genannten Gerichte in Anwendung derselben Rechtsvorschrift aufgestellt hat. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen hat der Kläger schon deshalb nicht dargelegt, weil es an der Bezeichnung bestimmter und voneinander abweichender Rechtssätze fehlt (vgl. BayVGH, B.v. 9.3.2017 – 20 ZB 17.30262 – juris Rn. 4).
Das Zulassungsvorbringen benennt zwar eine Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (B.v. 14.5.2013 – 13a ZB 13.30097) sowie ergänzend eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (U.v. 25.6.2007 – 2 BvR 16163/07 – juris) und zitiert aus diesen. Es bezeichnet aber keinen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz, mit dem das Verwaltungsgericht einem in der benannten Rechtsprechung aufgestellten ebensolchen Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hat. Das bloße Aufzeigen einer – vermeintlich – fehlerhaften oder unterbliebenen Anwendung solcher Rechtssätze genügt den Zulässigkeitsanforderungen einer Divergenzrüge nicht (st. Rspr., vgl. z.B. BVerwG, B.v. 25.6.2013 – 10 B 10.13 – juris Rn. 15 m.w.N.).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Mit der nach § 80 AsylG unanfechtbaren Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).


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