Medizinrecht

Keine Kostenerstattung im Zusammenhang mit Eingliederungshilfe

Aktenzeichen  Au 3 K 18.1900

Datum:
7.7.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 21299
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VIII § 10
SGB X § 114 S. 1
SGB IX § 14 Abs. 4 S. 1,  § 33 Abs. 7 Nr. 1, § 49 Abs. 7 Nr. 1

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat die Klägerin zu tragen.
III. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
IV. Die Berufung wird zugelassen.

Gründe

Die zulässige Leistungsklage ist unbegründet. Die Klägerin hat gegen den Beklagten keinen Anspruch auf Erstattung der Kosten für die heilpädagogische Wohnunterbringung für den Leistungsempfänger sowie der damit zusammenhängenden Fahrtkosten.
1. Der Verwaltungsrechtsweg ist eröffnet. Gemäß § 114 Satz 1 SGB X ist für einen Erstattungsanspruch derselbe Rechtsweg wie für den Anspruch auf die Sozialleistung gegeben. Ein etwaiger Anspruch des Leistungsempfängers gegen den Beklagten würde sich hier aus § 35a SGB VIII ergeben. Für diesen wäre gemäß § 40 Abs. 1 VwGO der Verwaltungsrechtsweg eröffnet, weil § 51 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) hierfür keine abdrängende Sonderzuweisung vorsieht.
2. Hinsichtlich des materiellen Rechts ist maßgeblich auf die Rechtslage für den Zeitraum vom 1. September 2014 bis 29. Februar 2016 abzustellen (vgl. BVerwG, U.v. 19.10.2011 – 5 C 6.11 – juris Rn. 6). Davon abgesehen haben die im vorliegenden Verfahren maßgeblichen Normen des Sozialgesetzbuchs Neuntes Buch – Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen (SGB IX) zwar mit dem Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen – Bundesteilhabegesetz vom 23. Dezember 2016 (BTHG), überwiegend in Kraft getreten zum 1. Januar 2018, zwar eine neue Bezeichnung, inhaltlich jedoch keine Änderung erfahren.
3. Die Klägerin hat gegen den Beklagten keinen Erstattungsanspruch nach § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX 2004, der insoweit eine zu § 16 Abs. 1 SGB IX in der Fassung vom 23. Dezember 2016 inhaltsgleiche Regelung enthält und den sonstigen Erstattungsregelungen als lex specialis vorgeht (vgl. BVerwG, U.v. 22.6.2017 – 5 C 3.16 – juris Rn. 10). Danach hat der Rehabilitationsträger, der aufgrund eines nach § 14 Abs. 1 Satz 2 bis 4 SGB IX 2004 weitergeleiteten Anspruchs geleistet hat, einen Erstattungsanspruch, wenn nach Bewilligung der Leistung durch diesen Rehabilitationsträger festgestellt wird, dass ein anderer bzw. ein vorrangiger Leistungsverpflichteter für die Erbringung der Leistung zuständig war.
a) Die Klägerin hat auf Grund eines weitergeleiteten Antrags nach § 14 Abs. 1 Satz 2 SGB IX 2004 geleistet.
b) Der Leistungsempfänger hatte hinsichtlich der Unterbringung in einer heilpädagogischen Wohngruppe einen deckungsgleichen Leistungsanspruch sowohl gegen die Klägerin als auch gegen den Beklagten. Dabei ist der Leistungsanspruch des Leistungsempfängers gegen die Klägerin vorrangig, so dass kein Erstattungsanspruch besteht.
aa) Der Leistungsempfänger hatte unstreitig einen Anspruch gegen den Beklagten auf Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII.
bb) Darüber hinaus hatte der Leistungsempfänger jedoch auch einen Anspruch gegenüber der Klägerin. Nach § 33 Abs. 7 Nr. 1 SGB IX 2011 (insoweit wortgleich zu § 49 Abs. 7 Nr. 1 SGB IX in der Fassung vom 23. Dezember 2016) gehört zu den von der Klägerin zu erbringenden Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben auch die Übernahme der erforderlichen Kosten für Unterkunft und Verpflegung, wenn für die Ausführung einer Leistung eine Unterbringung außerhalb des eigenen oder des elterlichen Haushalts wegen Art oder Schwere der Behinderung oder zur Sicherung des Erfolges der Teilhabe am Arbeitsleben notwendig ist.
(1) Diese Voraussetzungen liegen vor. Insofern ging die Klägerin in der mündlichen Verhandlung selbst davon aus, dass die heilpädagogische Unterbringung auch erforderlich gewesen sei, um das Ausbildungsziel zu erreichen. Die erstmalige heilpädagogische Fremdunterbringung wurde durch die berufsvorbereitende Maßnahme veranlasst. In der kinder- und jugendpsychiatrischen Stellungnahme vom 26. August 2014 wurde sie gerade im Zusammenhang mit dieser Maßnahme für sinnvoll erachtet. Die in dieser und dem Qualifizierungsplan aufgezeigten Problemlagen und Zielvorgaben haben Bedeutung für die Teilhabe am Arbeitsleben. Dementsprechend wird im Qualifizierungsplan ausdrücklich festgehalten, dass für eine Stabilisierung und positive Weiterentwicklung im Hinblick auf eine Ausbildung ein gezieltes pädagogisches und sozialpädagogisches Programm erforderlich sei. Die heilpädagogische Wohnunterbringung hatte daher zumindest auch einen unmittelbaren Bezug zu der erfolgreichen Sicherung der Teilhabe am Arbeitsleben.
(2) Umstritten zwischen den Beteiligten ist nur, ob die Anwendbarkeit des § 33 Abs. 7 SGB IX zusätzlich voraussetzt, dass die Annexleistung final auf das gesetzlich vorgegebene Ziel der positiven Entwicklung der Erwerbsfähigkeit ausgerichtet sein muss. Insofern ist nach Ansicht der Klägerin mit der sozialgerichtlichen Rechtsprechung danach zu differenzieren, welchem Lebensbereich die Leistung schwerpunktmäßig zuzuordnen ist (vgl. BSG, U.v. 26.10.2004 – B 7 AL 16/04 R – BeckRS Rn. 21; ebenso BayLSG, B.v. 11.10.2019 – L 9 AL 151/19 B ER – nicht veröffentlicht). Dem folgt das Gericht nicht (im Ergebnis ebenso VG München, U.v. 17.7.2019 – M 18 K 17.2523 – BeckRS Rn. 41). Eine derartige Schwerpunktbetrachtung findet in § 33 Abs. 7 Nr. 1 SGB IX keine Stütze. Zudem ist der Schwerpunkt der Leistung oftmals kaum feststellbar. Dies zeigt gerade der vorliegende Fall. Die im Qualifizierungsplan festgehaltenen Ziele, wie bspw. die Aufrechterhaltung und Stabilisierung von Lernmotivation und Durchhaltevermögen, die Förderung von Konzentration und Ausdauer, Pünktlichkeit oder die Stärkung der Selbstständigkeit, sind ambivalent und haben sowohl im sozialen Leben als auch im Arbeitsleben Bedeutung. Eine schwerpunktmäßige Abgrenzung würde daher zu erheblicher Rechtsunsicherheit führen. Durch die Schwerpunktbetrachtung würden zudem zusammengehörige Sachverhalte auseinandergerissen. Auch aus § 6 SGB IX ergibt sich eine zugunsten behinderter Menschen vorgesehene Mehrfachverantwortung verschiedener Rehabilitationsträger. Insbesondere zeigt § 55 Abs. 1 a.E. SGB IX 2001 bzw. nunmehr § 75 Abs. 1 Satz 1 a.E. SGB IX 2016, dass es eine strikte Trennung der in § 5 SGB IX genannten Leistungsgruppen nicht gibt, sondern vielmehr insoweit Überschneidungen möglich sind. Auch der Gesetzgeber geht daher davon aus, dass Leistungen verschiedenen Leistungsgruppen zugeordnet werden können. Daraus folgt, dass die Entscheidung über die endgültige Kostentragung im Rahmen von Vorrang-/Nachrangregelungen durch den Gesetzgeber getroffen wird.
(3) Nach Auffassung des Gerichts führt jedenfalls bereits die Veranlassung der heilpädagogischen Unterbringung durch die berufsvorbereitende Maßnahme dazu, dass es sich bei dieser nicht um eine selbstständige Leistung, sondern um eine Annexleistung nach § 33 Abs. 7 SGB IX 2004 handelt. Sogar der Schwerpunkt dürfte daher allein aus diesem Grund dem Leistungsbereich der Klägerin zuzuordnen sein.
cc) Der Anspruch des Leistungsempfängers gegen die Klägerin ist auf Unterbringung einschließlich pädagogischer Betreuung in einer heilpädagogischen Wohnheimgruppe gerichtet, so dass er auch deckungsgleich (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 19.10.2011 – 5 C 6.11 – juris Rn. 16) zu dem Anspruch gegen den Beklagten ist.
dd) Nach § 10 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII gilt grundsätzlich die Nachrangigkeit der Leistungen der Jugendhilfe. Diese Regelung findet auch im Verhältnis zu Leistungen der aktiven Arbeitsförderung Anwendung und umfasste im maßgeblichen Zeitraum alle in § 33 SGB IX 2011 genannten Leistungen (vgl. Eicher/Luik/Luik, 4. Auflage 2017, SGB II, § 16 Rn. 169). Bei der heilpädagogischen Unterbringung handelt es sich nicht – wie die Klägerin meint – um eine originäre, ausschließliche Leistung der Jugendhilfe. Vielmehr kann sie auch eine deckungsgleiche Annexleistung der Klägerin darstellen (vgl. VG München, U.v. 17.7.2019 – M 18 K 17.2523 – BeckRS Rn. 38, 44).
ee) Sofern eine Leistungsverpflichtung zweier Leistungsträger besteht, ist auch im Rahmen der Klärung des Vorrangs der Leistungspflicht von miteinander konkurrierenden Leistungen nicht anhand des Schwerpunkts der Leistungen zu entscheiden (a. A. Bohnert, BeckOKG, Stand 1.4.2019, SGB VIII, § 10 Rn. 32; wohl auch Kepert, LPK-SGB VIII, 7. Auflage 2018, § 10 Rn. 29 jeweils ohne weitergehende Begründung). Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof führt insoweit in seiner Entscheidung vom 24. Februar 2014 (Az.: 12 ZB 12.715 – juris Rn. 36 ff. – insbesondere unter Verweis auf BVerwG, U.v. 19.10.2011 – 5 C 6.11 – juris) zu § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII aus, dass angesichts der Abgrenzungsschwierigkeiten, die sich besonders in den Fällen einer Mehrfachbehinderung oder entwicklungsbedingter Besonderheiten ergeben könnten, das Absehen von Schwerpunktkriterien und von Kausalitätserwägungen auch der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit diene. Denn je nach Betrachtungsweise und Lebenssituation könnten sich unterschiedliche Schwerpunkte des Bedarfs ergeben, so dass sich der Bedarf oder Leistungszweck des vorrangig zuständigen Leistungsträgers nicht mit der erforderlichen Bestimmtheit ermitteln lasse. Erst recht könne daher § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII nicht dahingehend eingeschränkt ausgelegt werden, dass die körperliche und/oder geistige Behinderung für die Maßnahme der Eingliederungshilfe ursächlich im Sinne einer conditio-sine-qua-non ist bzw. das Erfordernis einer Kausalität schlechthin erfüllt sein müsse. Diese Ausführungen, denen das Gericht folgt, sind vorliegend deckungsgleich auf das Rangverhältnis nach § 10 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII anzuwenden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 188 Satz 2 Halbs. 2 VwGO nicht gerichtskostenfrei.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 809 Satz 1 und 2 ZPO.
Die Rechtssache hat gemäß §§ 124a Abs. 1 Satz 1, 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO grundsätzliche Bedeutung, weil die Abgrenzung der verschiedenen Leistungsgruppen in § 5 SGB IX zwischen der Sozialgerichtsbarkeit und der Verwaltungsgerichtsbarkeit umstritten ist und nach wie vor Bedeutung hat. Nach Angaben der Klägerin sind außerdem weitere vergleichbare Fälle anhängig. Die Rechtsfrage ist auch im Hinblick auf die Neufassung des § 10 Abs. 4 SGB VIII zum 1. Januar 2020 nicht überholt. Bei dieser Änderung handelt es sich nämlich nur um eine redaktionelle Folgeänderung aufgrund der Neuregelung der Eingliederungshilfe im SGB IX (BT-Drs. 18/9522 S. 325). Von dem grundsätzlichen Vorrang der Jugendhilfe nach § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII 2020 dürften daher trotz des missverständlichen Wortlauts nur die Leistungen der Eingliederungshilfe erfasst sein, die im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes aus der Sozialhilfe (SGB XII) in das Recht der Rehabilitation (SGB IX) verschoben wurden.


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