Medizinrecht

Keine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör – Substantiierungserfordernis bei Attesten betreffend psychische Störungen

Aktenzeichen  1 ZB 18.33263

Datum:
14.12.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 35667
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 78
VwGO § 86, § 108, § 138

 

Leitsatz

1. Es ist gerechtfertigt, bei psychischen Störungen die vom Bundesverwaltungsgericht entwickelten Substantiierungserfordernisse entsprechend anzuwenden. (Rn. 3) (redaktioneller Leitsatz)
2. Von einer Überraschungsentscheidung ist auszugehen, wenn sich eine Entscheidung ohne vorherigen richterlichen Hinweis auf einen Gesichtspunkt stützt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 25 K 17.45748 2018-08-01 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Der geltend gemachte Zulassungsgrund der Versagung rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG, § 138 Nr. 3 VwGO) liegt nicht vor.
Mit dem Zulassungsantrag wird geltend gemacht, dass das Gericht die vorgelegten Atteste als unzureichend bezeichnet und damit die Anforderungen an die Darlegungspflicht der Klägerin überspannt habe. Das fachärztliche Attest der Diabetologin vom 6. Juli 2018 sowie das psychiatrische Attest vom 11. Juli 2018 in Zusammenschau mit dem allgemeinärztlichen Attest vom 4. Juli 2018 genügten den Anforderungen, welche das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 11. September 2007 (10 C 8.07) an ärztliche Atteste zur Substantiierung eines Sachverständigenbeweisantrags gestellt habe, jedenfalls den Nachweis des Vorliegens einer akut behandlungsbedürften Diabeteserkrankung sowie einer Depression und Angststörung betreffend. Die erhöhten Mindestanforderungen, die das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung benenne, würden zudem vor allem für Atteste gelten, die eine behandlungsbedürftige PTBS zum Gegenstand hätten. Indem das Gericht bei der Beurteilung des psychiatrischen Attestes die diagnostizierte Angsterkrankung und depressive Störung nicht berücksichtigt habe, sondern sich auf Ausführungen zur PTBS beschränkt habe, verletze das Urteil den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör.
Der Anspruch auf rechtliches Gehör verpflichtet die Gerichte, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen, in Erwägung zu ziehen und die wesentlichen Gründe für ihre Entscheidung anzugeben (§ 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Das Verwaltungsgericht hat die im gerichtlichen Verfahren vorgelegten Atteste zur Kenntnis genommen und sachlich gewürdigt. Es ist dabei von einer Erkrankung der Klägerin an Diabetes mellitus ausgegangen und hat sich mit dem psychiatrischen Attest vom 6. Juli 2018 und der darin diagnostizierten depressiven Störung bzw. Angststörung auseinandergesetzt (vgl. UA S. 18 ff.). Der Umstand, dass es dieses Vorbringen anders gewürdigt hat als die Klägerin, begründet keinen Gehörsverstoß (vgl. BVerwG, B.v. 26.7.2012 – 10 B 21.12 – juris Rn. 2). Im Übrigen ist das Verwaltungsgericht zu Recht davon ausgegangen, dass ein Attest, das vorliegend eine Angst- und depressive Störung (gemischt) diagnostiziert, gewissen Mindestanforderungen genügen muss. Wie das Bundesverwaltungsgericht in seinen Entscheidungen vom 11. September 2007 (10 C 8.07 – BVerwGE 129, 251; 10 C 17.07 – juris Rn. 15) ausgeführt hat, gehört zur Substantiierung eines Vorbringens einer Erkrankung an PTBS angesichts der Unschärfen des Krankheitsbildes sowie seiner vielfältigen Symptomatik regelmäßig die Vorlage eines gewissen Mindestanforderungen genügenden fachärztlichen Attests. Aus diesem muss sich nachvollziehbar ergeben, auf welcher Grundlage der Facharzt seine Diagnose gestellt hat und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt. Dazu gehören Angaben darüber, seit wann und wie häufig sich der Patient in ärztlicher Behandlung befunden hat und ob die von ihm geschilderten Beschwerden durch die erhobenen Befunde bestätigt werden. Des Weiteren soll das Attest Aufschluss über die Schwere der Krankheit, deren Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen Behandlungsverlauf (Medikation und Therapie) geben. Diese Anforderungen an die Substantiierung ergeben sich aus der Pflicht des Beteiligten, an der Erforschung des Sachverhalts mitzuwirken (§ 86 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 VwGO), der im besonderen Maße für Umstände gilt, die in die eigene Sphäre des Beteiligten fallen. Auch bei der hier diagnostizierten gleichzeitig bestehenden Angststörung und Depression rechtfertigen die Unschärfen des Krankheitsbildes sowie ihre vielfältigen Symptome gewisse Mindestanforderungen an das vorzulegende Attest zu stellen. Diese psychische Störung bedarf ebenso wie eine PTBS einer fundierten Exploration mittels Befragung des Betroffenen und regelmäßig für eine sichere Diagnose auch einer körperlichen Untersuchung, um organische Grunderkrankungen mit ähnlicher Symptomatik auszuschließen. Es ist daher gerechtfertigt, die vom Bundesverwaltungsgericht entwickelten Substantiierungserfordernisse entsprechend anzuwenden (vgl. OVG NW, B.v. 8.3.2016 – 19 A 1670/13 – NVwZ-RR 2016, 712; B.v. 21.3.2017 – 19 A 2461/14.A – NVwZ 2017, 1227). Ein fachärztliches Attest muss auch regelmäßig von dem ausstellenden Arzt unterschrieben sein. Der Hinweis am Ende der ärztlichen Bescheinigung, dass das Schreiben maschinell erstellt worden sei und deshalb ohne Unterschrift gültig sei, ist nicht zutreffend.
Weiter wird ausgeführt, dass das Gericht weder durch eigene Sachkunde noch vorliegende Erkenntnismittel im Urteil habe darlegen können, auf welcher Tatsachengrundlage es die angeblich bestehende Behandelbarkeit der Klägerin mit den erforderlichen Diabetes-Medikamenten stütze, und den Vortrag der Klägerin zu den Medikamentenkosten nicht habe widerlegen können. Es hätte mangels vorliegender aktueller Erkenntnismittel von Amts wegen Beweis erheben müssen. Mit entsprechenden Schlussfolgerungen habe die Klägerin nach dem Verlauf der Verhandlung nicht rechnen müssen. Auch die Behauptung des Gerichts, dass die Klägerin im Fall einer Rückkehr wieder arbeiten könne, sei angesichts des nicht angezweifelten Vorliegens des Bestehens der schweren Diabeteserkrankung als überraschend im Sinn eines Gehörsverstoßes zu werten.
Soweit sich die Klägerin auch hier gegen die Feststellungen und die Beweiswürdigung des Gerichts wendet, ist ein Gehörsverstoß nicht dargetan. Zu Unrecht rügt die Klägerin auch, dass das Gericht eine unzulässige Überraschungsentscheidung getroffen habe. Von einer solchen ist auszugehen, wenn sich eine Entscheidung ohne vorherigen richterlichen Hinweis auf einen Gesichtspunkt stützt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (vgl. BVerfG, B.v. 5.4.2012 – 2 BvR 2126/11 – NJW 2012, 2262). Von einer Überraschungsentscheidung kann aber nicht ausgegangen werden, wenn sich die Gesichtspunkte, auf die sich das Gericht stützt, den Beteiligten hätten aufdrängen müssen. Das Gericht ist nicht verpflichtet, die Beteiligten vorab auf seine Rechtsauffassung oder die beabsichtigte Würdigung des Prozessstoffes hinzuweisen (vgl. BVerwG, B.v. 7.5.2008 – 9 B 35.07 – juris Rn. 3). Da die Klägerin bereits seit ca. 25 Jahren an Diabetes leidet und ihre Erkrankung bereits im Heimatland behandelt wurde und sie auch trotz der Erkrankung dort arbeiten konnte, stellen die entsprechenden Feststellungen für die aktuelle Situation keine Überraschungsentscheidung dar. Es kann dahingestellt bleiben, ob und unter welchen Voraussetzungen mit der Gehörsrüge auch die Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht geltend gemacht werden kann, da eine Verletzung der Aufklärungspflicht nicht ersichtlich ist. Soweit die Klägerin geltend macht, dass die Kosten der Medikamente für die psychische Erkrankung nicht berücksichtigt worden seien, kam es hierauf nicht entscheidungserheblich an. Im Übrigen hat es die Klägerin versäumt, sich vor Gericht selbst das rechtliche Gehör zu verschaffen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts verletzt ein Gericht seine Pflicht zur erschöpfenden Sachverhaltsaufklärung grundsätzlich dann nicht, wenn es von einer Beweiserhebung absieht, die ein anwaltlich vertretener Beteiligter nicht ausdrücklich beantragt hat (vgl. BVerwG, B.v. 20.12.2012 – 4 B 20.12 – juris Rn. 6 m.w.N.).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.
Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).


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