Medizinrecht

Kostenerstattung, Berufung, Bescheid, Anfechtung, Krankenbehandlung, Vergleich, Streitwert, Ausgangsverfahren, Feststellung, Gutachten, MDK, Beschlussverfahren, Anspruch, Prozessvergleich, Zulassung der Revision

Aktenzeichen  L 5 KR 121/19

Datum:
28.7.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 54466
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Eine Rücknahmeerklärung nach Anfechtung eines Vergleichsabschluss ist nur unter besonderen Umständen einer nachträglichen Beseitigung zugänglich

Verfahrensgang

S 4 KR 334/17 FdV 2019-03-01 Endurteil SGLANDSHUT SG Landshut

Tenor

I. Es wird festgestellt, dass die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 01.03.2019 mit Prozessvergleich vom 08.10.2019 beendet wurde.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 16.433,25 € festgesetzt.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Streitig ist die Rücknahme der Anfechtung des Prozessvergleichs vom 08.10.2019. Im Ausgangsverfahren streitgegenständlich war die Kostenerstattung für eine Krankenbehandlung der verstorbenen Mutter der Klägerin mit Bevacizumab (Handelsname Avastin).
1. Die 1932 geborene und 2010 verstorbene Versicherte war bei der Beklagten pflichtversichert. Sie wurde von ihrer Tochter (Klägerin) beerbt. Bei der Versicherten wurde im September 2008 ein Ovarialkarzinom diagnostiziert. Das Klinikum Deggendorf hat bei der Beklagten die Kostenübernahme für die Behandlung mit Avastin beantragt. Der MDK kam zu dem Ergebnis, dass Avastin für die vorliegende Therapiesituation nicht zugelassen sei. Mit Bescheid vom 07.04.2010 lehnte die Beklagte die Übernahme der Kosten für eine Behandlung mit Avastin ab. Im Widerspruchsverfahren teilte der MDK in einem weiteren Gutachten mit, dass alternative Behandlungsmöglichkeiten bestünden. Eine Phase III-Studie, die sich mit dem Einsatz von Bevacizumab bei der Erkrankung Ovarialkarzinom nach Mehrlinientherapie beschäftigen würde, sei nicht bekannt. Mit Widerspruchsbescheid vom 17.05.2010 wurde der Widerspruch zurückgewiesen.
Die Klage auf Kostenerstattung iH von 16.433,25 € vor dem Sozialgericht Landshut ist nach umfangreichen Ermittlungen zur Sach- und Rechtslage (mehrere Termine zur Erörterung, zwei mündliche Verhandlungen, sieben Gutachten des MDK sowie Stellungnahmen des Herstellers Roche) mit Urteil vom 01.03.2019 abgewiesen worden. Die Voraussetzungen des Off-Label-Use hätten im Jahr 2010 nicht vorgelegen, wie die MDK-Gutachten und die Stellungnahmen des Herstellers Roche übereinstimmend aussagen. Im Übrigen habe es zugelassene Alternativbehandlungen gegeben.
2. Dagegen hat die Klägerin Berufung eingelegt mit der Begründung, die Voraussetzungen des off-label-use hätten 2010 vorgelegen. Das LSG hat die Berufung am 08.10.2019 verhandelt. Die Klägerin ist durch den VDK vertreten gewesen. Dabei erging laut Sitzungsniederschrift folgender Hinweis: „Der Vorsitzende weist die Klägerseite nachdrücklich darauf hin, dass vorliegend allenfalls ein Anspruch nach einer Situation im Sinne des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 06.12.2005 in Betracht kommt. Dafür bedürfte es der hinreichenden Aussicht auf Erfolg sowie der Alternativlosigkeit der Behandlung mit Avastin. Der Senat vermag insoweit der Klägerseite nicht zu folgen und kann sich nicht auf die Stellungnahme des Klinikums Erlangen stützen. Hinsichtlich eines „Off-Label-Use“ fehlt es an den erforderlichen Studien der Phase III oder vergleichbaren Ergebnissen.“ Die Beteiligten haben sich zur Erledigung des Rechtsstreits auf eine Pauschalzahlung von 1.000 € geeinigt.
3. Mit Schreiben vom 07.10.2020 hat die Klägerin einen Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X gestellt und den Vergleich vom 08.10.2019 angefochten. Ihr Anspruch auf rechtliches Gehör sei verletzt. Im Übrigen hat die Klägerin ausführlich und wiederholend zum Anspruch auf Kostenerstattung vorgetragen.
Der Senat hat nach einem gerichtlichen Hinweis das Verfahren fortgesetzt. Mit gerichtlichen Schreiben vom 19.02.2021 ist ein weiterer Hinweis an die Klägerin zu den mangelnden Erfolgsaussichten der Anfechtung ergangen. Mit Beschluss vom 09.02.2021 ist der Antrag der Klägerin auf Prozesskostenhilfe mangels Erfolgsaussichten abgelehnt worden. Der Prozessvergleich vom 08.10.2019 habe die Rechtshängigkeit der Berufung beendet. Die Voraussetzungen der §§ 119 ff. BGB lägen nicht vor.
In der mündlichen Verhandlung am 18.05.2021 hat die Klägerin den Antrag auf Feststellung, dass der Vergleich vom 08.10.2019 unwirksam ist, zurückgenommen.
4. Mit Schreiben vom 02.06.2021 hat die Klägerin den Vergleich nochmals angegriffen und einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt.
Der Senat hat um Mitteilung des Streitwerts gebeten und zur beabsichtigten Entscheidung nach § 153 Abs. 4 SGG angehört. Die Klägerin hat in der Folge wiederum ausführlich zum Off-Label-Use von Avastin vorgetragen und ein Sachverständigengutachten beantragt.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des SG Landshut vom 01.03.2019 sowie den Bescheid der Beklagten vom 07.04.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.05.2010 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Kosten für die Behandlung mit dem Medikament Avastin in Höhe von 16.433,25 € zu erstatten.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
festzustellen, dass die Berufung mit Prozessvergleich vom 08.10.2019 beendet ist.
Gegenstand der Entscheidung war die Gerichtsakte des LSG. Auf diese wird ergänzend Bezug genommen.
II.
Der Antrag der Klägerin ist dahingehend auszulegen, dass durch Anfechtung der Rücknahmeerklärung vom 18.05.2021 und des Vergleichs vom 08.10.2019 das Berufungsverfahren fortgeführt wird. Das Fortsetzungsbegehren der Klägerin hat das Ziel, die Beklagte durch Sachentscheidung zu einer Kostenerstattung zu verurteilen, hat keinen Erfolg.
1. Der Senat kann durch Beschluss nach § 153 Abs. 4 SGG entscheiden, da das Begehren der Klägerin auf Sachentscheidung nach Anfechtung einstimmig für unbegründet gehalten wird. Die Klägerin hat mehrfach in beiden Instanzen rechtliches Gehör erhalten. Die Beteiligten sind zur Entscheidung im Beschlussverfahren gehört worden (§ 153 Abs. 4 S. 2 SGG).
2. Die Voraussetzungen eines formalen Wiederaufnahmeverfahrens (§ 179 SGG iVm §§ 578 ff. ZPO) bestehen nicht. Sie sind weder vorgetragen worden noch sind Anhaltspunkte dafür ersichtlich.
3. Die Prozesshandlung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 18.05.2021, mit der der Antrag auf Feststellung zurückgenommen worden, der Vergleich vom 08.10.2019 sei unwirksam, ist ordnungsgemäß protokolliert (§ 122 SGG iVm §§ 160 Abs. 3 Nr. 8, 162 Abs. 1, § 163 Abs. 1 ZPO).
Die Rücknahmeerklärung ist auch bei Willensmängeln grundsätzlich nicht anfechtbar oder widerrufbar (MKLS, SGG,13. Aufl. 2020, § 102 Rn. 7c mwN). Zweifel an der Prozessfähigkeit der Klägerin am 18.05.2021 sind weder vorgetragen worden noch sonst ersichtlich. Der Senat kann zudem eine Prozessunfähigkeit der Klägerin nach dem in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindruck ausschließen.
4. Der wirksam geschlossene Prozessvergleich vom 08.10.2019 hat zudem das Berufungsverfahren beendet (§ 101 Abs. 1 S. 1 SGG). Der Vergleich ist weder aus prozess- noch aus materiellrechtlichen Gründen unwirksam.
Die Klägerin ist im Berufungsverfahren durch den VdK vertreten gewesen (§ 73 Abs. 2 SGG). Die Terminsmitteilung zur mündlichen Verhandlung am 08.10.2019 ist am 21.08.2019 an den Vertreter versandt worden (§ 110 iVm § 73 Abs. 6 S. 6 SGG). Der Vergleich ist ordnungsgemäß protokolliert und damit formwirksam zustandegekommen (§ 122 SGG iVm §§ 160 Abs. 3 Nr. 1, 162 Abs. 1, 163 Abs. 1 ZPO).
Es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass der Prozessvertreter in der mündlichen Verhandlung getäuscht oder gar genötigt wurde (§ 123 BGB) oder bei den Vergleichsverhandlungen ein Irrtum vorlag (§ 119 BGB). Vielmehr ist aus der Sitzungsniederschrift erkennbar, dass der Prozessbevollmächtigte nach ausführlichem Hinweis durch den Vorsitzenden zu den Erfolgsaussichten der Berufung einen für die Klägerin sehr vorteilhaften Vergleich aushandeln konnte.
Damit bleibt das Fortsetzungsbegehren der Klägerin ohne Erfolg.
4. Die Kostenentscheidung basiert auf §§ 197a iVm § 154 Abs. 2 VwGO. Die Klägerin ist im Hinblick auf den hier vorliegenden Streitgegenstand nicht kostenprivilegiert iSd § 183 S. 1 SGG. Die Klägerin ist mit gerichtlichen Schreiben vom 29.06.2021 auf die Kostentragungspflicht hingewiesen worden.
5. Der Streitwert ergibt sich aus § 197a SGG iVm §§ 47 Abs. 1 S. 1, 52 Abs. 1 und 3 GKG. Die Beteiligten sind dazu angehört worden. Die Höhe des Streitwerts kann nicht gesondert durch Beschwerde angriffen werden (§ 197a SGG i.V.m. § 66 Abs. 3 S. 3 GKG).
Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht (§ 160 Abs. 2 SGG).


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