Medizinrecht

Kostenerstattung für die in den USA (Carlsbad) praktizierte “Project Walk”-Trainingsmethode zur Behandlung von Patienten mit Querschnittslähmung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung?

Aktenzeichen  S 29 KR 1177/14

Datum:
12.10.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 135314
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB V § 13 Abs. 3a S. 1, S. 6, § 18 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

1 Im Rahmen von § 18 Abs. 1 S. 1 SGB V muss ein erhebliches Versorgungsdefizit vorliegen, d.h. es darf überhaupt keine, also auch keine alternative Behandlungsmethode zur Verfügung stehen, die dem Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
2 Die den USA (Carlsbad) praktizierte “Project Walk”-Trainingsmethode zur Behandlung von Patienten mit Querschnittslähmung fasst eine Vielzahl von Behandlungsmaßnahmen zusammen, die in Deutschland/EU dem Grunde nach ebenfalls angeboten werden, so dass ein erhebliches Versorgungsdefizit iSv § 18 Abs. 1 S. 1 SGB V nicht vorliegt. (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)
3 § 18 SGB V ist, da eine Kostenerstattung – also Geldleistung – in Frage steht, keiner Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3a S. 6 SGB V zugänglich. (Rn. 36) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten werden der Klägerin nicht erstattet.

Gründe

II.
1. Die Klage ist zulässig, da das sachlich (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 SGG) und örtlich (§ 57 Abs. 1 SGG) zuständige Sozialgericht München angerufen, das gesetzlich vorgesehene (§ 78 SGG) Vorverfahren durchgeführt wurde und fristgerecht (§ 87 Abs. 2 SGG) Klage erhoben worden ist.
2. Die Klage ist aber unbegründet.
Eine teilweise oder vollständige Kostenübernahme für Behandlungen außerhalb des Geltungsbereichs des Vertrages zur Gründung der europäischen Gemeinschaft und des Abkommens über den europäischen Wirtschaftsraum ist im Rahmen der Kassenversorgung nur zulässig (Ermessensentscheidung), wenn eine dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Behandlung einer Krankheit nur außerhalb des Geltungsbereichs dieser Verträge möglich ist (§ 18 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Die Krankenkasse kann auch weitere Kosten für den Versicherten und für eine erforderliche Begleitperson ganz oder teilweise übernehmen (§ 18 Abs. 2 SGB V). Die USA ist EU-Ausland und es besteht kein entsprechendes bilaterales oder EU-Abkommen.
Im Rahmen von § 18 SGB V muss ein erhebliches Versorgungsdefizite vorliegen, das heißt es darf überhaupt keine, also auch keine alternative Behandlungsmethode zur Verfügung stehen, die dem Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht. Das ist der Fall, wenn das erforderliche Therapieverfahren als solches in Deutschland/EU nicht praktiziert wird oder notwendiges medizinisch-technisches Instrumentarium nicht bereitsteht (Noftz in Hauck/Noftz, § 18 SGB V Rn. 15).
Eine quantitative Versorgungslücke besteht dann, wenn die Behandlung im Inland zwar generell möglich ist, aber im konkreten Fall wegen eines spezifischen Krankheitsbildes individuell keinen Erfolg verspricht oder nicht rechtzeitig erreichbar ist (Wartezeit). Dem steht gleich, wenn die ausländische Behandlungsmethode den inländischen qualitativ eindeutig überlegen ist (Hauck, a.a.O.).
Die tatbestandlichen Voraussetzungen liegen dagegen nicht vor, wenn zwar die konkrete von den Versicherten gewünschte bzw. bevorzugte Therapie nur im Ausland möglich ist, in Deutschland aber andere gleich oder ähnlich wirksame und zumutbare Leistungsangebote zur Verfügung stehen. Dem steht gleich, wenn im Ausland lediglich andere Behandlungspektren angeboten werden ohne die Behandlungspotenz deutlich zu verbessern. Ebenso irrelevant ist eine moderne technische Ausstattung oder ein international herausragender fachlicher Ruf der Behandler (Aspekte der Spitzenmedizin sind – wie auch im Inland – nicht relevant: Hauck a.a.O., Rn. 16).
3. Eine Genehmigungsfiktion (§ 13. Abs. 3 a Satz 6 SGB V) kann vorliegend – trotz Fristversäumung der Dreiwochenfrist nach § 13 Abs. 3 ah Satz 1 SGB V: Antrag am 12. März 2014, Bescheid am 14. April 2014 ohne taggenaue Fristverlängerung (BSG, B1 KR 24/15 R, Urteil vom 8. März 2016, Juris, Rn. 20) – nicht in Betracht kommen, da im Rahmen von § 18 SGB V eine Kostenerstattung, also Geldleistung, in Frage steht, die nicht der Genehmigungsfiktion zugänglich ist (BSG, a.a.O., Rn. 11).
Die nach § 18 SGB V entscheidungserhebliche Frage, ob die Maßnahmen, die hier unter dem Begriff „projekt walk“ zusammengefasst werden, nur außerhalb Deutschland bzw. des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft bzw. des Abkommens über den europäischen Wirtschaftsraum möglich sind, musste das Gericht nach dem oben dargelegten Ergebnis der Beweisaufnahme verneinen.
Fragen bezüglich einer möglichen Außenseitermedizin oder hinsichtlich des Problembereichs der neuen Behandlungsmethoden (Letztere spielen im Bereich von § 18 SGB V sowieso keine Rolle: siehe Hauck/Noftz, § 18 SGB V, Rn. 14 C), die von der Beklagten angesprochen worden sind, können hier als nicht relevant außer Betracht bleiben.
a) Zur Einordnung der „projekt walk“-Methode hat sich dabei als Ergebnis der Beweisaufnahme ergeben, dass der Begriff „projekt walk“ eine Vielzahl von Behandlungsmaßnahmen zusammenfasst, die in Deutschland/EU dem Grunde nach ebenfalls angeboten werden. Der Gerichtssachverständige hat insbesondere die im Einsatz befindlichen Geräte im Einzelnen aufgeführt und angemerkt, dass sich in den Räumen von „projekt walk“ alle Trainingseinrichtungen dem deutschen „Konzept zur trägerübergreifenden umfassenden Behandlung und Rehabilitation querschnittsgelähmter Menschen der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation“ entsprächen. Der Behandlungsunterschied liegt nicht in der sächlichen Ausstattung sondern darin, dass mit sehr viel höherem personellem und zeitlichem Aufwand gearbeitet wird und eine unterschiedliche Herangehensweise an die Behandlung gesehen wird.
In Deutschland/EU sei primäres Ziel eine größtmögliche Wiederherstellung der Selbstständigkeit bei den Aktivitäten des täglichen Lebens und die berufliche und soziale Integration. „Projekt walk“ versuche die das Gehen erschwerenden Spastik in den Griff zu bekommen, was durch ein vielfach höheres und intensiveres Training erreicht werden soll. Insgesamt bewertet der Gerichtssachverständige „projekt walk“ definitiv als eine neue Zusammenstellung bereits bekannter, wissenschaftlich anerkannter Behandlungsformen.
Unter der Voraussetzung, dass entsprechend geeignetes Material und ausgebildetes Personal zur Verfügung stehe, lasse sich nach Auffassung des Gerichtssachverständigen eine Training wie in den USA mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch in Deutschland/EU durchführen.
Davon unberührt bleibt die hier gerichtlicherseits nicht zu entscheidende Frage, welches Konzept, nämlich das der größtmöglichen Wiederherstellung der Selbstständigkeit oder das der größtmöglichen Wiederherstellung der Körperfunktionen im Einzelfall das richtige ist oder hier sich eventuell nicht auch verbinden ließe. Im vorliegenden Fall drängt sich auf, dass die Klägerin (aus ihrer Sicht verständlich) die Behandlungsform mit der größtmöglichen mentalen Betreuung und einem verstärkt motivierende Behandlungsansatz den Vorzug gibt. Ob damit die Alltagstauglichkeit vernachlässigt wird, war vorliegend weder zu überblicken noch zu entscheiden. Jedenfalls erscheint es fraglich, ob es wirklich „die“ Therapie gibt, die alle wünschenswerten Ziele erreicht.
b) Entscheidungserheblich war jedoch nur, ob in Deutschland/EU für die Erkrankung der Klägerin nach Qualität, Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit (§ 2 Abs. 1 SGB V) ausreichende Leistungen im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung zur Verfügung stehen. Das kann nach dem oben gesagten und insbesondere nach den gutachterlichen Feststellungen nicht verneint werden. Das Krankheitsbild der Klägerin ist einmal nicht so außergewöhnlich, dass eine Behandlung im Inland individuell keinen Erfolg verspricht. Die Klägerin trägt zwar im Rechtsstreit als zentral die in den USA erzielten Erfolge vor. Es mögen auch Erfolge erzielt worden sein, dies allein kann jedoch nicht Maßstab für einen Vergleich der Behandlungen in Deutschland/EU gegenüber der USA sein, denn ein sinnvoller Vergleich mit einer im streitgegenständlichen Zeitraum erfolgten Behandlung in Deutschland/EU ist mangels Durchführung derselben nicht möglich. Dazu kommt, dass die Methode „projekt walk“ sowohl nach Aussagen der Beklagten (MDK) als auch des gerichtlichen Sachverständigen als anerkannter Stand der medizinischen Erkenntnisse derzeit noch als unsicher anzusehen ist und damit als Vergleichsbehandlungsmethode dem Grunde nach (§ 18 Abs. 1 Satz 1 SGB V) nicht in Frage kommt.
Darüber hinaus steht, was der Gerichtssachverständige eindeutig ermittelt hat, in Deutschland zweifellos auch ein vergleichbares medizinisch-technisches Instrumentarium zur Verfügung. Auch ein ähnliches Vorgehen in der Behandlung wie in den USA konnte der Sachverständige nicht ausschließen, wobei neben der im Wesentlichen unproblematischen medizinisch-technischen Ausrüstung auch die personelle Kompetenz in einem Hochbildungsland wie Deutschland kein Problem darstellt. Gleichzeitig ist eine eindeutige qualitative Überlegenheit der projekt-walk-Methode in keinster Weise ausreichend zu belegen. Notwendig wäre dazu – wie grundsätzlich im Krankenversicherungsrecht (Ausnahmen sind nur in besonderen Fällen möglich – BVerfG, Beschluss vom 6. Dezember 2005,1 BvR 347/98 Rn. 67 f) – der allgemein nachgewiesene Wirkzusammenhang und nicht nur ein individueller Wirkzusammenhang, wie er hier durch die Klägerin hauptsächlich thematisiert wurde.
c) Das Gericht kann daher zusammenfassend nicht erkennen dass die durch „projekt walk“ durchgeführten physiotherapeutischen Grundbehandlungsformen, die in Deutschland/EU weithin bekannt sind, nur in den USA durchgeführt werden können. Die meisten dort vorhandenen Geräte sind auch in Deutschland/EU Teil der physiotherapeutischen Behandlung. Dass diesbezüglich eine ärztliche Therapieerstellung mit notwendigem Trainingsumfang und ärztlicher Begleitung auch in Deutschland/EU möglich sind, liegt dabei auf der Hand.
Subtrahiert man von der nicht dem allgemeinen medizinischen Erkenntnisstand zuzuordnende (siehe oben) besondere „Grundidee“ des „projekt walk“, verbleibt als Unterschiedsmerkmal lediglich die besondere mentale Betreuung bzw. Motivation in den USA. Allein diese kann die streitgegenständliche US-Behandlungsform nicht im Sinne von § 18 Abs. 1 SGB V zu einem gesetzlich relevanten Unikat machen. Entscheidendes Tatbestandsmerkmal des § 18 Abs. 1 SGB V ist aber gerade, dass „nur“ in den USA diese Methode durchgeführt werden kann. Es liegt aber auf der Hand, dass Motivation und mentale Betreuung indirekt keine krankenversicherungsrechtlichen Leistungsinhalte betreffen, ansonsten aber auch in Deutschland etwa in Form einer psychotherapeutischen Begleitung ohne weiteres möglich sind.
4. Die Klage war daher mit der Kostenfolge aus § 193 SGG abzuweisen.


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