Medizinrecht

Krankengeldrecht

Aktenzeichen  S 29 KR 1427/15

Datum:
23.6.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 129024
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB V § 5 Abs. 1 Nr. 1, § 44 Abs. 1

 

Leitsatz

Zur Übertragbarkeit der “neuen” Rechtslage zum Krankengeldrecht (Novellierung zum 23. Juli 2015 unter Einschluss der Wochenendproblematik) auf Altfälle im Wege einer verfassungskonformen Auslegung. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid vom 26. März 2015 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 7. Oktober 2015 wird aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, dem Kläger dem Grunde nach Krankengeld in gesetzlicher Höhe über den 23. März 2015 hinaus bis zum 23. Mai 2015 zu gewähren. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten werden dem Kläger erstattet.

Gründe

1. Die Klage ist zulässig, da das sachlich (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 SGG) und örtlich (§ 57 Abs. 1 SGG) zuständige Sozialgericht München angerufen, das gesetzlich vorgesehene (§ 78 SGG) Vorverfahren durchgeführt wurde und fristgerecht (§ 87 Abs. 2 SGG) Klage erhoben worden ist.
Vorliegend konnte das Gericht einen Gerichtsbescheid erlassen, da gemäß § 105 Absatz 1 Satz 1 SGG die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufwies und der Sachverhalt geklärt war. Die Beteiligten wurden ordnungsgemäß gehört, bzw. haben sich vorab mit einem Gerichtsbescheid einverstanden erklärt.
2. Die Klage ist auch begründet:
Vorliegend hat die beklagte Krankenkasse in den streitgegenständlichen Bescheiden über das Krankengeld des Klägers entschieden. Sie hat damit die Auffassung der Berufsgenossenschaft in Ihrem Schreiben vom 8. April 2015 (Blatt 48 Beklagten Akte) übernommen, wonach eine unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit nur bis einschließlich 23. März 2015 bestand. Ob damit ein möglicher Erstattungsstreitpunkt zwischen Krankenkasse und Berufsgenossenschaft geklärt ist, kann vorliegend dahinstehen, da nur über den konkreten Streitgegenstand (Krankengeld) zu entscheiden war.
Nebenbei bemerkt liegen auch die Voraussetzungen des § 14 Abs. 2 Satz 1 SGB IX vor. Die Beklagte ist im Sinne dieser Vorschrift bei der Zahlung von Krankengeld Rehabilitationsträger (vgl. § 6, Abs. 1, Nr. 1; § 5 Nr. 3; § 45 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX). Da die Weitergabefrist des § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IX hier unzweifelhaft überschritten wurde, wäre sogar eine zuständigkeitsfremde Entscheidung der Beklagten über Verletztengeld (die hier indes nicht erfolgt ist!) zulässig gewesen.
Versicherte haben Anspruch auf Krankengeld, wenn die Krankheit sie arbeitsunfähig macht oder sie auf Kosten der Krankenkasse stationär in einem Krankenhaus, einer Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtung behandelt werden (§ 44 Abs. 1 SGB V).
Eine Arbeitsunfähigkeit, für die eine gesetzliche Umschreibung fehlt (Beck’scher Online-Kommentar, § 44 SGB V, Rn. 22) liegt nach allgemeiner Ansicht ausgehend vom medizinischen Krankheitsbegriff vor, wenn der Betroffene überhaupt nicht oder nur auf die Gefahr, seinen Zustand zu verschlimmern, fähig ist, seine bisher ausgeübten Erwerbstätigkeit oder einer ähnlichen (gleich gearteten) Tätigkeit nachzugehen (Erfurter Kommentar, § 44 SGB V, Rn. 7; Beck’scher Online-Kommentar, § 44 SGB V, Rn. 22; Kassler-Kommentar, § 44 SGB V, Rn. 10 alle jeweils m.w.N.).
Gesetzliche Krankenversicherungen mit Krankengeldschutz sind dabei unter anderem solche aus einem Beschäftigungsverhältnis (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V). Die Mitgliedschaft in dieser Versicherung bleibt auch bei Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses erhalten, solange der Anspruch auf Krankengeld besteht (§ 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB V). Genauso verhält es sich beim Verletztengeld. Hier tritt die Fiktionswirkung des § 192 SGB V allerdings nur ein, wenn von einem Rehabilitationsträger während einer Leistung zur medizinischen Rehabilitation (§ 26 SGB IX; § 40 SGB V) Verletztengeld gezahlt wird (§ 192 Abs. 1 Nr. 3 SGB V; denn Teilnehmer an Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sowie an Abklärung der beruflichen Eignung oder Arbeitserprobung unterliegen einer eigenen Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 6 SGB V, die allerdings keinen Krankengeldschutz beinhaltet, § 44 Abs. 2 Nr. 1 SGB V). Die medizinische Rehabilitation endete jedoch jedenfalls am 23 März 2015 Den möglichen Krankengeldschutz konnte der Kläger daher nur dann weiterhin über § 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB V beanspruchen, wenn für den 24. März 2015 ein Krankengeldanspruch bestand.
Der Anspruch auf Krankengeld entsteht bei Krankenhausbehandlung oder Behandlung in einer Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtung von ihrem Beginn an (§ 46 S. 1 Nr. 1 SGB V) und im Übrigen nach der vor dem 23. Juli 2015 geltenden Altfassung des Gesetzes von dem Tag an, der auf den Tag der ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit folgt (§ 46 S. 1 Nr. 2 SGB V a.F.).
Dies hängt davon ab, ob infolge der ärztlichen Folge-AU-Bescheinigung erst am 24. März 2015 für diesen Tag infolge der Vakanztagsregelung nach dem Gesetzeswortlautes des § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB a. F. eine (die Krankenkassen-Mitgliedschaft mit Krankengeldbezug vernichtende) Krankengeldanspruchslücke vorlag.
Brisanz erhält diese Frage hier zusätzlich dadurch, dass im Bereich des bis zum 23. März 2015 gezahlten Verletztengeldes jedenfalls schon seit 1996 der Verletztengeld-Anspruch mit dem Tag beginnt, ab dem die Arbeitsunfähigkeit ärztlich festgestellt worden ist. Dies gilt im Krankengeldrecht erst seit dem 23. Juli 2015 (§ 46 SGB V n. F.).
Nach dem bis zum 22. Juli 2015 geltenden Altrecht (§ 46 a. F. SGB V) hätte daher die AU-Bescheinigung vom 24. März 2015 im Zusammenspiel mit der Karenztagsregelung des § 46 Satz 1 Nr. 2 a.F. SGB V einen Krankengeldanspruch erst wieder ab 25. März 2015 auslösen können und damit einen anspruchsfreien Tage (nämlich dem 24 März 2015) geriert. Diese Anspruchslücke hätte nach § 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB V den Versicherungsschutz mit Krankengeldanspruch aus der KVdB vernichtet.
Diese gesetzliche Alt-Regelung ist zwar durch richterliche Auslegung schon bisher nicht ohne Ausnahmen geblieben. Die bisherigen indizierten Ausnahmegründe, die es rechtfertigen würden, die rechtliche Lücke dahingehend zu schließen, dass auch für den 24. März 2015 und darüber hinaus der Krankengeldschutz durchgehend wirksam erhalten bleibt, liegen hier jedoch nicht in ausreichenden Maße vor. Die diesbezüglich angenommenen wesentlichen Gründe, nämlich Geschäfts- bzw. Handlungsunfähigkeit, sind vorliegend nicht erkennbar.
Unabhängig davon hat das erkennende Gericht aber bereits vor der Gesetzesnovellierung zum 23. Juli 2015 bei seiner Prüfung der Altregelung beachtet, dass durch gesetzliche Regelungen, die das öffentlich-rechtliche Sozialversicherungsverhältnis betreffen und hier insbesondere die nähere Ausgestaltung der Beiträge und Leistungen betrifft, Art. 2 Abs. 1 GG berührt sein kann (BVerfG, B.v.06.12.2005, 1 BvR 347/98, Juris Rdnr. 51).
Der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG ist dabei dann berührt, wenn durch die Anordnung von Zwangsmitgliedschaft und Beitragspflicht die allgemeine Betätigungsfreiheit des Einzelnen durch Einschränkung der wirtschaftlichen Voraussetzungen derselben nicht unerheblich eingeengt wird. Das liegt u.a. vor, wenn gesetzlich zugesagte und beitragsfinanzierte Leistungen wesentlich gemindert werden (BVerfG, aaO).
Eine gravierende Minderung der durch Beitragszahlungen erlangten Krankengeldzahlungen im hier streitgegenständlichen Zusammenspiel von § 192 und § 46 a.F. SGB V berührt den Schutzbereich des Grundrechts. Durch gesetzliche oder auf Gesetz beruhende Leistungsausschlüsse bzw. Leistungsbegrenzungen sind daher daraufhin zu überprüfen, ob sie im Rahmen des Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz gerechtfertigt sind (BVerfG, aaO, Rn. 52) – was das erkennende Gericht schon bisher verneint hat und die Vorschrift weitgehend im Sinne der (späteren) gesetzlichen Neuregelung verfassungskonform ausgelegt hat.
Der Gesetzgeber hat mit seiner Novellierung zum 23. Juli 2015 die bisher zugrunde gelegte Gesamtkonzeption des § 46 a. F. SGB V /§ 192 SGB V unter Einschluss der Wochenendproblematik verworfen. Damit hat er deutlich gemacht, dass die tragende Altargumentation, wonach der Vakanztag der Vermeidung praktischer Schwierigkeiten bei der (rückwirkenden) Feststellung der Arbeitsunfähigkeit durch die Krankenkasse sowie der Missbrauchsabwehr dient (BSG, Urteil vom 10. Mai 2012, B 1 KR 20/11, Juris, Rn. 15) nicht für tragfähig gehalten wird. Wenn es für die Neuregelung nicht relevant ist, kann es allerdings auch für die Altregelung nicht als relevant angesehen werden. Das erkennende Gericht sieht daher in der Neufassung eine – nachgeholte – verfassungskonforme gesetzliche Regelung, die auch vor der Novellierung bereits verfassungsrechtlich geboten gewesen wäre und daher für Altfälle als verfassungskonforme Auslegung zwingend ebenfalls heranzuziehen ist.
3. Das Gericht hatte daher zu prüfen, ob die Voraussetzungen der Neuregelung für den hier vorliegenden Altfall erfüllt sind.
Das ist hinsichtlich der Voraussetzungen des § 46 Satz 2 n. F. SGB V, wonach die Folge-AU-Bescheinigung am nächsten Werktag nach dem zuletzt bescheinigten Ende der Arbeitsunfähigkeit (hier: am Vortag) erfolgt sein muss, offensichtlich erfüllt. Der 24. März 2015 war der nächste Werktag nach dem 23. März 2015. Weitere leistungseinschränkenden Regelungen enthält § 46 SGB V diesbezüglich nicht.
Der Klage war somit dem Grunde nach bis zum Ablauf der letzten ärztlichen Au-Bescheinigung der Gemeinschaftspraxis G-Stadt am 23. Mai 2015 stattzugeben.
Die Kostenentscheidung ergibt Sie aus § 193 SGG. Da der Kläger im Wesentlichen obsiegt hat, waren der Beklagten die außergerichtlichen Kosten in voller Höhe aufzuerlegen.


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