Medizinrecht

Krankenversicherung: Lückenlose Feststellung der Arbeitsunfähigkeit

Aktenzeichen  L 4 KR 14/20

Datum:
19.11.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 33231
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB V § 46 S. 2, S. 3, § 192 Abs. 1 Nr. 2

 

Leitsatz

1. Die terminliche Planung in der Organisation der Praxis liegt zwar in der Sphäre des Vertragsarztes, jedoch ist bei der Terminabsprache eine Einigung auf einen passenden Termin auf beiden Seiten – Arztpraxis und Patient – notwendig. (Rn. 42)
2. Das Risiko, bei einem bestimmten Vertragsarzt nicht umgehend einen gewünschten Termin zu erhalten, liegt im Risikobereich des Patienten. Von dem Versicherten kann verlangt werden, sich entweder rechtzeitig um einen Arzttermin zu bemühen oder gegebenenfalls einen anderen Arzt oder ein MVZ aufzusuchen. Allein durch einen Anruf in der Praxis am zuletzt möglichen Tag hat der Versicherte nicht alles in seiner Macht Stehende und ihm Zumutbare getan. (Rn. 42)
3. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der vom Bundessozialgericht mit Urteil vom 26.03.2020 aufgestellten und mit Urteilen vom 29.10.2020 bekräftigten Rechtsprechung. (Rn. 36 – 41)
4. § 46 S. 3 SGB V n.F. entfaltet keine Rückwirkung. (Rn. 31)

Verfahrensgang

S 4 KR 347/18 2019-12-06 Urt SGLANDSHUT SG Landshut

Tenor

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 6. Dezember 2019 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die form- und fristgerecht (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG) eingelegte Berufung der Klägerin ist zulässig, jedoch unbegründet.
Aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten vom 20. bzw. 27.10.2020 konnte der Senat ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 SGG entscheiden.
Zutreffend hat das Sozialgericht unter Bezugnahme auf den streitgegenständlichen Widerspruchsbescheid ausgeführt, dass es vorliegend an einer lückenlosen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit im Sinne von § 46 Satz 1 Nr. 2 des Fünften Buchs Sozialgesetzbuch (SGB V) fehlt. Die Beschäftigung der Klägerin und damit auch die Pflichtmitgliedschaft bei der Beklagten gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V endete am 08.06.2018. Im Anschluss blieb die Mitgliedschaft mit Anspruch auf Krankengeld gemäß § 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB V nur erhalten, solange die Klägerin Anspruch auf Krankengeld hatte. Nach § 46 S. 2 SGB V bleibt der Anspruch auf Krankengeld jeweils bis zu dem Tag bestehen, an dem die weitere Arbeitsunfähigkeit wegen derselben Krankheit ärztlich festgestellt wird, wenn diese ärztliche Feststellung spätestens am nächsten Werktag nach dem zuletzt bescheinigten Ende der Arbeitsunfähigkeit erfolgt, wobei Samstage insoweit nicht als Werktage gelten.
Bei der Klägerin lag eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, ausgestellt durch den behandelnden Arzt Sch., bis 17.06.2018 (Sonntag) vor. Damit hätte spätestens am 18.06.2018 (Montag) eine Folgebescheinigung ausgestellt werden müssen, um den Anspruch auf Krankengeld zu erhalten. Dies geschah jedoch unstreitig erst am Freitag, den 22.06.2018.
Der mit Gesetz vom 06.05.2019 (BGBl I S. 646) eingefügte Satz 3 des § 46 SGB V ist erst zum 11.05.2019 in Kraft getreten. Eine rückwirkende Anwendung ist nicht vorgesehen und kommt nicht in Betracht.
Das Sozialgericht hat sich in seinen Entscheidungsgründen insbesondere auch mit der Fortentwicklung der durch die Rechtsprechung entwickelten Ausnahmen zu § 46 S. 2 SGB V durch das Urteil des BSG vom 11.05.2017 (BSG, a.a.O.) befasst. Unter der Voraussetzung, dass keine Zweifel an der ärztlich festgestellten Arbeitsunfähigkeit im maßgeblichen Zeitraum vorliegen und keinerlei Anhaltspunkte für einen Leistungsmissbrauch ersichtlich sind, hat danach der Versicherte Anspruch auf Krankengeld, wenn er
1. alles in seiner Macht Stehende und ihm Zumutbare getan hat, um seine Ansprüche zu wahren, indem er einen zur Diagnostik und Behandlung befugten Arzt persönlich aufgesucht und ihm seine Beschwerden geschildert hat, um a) die ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung des Anspruchs auf Krankengeld zu erreichen, und b) dies rechtzeitig innerhalb der anspruchsbegründenden bzw. anspruchserhaltenden zeitlichen Grenzen für den Krankengeldanspruch erfolgt ist,
2. der Versicherte an der Wahrung der Ansprüche durch eine (auch nichtmedizinische) Fehlentscheidung des Vertragsarztes gehindert wurde (wie durch eine irrtümlich nicht zeitgerecht erstellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung),
3. und der Versicherte zusätzlich seine Rechte bei der Krankenkasse unverzüglich, spätestens innerhalb der zeitlichen Grenzen des § 49 Abs. 1 Nr.5 SGB V nach Erlangung der Kenntnis von dem Fehler geltend macht.
Damit wurden die bisher schon in der Rechtsprechung des BSG anerkannten engen Ausnahmefälle, in denen die ärztliche Feststellung oder die Meldung der Arbeitsunfähigkeit durch Umstände verhindert oder verzögert worden ist, die dem Verantwortungsbereich der Krankenkassen und nicht dem Versicherten zuzurechnen sind, erweitert (vgl. BSG, a.a.O.).
Allgemein wurde hieraus abgeleitet, dass ein Arztkontakt stattgefunden haben muss. Dieser erfolgte vorliegend durch die Klägerin spätestens am 18.06.2018 nicht, vielmehr fand an diesem Tag nur ein telefonischer Kontakt mit der Arzthelferin bzw. Sprechstundenhilfe statt. Der am 22.06.2018 erfolgte Arzt-Patienten-Kontakt war damit nach den in dem Urteil aufgestellten Kriterien verspätet.
Mit Urteilen vom 26.03.2020 (Az.: B 3 KR 9/19 R und B 3 KR 10/19 R) hat das BSG seine Rechtsprechung weiter „fortentwickelt“. Danach steht einem rechtzeitig erfolgten Arzt-Patienten-Kontakt gleich, wenn der Versicherte alles in seiner Macht Stehende und ihm Zumutbare getan hat und rechtzeitig innerhalb der anspruchsbegründenden bzw. anspruchserhaltenden zeitlichen Grenzen versucht hat, eine ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung des Anspruchs auf Krankengeld zu erhalten, es dazu aber aus dem Arzt und der Krankenkasse zurechenbaren Gründen erst verspätet gekommen ist. Dies ist nach dieser Rechtsprechung in Fällen anzunehmen, in denen die Gründe für das nicht rechtzeitige Zustandekommen in der Sphäre des Vertragsarztes und nicht in derjenigen des Versicherten liegen. Dies sei bei einer auf Wunsch des Arztes bzw. seines Praxispersonals erfolgten Verschiebung des vereinbarten rechtzeitigen Termins zu bejahen, wenn dies in der (naheliegenden) Vorstellung erfolgt sei, ein späterer Termin sei für den Versicherten unschädlich. Hierfür spreche, dass die Mitwirkungspflichten des Versicherten auf das in seiner Macht Stehende und ihm Zumutbare beschränkt seien und ein „Arzt-Hopping“ grundsätzlich nicht verlangt werden könne und generalpräventiven Erwägungen der Missbrauchsabwehr vor allem in Fällen, in denen die weitere Arbeitsunfähigkeit zweifelsfrei feststehe, kein solches Gewicht zukomme, dass sie diese Schutzaspekte überlagern und verdrängen könnten. In diesem Sinne dürften sich Krankenkassen nicht darauf berufen, dass ein Arzt-Patienten-Kontakt nicht rechtzeitig zustande gekommen sei, wenn dies auf Gründen beruht, die in der Sphäre des Vertragsarztes (und nicht des Versicherten) liegen, und die auch den Krankenkassen zuzurechnen sind.
Vorliegend hat die Beklagte zu Recht darauf hingewiesen, dass der zugrunde liegende Sachverhalt nicht identisch mit dem des BSG mit Urteilen vom 26.03.2020 entschiedenen ist. Dort hatte der Versicherte sich bereits einen Termin gesichert gehabt, der zur lückenlosen Fortsetzung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung geführt hätte. Dieser wurde von der Arztpraxis verlegt aus Gründen, die aus der Sphäre des Vertragsarztes kamen.
Hier jedoch hat sich die Klägerin erstmalig am ersten Werktag nach dem Ende der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit, also am 18.06.2018, um einen Arzttermin bemüht. Ein Arztkontakt erfolgte erst am 22.06.2018; besondere Gründe sind hierfür nicht ersichtlich oder vorgetragen, insbesondere lag keine Handlungs- oder Geschäftsunfähigkeit der Klägerin vor.
Grundsätzlich hätte sich die Klägerin also auch schon früher um einen Arzttermin kümmern können und müssen. Insoweit hat die Klägerin tatsächlich nicht alles in ihrer Macht Stehende und ihr Zumutbare getan, um eine Folgearbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erlangen. Anders als in den vom BSG am 26.03.2020 entschiedenen Fällen ist vorliegend nicht ersichtlich, dass der nicht rechtzeitige Arzt-Patienten-Kontakt hier auf Gründen beruht, die in der Sphäre des Vertragsarztes und nicht in der der Versicherten liegt und daher der Beklagten zuzurechnen ist. Es ist nämlich allgemein nicht unwahrscheinlich, ohne jeglichen Vorlauf nicht sofort für denselben Tag einen Termin für eine Vorsprache beim Arzt zu erhalten.
Für die Klägerin spricht lediglich, dass grundsätzlich ein „Arzt-Hopping“ nicht verlangt werden kann. Dies gilt vorliegend gerade auch vor dem Hintergrund, dass die Klägerin nach dem Arbeitsunfall vom 11.05.2018 stets von dem Chirurgen Sch. in seiner Praxis im Krankenhaus W. behandelt wurde.
Dennoch kommen bei der hier gegebenen Fallkonstellation die Gesichtspunkte, die das BSG in den Urteilen vom 26.03.2020 zugunsten der Versicherten aufstellte, nicht zum Zuge.
Gemäß den vorliegenden Pressemitteilungen des BSG hat das Gericht mit Urteilen vom 29.10.2020 (B 3 KR 5/20 R; B 3 KR 6/20 R) an dieser Rechtsprechung vom 26.03.2020 ausdrücklich festgehalten und festgestellt, dass die zu entscheidenden Fälle an dieser Rechtsprechung im Sinne der Konkretisierung der Ausnahmen zu dem Erfordernis einer lückenlosen ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsfeststellung zu messen sind. Es verbleibt also bei dem dort aufgestellten Grundsatz, dass der Versicherte alles in seiner Macht Stehende und ihm Zumutbare getan haben muss, um eine rechtzeitige ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit zu erhalten, und es zum persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt aus dem Vertragsarzt und der Krankenkasse zurechenbaren Gründen erst verspätet, aber nach Wegfall dieser Gründe gekommen ist.
Wie dargelegt war der Klägerin bekannt, dass ihr behandelnder Arzt in die Notfallversorgung des Krankenhauses eingebunden war. Dennoch bemühte sie sich erstmals am ersten Werktag nach dem Ende der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit am 18.06.2018 um einen Termin zur ärztlichen Feststellung der weiteren Arbeitsunfähigkeit. Dies geschah lediglich durch einen Anruf in der Praxis; sie hat die Praxis bzw. das MVZ im Krankenhaus W. nicht aufgesucht. Dass die Arztpraxis aufgrund der Auslastung in der Praxis und dem Krankenhaus erst einen Termin am 22.06.2018 anbieten konnte, stellt keinen Grund im Sinne der vom BSG konkretisierten Ausnahmen vom Erfordernis einer lückenlosen ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsfeststellung dar. Es handelt sich nämlich nicht um einen Grund, der dem Vertragsarzt und der Krankenkasse zuzurechnen ist. Dabei liegt die terminliche Planung in der Organisation der Praxis zwar in der Sphäre des Vertragsarztes, jedoch ist bei der Terminabsprache eine Einigung auf einen passenden Termin auf beiden Seiten – Arztpraxis und Patient – notwendig. Vor diesem Hintergrund hat es die Klägerin im Hinblick auf das Gebot, alles in ihrer Macht Stehende und ihr Zumutbare zu tun, unterlassen, sich rechtzeitig um einen Arzttermin zu kümmern. Hier liegt gerade der wesentliche Unterschied zu dem vom BSG am 26.03.2020 entschiedenen Verfahren. Das Risiko, bei einem bestimmten Vertragsarzt nicht umgehend einen gewünschten Termin zu erhalten, liegt im Risikobereich des Patienten bzw. der Klägerin, zumal, wie dargelegt, hier eine besondere Praxissituation im Krankenhaus gegeben war. Von der Klägerin hätte daher verlangt werden können, sich entweder rechtzeitig um einen Arzttermin zu bemühen oder das MVZ im Krankenhaus W., in dem also auch mindestens ein weiterer Arzt/eine weitere Ärztin tätig ist, oder gegebenenfalls einen anderen Arzt aufzusuchen.
Vorliegend hat die Klägerin somit nicht alles in ihrer Macht Stehende und ihr Zumutbare getan, um eine Folgebescheinigung für das Vorliegen von Arbeitsunfähigkeit am 18.06.2018 zu erhalten.
Die Berufung war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), liegen nicht vor. Insbesondere schließt sich der Senat der aktuellen Rechtsprechung des BSG gemäß den genannten Entscheidungen an.


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