Medizinrecht

Medizinisch-psychologisches Gutachten, Trunkenheitsfahrt, Einstweilige Anordnung, Blutalkoholkonzentrations-Wert, Verwaltungsgerichte, Streitwertfestsetzung, Alkoholmißbrauch, Fahrerlaubniserteilung, Neuerteilung der Fahrerlaubnis, Erteilung der Fahrerlaubnis, Vorläufiger Entzug der Fahrerlaubnis, Fahrerlaubnisbehörde, Fahrerlaubnisentziehung, Fahrerlaubnis-Verordnung, Verwaltungsgerichtsverfahren, Ausfallerscheinungen, Antragsgegner, Antragstellers, Medizinisch-psychologische Untersuchung, Wiedererteilung

Aktenzeichen  B 1 E 20.991

Datum:
28.10.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 43510
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
FeV § 13 S. 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 2

 

Leitsatz

Tenor

1. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache verpflichtet, dem Antragsteller entsprechend seinem Antrag vom 18. Juni 2020 eine Fahrerlaubnis der Klassen A, A1, AM, B, BE und L nach Ablauf der Sperrfrist ohne vorherige Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens zu erteilen.
2. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Der Streitwert wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt die Neuerteilung der Fahrerlaubnis für die Klassen A, A1, AM, B, BE und L durch das Landratsamt … (Landratsamt).
Der Antragsteller verursachte am 5. November 2019 mit seinem Pkw einen Unfall unter Alkoholeinfluss (Blutalkoholkonzentration 1,21 ‰). Durch Urteil des Amtsgerichts … wurde der Antragsteller wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 50 EUR verurteilt. Die Fahrerlaubnis wurde entzogen und eine isolierte Sperrfrist von 8 Monaten (rechtskräftig seit dem 17. März 2020) verhängt. Zugunsten des Antragstellers wurde berücksichtigt, dass der Führerschein bereits seit dem 5. November 2019 sichergestellt ist, der Antragsteller ein Aufbauseminar für alkoholauffällige Verkehrsteilnehmer besucht hat und seine Alkoholabstinenz in den letzten drei Monaten nachgewiesen hat.
Im polizeilichen Antrag auf vorläufigen Entzug der Fahrerlaubnis (§ 111a StPO) ist angegeben: Alkoholgeruch, Alkoholtest 0,59 mg/l, unsicherer Gang, undeutliche Sprache, sonstige Ausfallerscheinungen (Sachverhalt). Im Sachverhalt wurde geschildert, dass der Antragsteller ein links abbiegendes Fahrzeug übersehen habe und auf dieses aufgefahren sei.
Im ärztlichen Untersuchungsbefund ist angegeben: Gang: etwas breitbeinig, sicher, Finger-Finger-Prüfung: sicher, Finger-Nasen-Prüfung sicher, Zeitempfindungstest: 23 Sekunden empfunden als 30 Sekunden, Sprache: deutlich, Pupillen: unauffällig, Pupillenlichtreaktion: prompt, Bewusstsein: klar, Denkablauf: geordnet, Verhalten: beherrscht, Stimmung: genervt, äußerlicher Anschein von Alkohol leicht bemerkbar. Gesamteindruck: leicht verlangsamt, genervt, Alkoholfahne.
Auf den Antrag des Antragstellers auf Neuerteilung der Fahrerlaubnis hin (vom 18. Juni 2020) forderte das Landratsamt diesen mit Schreiben vom 14. Juli 2020 auf, ein medizinisch-psychologisches Gutachten einer Begutachtungsstelle für Fahreignung über seine Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen auf der Grundlage von § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alternative 2 FeV beizubringen. Es hätten trotz des hohen Promillewertes keine alkoholtypischen Ausfallerscheinungen, die auf einen hohen erreichten Alkoholwert schließen ließen, festgestellt werden können. Abgestellt wurde auf den ärztlichen Untersuchungsbefund. Im Hinblick auf das Abbauverhalten sei zum Tatzeitpunkt von einer Blutalkoholkonzentration von 1,36 Promille auszugehen. Es sei von einer Alkoholgewöhnung auszugehen, da ein Kraftfahrzeug mit einer Alkoholkonzentration von über 1,1, Promille gefahren worden sei.
Der Antragsteller ließ durch Schreiben seines Bevollmächtigten mitteilen, dass bei einer einmaligen Trunkenheitsfahrt eine medizinisch-psychologische Untersuchung erst ab einer Blutalkoholkonzentration von 1,6 Promille anzuordnen sei (§ 13 Satz 1 Nr. 2 c FeV). Er legte zudem forensisch toxikologische Befunde über eine Haarprobe vor (vom 5. Juni 2020 und vom 24. Februar 2020).
Mit Bescheid vom 23. September 2020 (zugestellt am 25. September 2020) lehnte das Landratsamt den Antrag des Antragstellers auf Neuerteilung der Fahrerlaubnis ab. Die Polizei habe zwar einen unsicheren Gang und eine undeutliche Sprache, sonst aber keine alkoholtypischen Ausfallerscheinungen festgestellt. Die ärztlichen Untersuchungsbefunde zeigten ebenfalls unauffällige Ergebnisse. Der Antragsteller habe einen sicheren Gang, sichere Werte bei den Fingerprüfungen und eine deutliche Sprache gezeigt. Der Denkablauf sei geordnet gewesen und er habe sich nur in Verhalten und Stimmung etwas auffällig gezeigt, indem er genervt reagiert habe. Der äußere Anschein von Alkohol sei nur leicht bemerkbar gewesen. Da zwischen der Blutabnahme und dem verursachten Unfall eine Stunde Zeit verstrichen gewesen sei, müsse davon ausgegangen werden, dass die Blutalkoholkonzentration zum Unfallzeitpunkt höher gewesen sei. Der Antragsteller habe mit Schreiben vom 15. September 2020 mitgeteilt, dass er kein Gutachten vorlegen werde. Rechtsgrundlage der Ablehnung der Neuerteilung seien § 2 Abs. 2 Nr. 3, Abs. 4 und 8 StVG i.V.m. § 20 Abs. 1, § 22 Abs. 2 Satz 5, § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a FeV. Beim Antragsteller lägen sonstige Tatsachen vor, die die Annahme von Alkoholmissbrauch begründen würden. Dies sei deshalb anzunehmen, da beim Antragsteller nur leichte Anzeichen von Alkohol (nach dem Polizeibericht und der ärztlichen Untersuchung) festgestellt worden seien. Man könne davon ausgehen, dass zum Zeitpunkt der Tatbegehung der Alkoholwert bei 1,36 ‰ gelegen habe. Werde im Straßenverkehr auch bei nur einmalig nachgewiesener Trunkenheitsfahrt ein Blutalkoholkonzentrationswert von 1,21 ‰ festgestellt, so läge der Verdacht auf missbräuchlichen Umgang mit Alkohol nahe, da dies auf eine hohe Trinkfestigkeit schließen lasse. Da der Antragsteller ein Fahrzeug mit einer Alkoholkonzentration von über 1,1 ‰ geführt habe und keine Ausfallerscheinungen gezeigt habe, sei von einer Alkoholgewöhnung auszugehen. Ein Alkoholmissbrauch liege vor, wenn zwischen einem die Fahrsicherheit beeinträchtigenden Alkoholkonsum und dem Fahren nicht sicher getrennt werden könne. Dies könne der Fall sein, wenn der Betroffene jeden Abend große Mengen Alkohol trinke und jeden Morgen zur Berufsausübung ein Kraftfahrzeug fahren müsse oder nahezu täglich Autofahrten erfolgten. In diesem Fällen sei ein Dauerkonflikt anzunehmen, bei dem ein Verstoß gegen das Trennungsverbot unausweichlich erscheinen müsse (BVerwG, U. v. 6.4.2017 – 3 C 24/15 – juris und VG Bayreuth, U.v. 29.1.2019 – B 1 K 18.692). Der Antragsteller sei auf Grund der schlechten Verkehrsanbindung seines Wohnortes täglich auf sein Auto angewiesen. Es könne ein Dauerkonflikt zwischen Trinken und Fahren entstehen. Die vom Antragsteller behauptete Alkoholabstinenz reiche für die Wiederherstellung der Kraftfahreignung nicht aus, da zudem erforderlich sei, dass die Verhaltensänderung stabil sei. Durch die Nichtvorlage des Gutachtens sei von der Nichteignung des Antragstellers nach § 11 Abs. 8 FeV auszugehen.
Der Antragsteller ließ durch Schreiben seines Bevollmächtigten vom 1. Oktober 2020, eingegangen beim Verwaltungsgericht Bayreuth am 5. Oktober 2020, Verpflichtungsklage auf Neuerteilung der beantragten Fahrerlaubnis erheben und zugleich beantragen,
dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO aufzugeben, dem Antragsteller die mit Antrag vom 18.06.2020 beantragte Fahrerlaubnis der Klassen A, A1, AM, B, BE und L zumindest vorläufig am 18. November 2020 neu zu erteilen.
Zur Begründung der Klage wird ausgeführt, dass der Antragsteller nicht zur Beibringung eines Gutachtens habe aufgefordert werden dürfen. Die Polizei habe den Antragsteller als sehr stark alkoholbeeinflusste Person beschrieben (Alkoholgeruch, unsicherer Gang sowie undeutliche Sprache). Wenn der Antragsteller bei der medizinischen Untersuchung gefasst gewirkt haben sollte, so sei dies ein häufig zu beobachtendes Phänomen, welches der Adrenalinausschüttung geschuldet sei und der besonderen Konzentrationsanstrengungen der betroffenen Personen, die im Rahmen eines ersten Arztkontaktes kurz nach einem Vorfall einen bestmöglichen Eindruck hinterlassen wollen. Die Behörde habe außer Acht gelassen, dass es zu einem alkoholbedingten Unfall gekommen sei, was beweise, dass der Antragsteller nicht alkoholgewöhnt sei, da er den Unfall ansonsten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert hätte. Der Antragsteller habe ein links blinkendes, abbiegendes Fahrzeug übersehen, sodass sich die größte denkbare alkoholtypische Ausfallerscheinung realisiert habe. Würde man § 13 Satz 1 Nr. 2 a Alt. 2 FeV im Sinne des Antragsgegners definieren, so würde dies eine Umgehung der Tatbestandsalternativen b und c bedeuten, was sich gerade aus der Rechtsprechung des BVerwG (U.v. 6.4.2017 – 3 C 24.15 und 3 C 13.16) ergebe. Der Antragsteller habe zudem Haaranalysen vorgelegt, die bewiesen, dass er über einen längeren Zeitraum keinen Alkohol konsumiert habe (Befundberichte des Labors S. vom 5. Juni 2020 und vom 24. Februar 2020).
Zur Begründung des Antrags nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO wird ausgeführt, dass dem Antragsteller ein Nachteil entstünde, wenn er auf eine endgültige rechtskräftige Entscheidung in der Hauptsache warten müsste. Der Antragsteller lebe abgeschieden in der Fränkischen Schweiz und sei auf seine Fahrerlaubnis zur Erreichung seines Arbeitsplatzes angewiesen.
Mit Schreiben vom 12. Oktober 2020 beantragte das Landratsamt,
den Antrag abzulehnen.
Auf Grund des hohen BAK-Wertes müsse auf eine erhöhte Trinkfestigkeit geschlossen werden (BayVGH, B.v. 8.10.2014 – 11 CE 14.1776). Hierdurch liege ein Verdacht auf einen längerfristigen missbräuchlichen Umgang mit Alkohol nahe. Es sei keine Erklärung abgegeben worden, dass es sich um einen einmaligen Vorfall gehandelt habe. Ein Anordnungsgrund sei nicht vorgetragen worden. Es sei nicht dargelegt worden, welchen Beruf der Antragsteller ausübe, wo seine Arbeitsstelle liege und wie er das Problem bis zum Ablauf der Sperrfrist gelöst habe.
II.
Nach § 123 Abs. 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte, oder auch wenn es zur Regelung nötig erscheint, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile für den Antragsteller abzuwenden. Nach § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO sind dabei sowohl ein Anordnungsanspruch, d.h. der materielle Anspruch, für den der Antragsteller vorläufigen Rechtsschutz sucht, als auch ein Anordnungsgrund, der insbesondere durch die Eilbedürftigkeit einer vorläufigen Regelung begründet wird, gemäß § 920 Abs. 2 i.V.m. § 294 Abs. 1 ZPO glaubhaft zu machen. Nach dem Wesen und Zweck des vorläufigen Rechtsschutzes darf das Gericht nur vorläufige Regelungen treffen und dem Antragsteller dabei nicht schon das gewähren, was er im Falle des Obsiegens in der Hauptsache erreichen würde (Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 24. Aufl. 2018, § 123 Rn. 13 f.). Allenfalls unter engen Voraussetzungen können im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG die Wirkungen einer Entscheidung in der Hauptsache vorweggenommen werden; so wenn der Antragsteller beim Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache sein Rechtschutzziel nicht mehr erreichen kann, ihm dadurch unzumutbare, irreparable Nachteile entstünden und eine hohe Wahrscheinlichkeit eines Obsiegens in der Hauptsache besteht (Schenke, a.a.O. § 123 Rn. 26). In Anbetracht der erheblichen Gefahren für hochrangige Rechtsgüter Dritter, mit der die Zuerkennung einer Fahrberechtigung an einen nicht geeigneten oder befähigten Kraftfahrer einhergeht, setzt der Erlass einer einstweiligen Anordnung eine deutlich überwiegende Wahrscheinlichkeit für das Bestehen der Fahrberechtigung voraus. Sie hat dessen ungeachtet mit Rücksicht auf den gebotenen Schutz von Leben und Gesundheit Dritter zu unterbleiben, wenn überwiegende, besonders gewichtige Gründe einer solchen Interimsregelung entgegenstehen (vgl. BayVGH, B.v. 28.11.2014 – 11 CE 14.1962 – juris Rn. 11).
Gemessen hieran hat der Antragsteller einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
1. Ein Anordnungsgrund ist gegeben. Das Landratsamt hat im Bescheid vom 23. September 2020 (auf Seite 5) selbst ausgeführt: „Aufgrund des Umstandes, dass Herr… wegen der schlechten öffentlichen Verkehrsanbindung in seinem Wohnort auf ein Kraftfahrzeug angewiesen ist und daher nahezu täglich Autofahren getätigt werden müssen, kann ein Dauerkonflikt …entstehen.“ Schon allein auf Grund dieser Ausführungen ist davon auszugehen, dass dem Antragsteller durch ein Abwarten auf eine Entscheidung in der Hauptsache irreparable Nachteile entstehen würden. Ein weiterer Vortrag, wie der Antragsteller während der Sperre verfahren ist und wo sich seine Arbeitsstelle befindet, hält die Kammer deshalb für entbehrlich.
2. Auch ein Anordnungsanspruch liegt vor. Es ist davon auszugehen, dass in der Hauptsache die Klage des Antragstellers erfolgreich sein wird.
In der Hauptsache hat der Antragsteller nach Ablauf der Sperrfrist einen Anspruch auf die Wiedererteilung seiner Fahrerlaubnis der beantragten Klassen, ohne dass der Antragsgegner diese wegen des Vorfalls vom 5. November 2019 von der Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens abhängig macht. Die Versagung der Erteilung der Fahrerlaubnis aus diesem Grund ist rechtswidrig und verletzt den Antragsteller somit in seinen subjektiv-öffentlichen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Nach § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StVG müssen Fahrerlaubnisbewerber zum Führen von Kraftfahrzeugen geeignet sein. Die Eignung besitzt nach § 2 Abs. 4 Satz 1 StVG sowie § 11 Abs. 1 Satz 1 und 3 FeV, wer die notwendigen körperlichen und geistigen Anforderungen erfüllt und nicht erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder gegen Strafgesetze verstoßen hat. Die Anforderungen sind insbesondere dann nicht erfüllt, wenn eine Erkrankung oder ein Mangel nach Anlage 4 oder 5 zur Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV) vorliegt, wodurch die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen wird (§ 11 Abs. 1 Satz 2 FeV). § 13 FeV konkretisiert die Fälle, in denen die Fahrerlaubnisbehörde im Zusammenhang mit einer Alkoholproblematik die Fahreignung durch ein ärztliches oder medizinisch-psychologisches Gutachten zu klären hat. Nach Nr. 8.1 der Anlage 4 zu den §§ 11, 13 und 14 FeV ist die Eignung bei Alkoholmissbrauch ausgeschlossen; er liegt vor, wenn das Führen von Fahrzeugen und ein die Fahrsicherheit beeinträchtigender Alkoholkonsum nicht hinreichend sicher getrennt werden kann. Gemäß Nr. 8.2 dieser Anlage kann von einer Eignung erst dann wieder ausgegangen werden, wenn der Missbrauch beendet und die Änderung des Trinkverhaltens gefestigt ist. Für die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis nach vorangegangener Entziehung gelten, wie § 20 Abs. 1 Satz 1 FeV klarstellt, die Vorschriften für die Ersterteilung (BVerwG, U.v. 6.4.2017 – 3 C 24.15 – juris Rn. 13).
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 6.4.2017 – 3 C 24.15 und 3 C 13.16 – beide juris), der die Kammer folgt, kann die auf § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 2 FeV gestützte Forderung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens in der hiesigen Fallkonstellation keinen Bestand haben.
a) Aus den Wertungen der anderen Tatbestände des § 13 Satz 1 Nr. 2 FeV, namentlich der Buchst. b und c, ergibt sich, dass eine einmalige Trunkenheitsfahrt mit einer Blutalkoholkonzentration von unter 1,6 Promille die Fahrerlaubnisbehörde nicht ohne weiteres – d.h. ohne weitere aussagekräftige Umstände, die die Annahme von Alkoholmissbrauch (im fahrerlaubnisrechtlichen Sinn) begründen – zur Forderung einer medizinisch-psychologischen Untersuchung berechtigt. Allein der Umstand, dass das Strafgericht in seiner Entscheidung festgestellt hat, dass sich der Fahrerlaubnisbewerber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen hat, reicht als sog. Zusatztatsache nicht aus, zumal die Spruchpraxis der Strafgerichte hierbei durch die Regelvermutung des § 69 Abs. 2 StGB geprägt ist (vgl. BVerwG, U.v. 06.04.2017 – 3 C 24.15 – juris Rn. 26).
b) Soweit der Bescheid darauf gestützt ist, dass vorliegend sonstige Tatsachen die Annahme von Alkoholmissbrauch begründen (Aufzeichnungen der Polizei und der Ärzte im medizinischen Untersuchungsbericht) verfängt dieser Einwand nicht. Dem Akteninhalt lassen sich, jenseits der einmaligen Trunkenheitsfahrt, keine Anhaltspunkte entnehmen, die auf einen Alkoholmissbrauch des Klägers im fahrerlaubnisrechtlichen Sinne hindeuten. Denn bei diesem geht es um die Frage, ob das Führen eines Kraftfahrzeugs und ein die Fahrsicherheit beeinträchtigender Alkoholkonsum hinreichend sicher getrennt werden können. Insoweit ist ein – zumindest mittelbarer – Zusammenhang zwischen dem Alkoholkonsum und der Teilnahme am Straßenverkehr notwendig (vgl. z.B. Dauer in Hentschel/Dauer/König, Straßenverkehrsrecht, 45. Auflage 2019, § 13 FeV Rn. 21 m.w.N.). Der Gesetzgeber hat mit den Regelungen in § 13 Satz 1 Nr. 2 FeV zum Ausdruck gebracht, dass der Alkoholgenuss – auch in schädlich großen Mengen – solange er nicht in wenigstens mittelbarem Zusammenhang mit dem Straßenverkehr steht und keine Alkoholabhängigkeit vorliegt, die Fahreignung nicht ausschließt (BayVGH, U.v. 17.11.2015 – 11 BV 14.2738 – juris Rn. 26, B.v. 20.3.2009 – 11 CE 08.3308 – juris Rn. 12; B.v. 4.1.2006 – 11 CS 05.1878 – juris; B.v. 4.4.2006 – 11 CS 05.2439 – DAR 2006, 413). Der „bloße“ medizinische Alkoholmissbrauch ist daher unterhalb der Schwelle der Alkoholabhängigkeit für eine Gutachtensanordnung allein, also ohne Hinzutreten weiterer (Zusatz-)Tatsachen, die für die Frage des Trennungsvermögens maßgeblich sein können, nicht ausreichend; unterhalb der Schwelle der Alkoholabhängigkeit ist nach der gesetzgeberischen Wertung allein das Trennungsvermögen maßgeblich. Aus einem bloßen medizinischen Alkoholmissbrauch kann daher nicht ohne weiteres auf fehlendes Trennungsvermögen geschlossen werden (vgl. auch OVG NW, B.v. 29.07.2015 – 16 B 584/15 – juris Rn. 9 ff.). Demzufolge können fehlende Ausfallerscheinungen nicht als Tatsachen angesehen werden, die i.S.v. § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 2 FeV die Annahme eines (fahrerlaubnisrechtlichen) Alkoholmissbrauchs i.S.v. Nr. 8.1 der Anlage 4 zur FeV begründen.
c) Im Übrigen ist anzumerken, dass bei dem Antragsteller durchaus alkoholtypische Ausfallerscheinungen festgestellt werden konnten. So führt das Amtsgericht im Urteil vom 17. März 2020 (auf Seite 2) aus, dass der Antragsteller „aufgrund der alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit“ den Abbiegevorgang des anderen Pkws nicht erkannte und mit diesem zusammenstieß. Dieses wertete auch die vor Ort anwesende Polizei als sonstige Ausfallerscheinung. Zudem vermerkte der Polizist einen unsicheren Gang und eine undeutliche Sprache. Im ärztlichen Untersuchungsbericht finden sich nach dem Gesamteindruck zumindest leichte Anzeichen von Alkohol (Reaktion leicht verlangsamt, genervte Stimmung). Der Gang wird zwar als sicher, aber etwas breitbeinig beschrieben. Auch nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs würden die getroffenen Feststellungen den erforderlichen häufigen Alkoholmissbrauch und die entsprechende Giftfestigkeit nicht ausreichend belegen (BayVGH, U.v. 17.11.2015 – 11 BV 14.2738 – juris Rn. 27 f, [insoweit] bestätigt durch BVerwG, U.v. 6.4.2017 – 3 C 24.15 – juris Rn. 28).
d) Vor diesem Hintergrund ist § 13 Satz 1 Nr. 2 a FeV so zu verstehen, dass er in Fällen, in denen – wie hier – nur eine einmalige Alkoholfahrt mit einem Blutalkoholgehalt von unter 1,6‰ inmitten steht, die Anordnung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens nur erlaubt, wenn zusätzlich konkrete Anzeichen für einen Alkoholmissbrauch im straßenverkehrsrechtlichen Sinne, also dafür vorliegen, dass der Betroffene generell zwischen einem die Fahrsicherheit beeinträchtigenden Alkoholkonsum und dem Fahren nicht zu trennen vermag. Dies kann etwa der Fall sein, wenn der Betroffene jeden Abend große Mengen Alkohol trinkt und jeden Morgen zur Berufsausübung ein Kraftfahrzeug führen muss. Bei dieser Konstellation kann ein Dauerkonflikt zwischen Trinken und Fahren angenommen werden, der einen Verstoß gegen das Trennungsgebot der Nr. 8.1 der Anlage 4 zur FeV unausweichlich erscheinen lässt (BayVGH, U.v. 2.12.2011 – 11 B 11.246 – juris Rn. 21 und VG Bayreuth, U.v. 29.1.2019 – B 1 K 18.692 – juris). Allein die Feststellung zu einem abgelegenen Wohnort ist hierbei nicht ausreichend, da die Annahme, der Antragsteller trinke täglich und laufe damit ständig Gefahr, unter Alkoholeinfluss ein Kfz führen zu müssen, hier allein auf Mutmaßungen beruht, für die es in der Behördenakte keinerlei Anhaltspunkte gibt. Die Rechtsprechung verlangt für die Zusatztatsache das Vorliegen konkreter Anzeichen. Mutmaßungen oder die Hoffnung, im verwaltungsgerichtlichen Verfahren könne eine weitere Sachverhaltsaufklärung ergeben, dass der Antragsteller ein tägliches Trinken zugibt (im Rahmen der Wiedererteilung wäre auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abzustellen, da es sich um eine Verpflichtungsklage handelt), würden dazu führen, dass die Wertungen des § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b und c FeV in das Gegenteil verkehrt werden würden.
3. Nach alledem ist es rechtswidrig, wenn der Antragsgegner die Neuerteilung der beantragten Fahrerlaubnis wegen der vom Antragsteller begangenen Trunkenheitsfahrt vom 5. November 2019, deren Begleitumständen und der im Anschluss daran vom Strafgericht angeordneten Fahrerlaubnisentziehung von der Vorlage eines medizinisch-psychologischen Gutachtens abhängig macht. Mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ist von einem Erfolg in der Hauptsache auszugehen.
Ob der Antragsgegner aus einem anderen der in § 2 Abs. 4 StVG und § 11 Abs. 1 FeV genannten Gründe an einer sofortigen Fahrerlaubniserteilung gehindert sein könnte, ist nicht Streitgegenstand (vgl. BVerwG, U.v. 06.04.2017 – 3 C 24.15 – juris Rn. 29), wobei sich konkrete Anhaltspunkte hierfür weder aus dem Akteninhalt ergeben noch vom Antragsgegner vorgetragen worden sind.
4. Die Antragstellerin hat als unterliegende Beteiligte die Kosten des Verfahrens gemäß § 154 Abs. 1 VwGO zu tragen.
5. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2, § 53 Abs. 2 und § 52 Abs. 1 GKG i. V. m. Ziffern 1.5, 46.1 und 46.3 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (s. NVwZ-Beilage 2013, 57).


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