Medizinrecht

Perücke als Hilfsmittel

Aktenzeichen  S 2 KR 19/18

Datum:
20.2.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 53009
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB X § 44
SGB V § 127

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten

Gründe

Die zulässige, insbesondere form- und fristgerechte Klage ist unbegründet. Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf eine weitere Kostenerstattung bezüglich der erfolgten Perückenversorgung. Vielmehr war die Bewilligung in der von der Beklagten gewährten Höhe rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die streitgegenständlichen Bescheide waren daher rechtmäßig.
Zunächst ist festzustellen, dass die Klage zulässig ist. Die Beklagte hatte, obwohl der Widerspruch bereits zurückgenommen worden war, irrtümlich die Frage nach der Aufrechterhaltung des Widerspruchs gestellt, die Frage war vom Klägerbevollmächtigten mündlich bejaht worden. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass die Behörde einen formfehlerhaften Widerspruch als unzulässig behandeln kann, sie kann jedoch auch den Widerspruch sachlich entscheiden, dadurch wird die Formverletzung in der Regel geheilt (Paragraph 84 SGG meiner Ladewig Rn. 7). Vorliegend war dies der Fall, d.h. durch die Sachentscheidung der Beklagten trat eine Heilung ein. Es war daher von einem Widerspruch gegen den Bescheid vom 21.7.2017 auszugehen.
Die Klage war daher zulässig, jedoch unbegründet.
Insoweit kommt als Anspruchsgrundlage § 13 Abs. 3 S. 1 SGB V Betracht. Dort ist Folgendes geregelt:
Konnte die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen oder hat sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch Versicherten für diese selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig.
Außerdem ist zu berücksichtigen, dass nach § 27 SGB V in Verbindung mit § 33 Abs. 1 SGB V Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln haben, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind.
Zunächst ist festzustellen, dass ein totaler Haarverlust bei einer Frau eine Behinderung im Sinne des § 33 Absatz 1 Satz 1 SGB V ist. Die Krankheit hat bei Frauen eine entstellende Wirkung, wodurch ihre Teilhabe am Leben der Gemeinschaft beeinträchtigt ist. Dies ist vorliegend unstreitig. Unstrittig ist auch, dass das begehrte Hilfsmittel nicht als allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens anzusehen ist.
Streitig ist daher lediglich, ob die Klägerin gegen die Beklagte einen Anspruch auf umfassende Kostenerstattung in der geltend gemachten Höhe hat. Insoweit ist die Rechtsprechung des BSG vom 23.7.2002 (B 3 KR 66/01 R) zu berücksichtigen. Dort wird folgendes ausgeführt:
„Ziel der Versorgung behinderter Menschen mit Hilfsmitteln ist die Förderung ihrer Selbstbestimmung und ihrer gleichberechtigten Teilhabe am Leben der Gemeinschaft (§ 1 Satz 1 SGB IX). Die sich daraus ergebende Frage, welche Qualität und Ausstattung ein Hilfsmittel haben muss, um als geeignete, notwendige, aber auch ausreichende Versorgung des Versicherten gelten zu können (§§ 2 Abs. 4, 12 Abs. 1 und 33 Abs. 1 SGB V), beantwortet sich danach, welchem konkreten Zweck die Versorgung im Einzelfall dient. Soll ein Hilfsmittel die Ausübung einer beeinträchtigten Körperfunktion unmittelbar ermöglichen ersetzen oder erleichtern (zum Beispiel Prothesen), ist grundsätzlich ein Hilfsmittel zu gewähren, das die ausgefallene bzw. gestörte Funktion möglichst weitgehend kompensiert, also den umfassendsten Gebrauchsvorteil bietet (BSG vom 6.6.2002, B3 KR 68/01 R). Qualität und Wirksamkeit der Leistungen müssen insoweit dem allgemeinen anerkannten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse entsprechen und den medizinischen Fortschritt berücksichtigen (§ 2 Absatz 1 Satz 3 SGB V). Geht es hingegen um einen Ausgleich ohne Verbesserung elementarer Körperfunktion allein zur Befriedigung eines sonstigen allgemeinen Grundbedürfnisses des täglichen Lebens (zum Beispiel Kommunikation; Schaffung eines geistigen und körperlichen Freiraums; selbstständiges Wohnen; Bewegung im Nahbereich der Wohnung; Teilhabe am gesellschaftlichen Leben), bemisst sich der Umfang der Leistungspflicht der Krankenkasse nicht nach dem technisch machbaren. Die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben setzt bei einer Frau nicht voraus, dass ihr ursprüngliches Aussehen durch die Perücke so weit wie möglich wiederhergestellt wird; Ziel der Hilfsmittelversorgung ist nicht die möglichst umfassende Rekonstruktion des verloren gegangenen früheren Zustands („Naturalrestitution“), sondern nur die Gewährleistung der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Daraus folgt, dass auch der Wunsch der Versicherten nach einer bestimmten Frisur dann nicht maßgeblich ist, wenn er – wie hier – mit Mehrkosten verbunden ist. Somit umfasst der Behinderungsausgleich nur die Versorgung, die notwendig ist, um den Verlust des natürlichen Haupthaares für einen unbefangenen Beobachter nicht sogleich erkennbar werden zu lassen. Denn die freie Bewegung und Mitmenschen ist bereits dann gewährleistet; es bedarf dazu keiner kompletten „Nachbildung“ des ursprünglichen Aussehens, das ohnehin, insbesondere wenn der Haarverlust wie hier schon jahrelang zurückliegt, nur noch den wenigsten Menschen bekannt und gegenwärtig sein dürfte. Andererseits ist es auch bei einer möglichst naturgetreuen Rekonstruktion nicht zu verhindern, dass ein geschulter Beobachter den Haarersatz als solchen erkennt. Ein ausreichender Behinderungsausgleich wird bei der Perückenversorgung nicht bereits infrage gestellt, wenn einige wenige vertraute Person oder Fachleute das Haupthaar als „künstlich“ erkennen. Das wäre erst dann der Fall, wenn dies auch jedem unbefangenen Beobachter nach kurzem Blick auffiele.“
Vor diesem Hintergrund ist nach Auffassung des Gerichts durch das Echthaarmodell als Kurzhaarperücke, das die Zeugin zum Vertragspreis der Klägerin abgegeben hätte, eine ausreichende Versorgung der Klägerin im Sinne von § 33 SGB V gegeben gewesen, so dass die Klägerin gegen die Beklagte keinen Anspruch auf weitere Kostenerstattung hat.
Zunächst ist festzustellen, dass vorliegend unstrittig ist, dass die Klägerin einen Anspruch auf eine Echthaarperücke hat. Es ging daher nicht um die Frage, wie teilweise in den vom Klägerbevollmächtigten zitierten Urteilen der Fall, ob eine Kunsthaarperücke oder eine Echthaarperücke zu gewähren ist. Vielmehr hat die Beklagte von vornherein eine Echthaarperücke bewilligt. Es ging daher lediglich um die Frage, ob die Beklagte auch für das von der Klägerin gewählte Modell der Echthaarperücke die vollen Kosten zu tragen hat.
Die Zeugin hatte bereits in ihrer schriftlichen Stellungnahme vom 9.4.2018 ausgeführt, dass sie zum Vertragspreis entweder ein Kunsthaarmodell mit Monofilament am Oberkopf als Langhaarperücke oder ein Echthaarmodell mit Monofilament am Oberkopf als Kurzhaarperücke hätte liefern können. Das Echthaarmodell in kurzer Variante hätte dem Wunsch der Klägerin in Fülle und Haarlänge nicht entsprochen. Sie hätte vielmehr eine Langhaarechthaarperücke gewünscht. Sie entschied sich für das gleiche Modell, das sie schon in ihrem Studio gekauft hatte. Eine Mehrkostenerklärung habe nicht vorgelegen, da die Klägerin über den Preis der Perücke mündlich aufgeklärt worden sei und sie dieses Modell schon vorher gekauft hatte, somit sei ihr der Preis bekannt gewesen. Außerdem hatte die Zeugin durch Schreiben vom 16.4.2018 mitgeteilt, dass jedes Modell von ihr in Schnitt, Form und Frisur der Kundin angepasst werde, eine Pflegeanleitung für zuhause sowie Frisurentipps zum natürlichen Fall seien Grundlage bei der Beratung. Sie hat daher die gerichtlich gestellte Frage, ob bezüglich des Vertragspreismodells (Echthaarmodell als Kurzhaarperücke) für jedermann sogleich zu erkennen wäre, dass es sich um eine Perücke handele, mit nein beantwortet. Außerdem hatte sie durch ihr Schreiben vom 26.06.2018 auf gerichtliche Nachfrage mitgeteilt, dass sie der Klägerin zum Vertragspreis eine Echthaarperücke als Kurzhaarperücke hätte liefern können und das bezüglich dieses Modells sechs verschiedene Farbvariationen zur Auswahl gestanden wären, sie hätte auch einen Blondton liefern können, der dem Kundenwunsch am nächsten gekommen wäre. Dabei hätte es sich um asiatisches Haar gehandelt, die Verarbeitungsform wäre Mono tresse mit Lacefront gewesen.
Nachdem die Klägerin unstrittig Anspruch auf eine Echthaarperücke hatte, kommt es darauf an, ob mit dem Echthaarmodell als Kurzhaarperücke, das die Zeugin zum Vertragspreis abgegeben hätte, eine ausreichende Versorgung im Sinne der Rechtsprechung des BSG vorlag. Dies ist nach Auffassung des Gerichts der Fall.
Dies ergibt sich aus den glaubhaften und nachvollziehbaren Ausführungen der Zeugin Frau S.. Diese hatte bereits schriftlich die Frage des Gerichts, ob bei dem Modell, das sie zum Vertragspreis (Echthaarmodell als Kurzhaarperücke) abgegeben hätte, für jedermann zugleich erkennbar gewesen wäre, dass es sich um eine Perücke handelt mit nein beantwortet. In der mündlichen Verhandlung hatte sie dann ausgeführt, dass ihres Erachtens unter normalen Bedingungen bezüglich des Modells zum Vertragspreis nicht sogleich erkennbar sei, dass es sich um eine Perücke handelt. Bei extremen Windbedingungen oder auch wenn die Haare komplett nass seien, könne es jedoch schon sein, dass man die Tresse sehe.
Vor diesem Hintergrund und nachdem auch das Gericht Augenschein von den Perücken genommen hat, steht für das Gericht fest, dass bezüglich des Modells, das zum Vertragspreis abgegeben worden wäre (Echthaarmodell als Kurzhaarperücke), nicht für jedermann sogleich erkennbar gewesen wäre, dass es sich um eine Perücke handelt. Insoweit kommt es nach Auffassung des Gerichts auf die Verhältnisse unter Normalbedingungen an. Dass bei extremen Windbedingungen oder wenn die Haare komplett nass seien, es schon sein könne, dass die Tresse zu sehen wäre, führt nicht zu einem vollen Kostenerstattungsanspruch der Klägerin. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass nach der Rechtsprechung des BSG Ziel der Hilfsmittelversorgung ist, die Gewährleistung der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Der Behinderungsausgleich umfasst nur die Versorgung, die notwendig ist, um den Verlust des natürlichen Haupthaares für einen unbefangenen Beobachter nicht sogleich erkennbar werden zu lassen. Ein ausreichender Behinderungsausgleich wäre erst dann nicht mehr gegeben, wenn jedem unbefangenen Beobachter die Perückenversorgung nach kurzem Blick auffiele. Vor diesem Hintergrund kommt es nach Auffassung des Gerichts darauf an, ob unter normalen Bedingungen es sogleich für jeden unbefangenen Beobachter erkennbar wäre, dass es sich um eine Perücke handelt. Dies ist vorliegend nach Auffassung des Gerichts nicht der Fall. Mit dem Echthaarmodell zum Vertragspreis konnte daher eine ausreichende Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft sichergestellt werden. Außerdem ist auch zu berücksichtigen, dass selbst bei teureren Perücken, die über dem Vertragspreis liegen, Situationen nicht auszuschließen sind, in denen erkennbar werden könnte, dass es sich um eine Perücke handelt.
Die Klägerin kann sich daher nicht mit Erfolg darauf berufen, dass bezüglich des Vertragsmodells unter extremen Bedingungen doch erkennbar wäre, dass es sich um eine Perücke handelt. Eine andere Beurteilung ergibt sich daher auch nicht daraus, dass die offene Tresse laut Auskunft der Zeugin die günstigste Verarbeitungsform ist.
Außerdem ist zu berücksichtigen, dass es nach der Rechtsprechung des BSG keinen Anspruch auf eine möglichst vollständige Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes gibt. Nach Auffassung des Gerichts hat die Klägerin daher vorliegend weder einen Anspruch auf eine bestimmte Haarfarbe noch auf eine bestimmte Frisur, wie zum Beispiel auf eine Langhaarfrisur. Insofern ist es nach Auffassung des Gerichts auch irrelevant, ob asiatische Echthaar so blond gefärbt werden kann, dass nicht für jedermann sogleich erkennbar ist, dass es sich um eine Perücke handelt. Nach Auffassung des Gerichts ergibt sich außerdem nach der Inaugenscheinnahme der Perücken und der glaubhaften Aussagen der Zeugin bezüglich des Echthaar-Vertragspreismodells im blonden Farbton nicht, dass insoweit sogleich für jedermann erkennbar wäre, dass es sich um eine Perücke handelt. Selbst wenn dies jedoch anders beurteilt werden würde, was jedoch wie ausgeführt nicht der Fall ist, ergebe sich jedoch keine andere Beurteilung, da die Klägerin dann auf die anderen dunkleren Farbtöne verwiesen werden könnte. Dies ergibt sich, wie bereits ausgeführt dadurch, dass die Klägerin keinen Anspruch auf einen bestimmten Farbton hat. Soweit die Klägerseite sich auf das Urteil des LSG Schleswig vom 15.6.2005 beruft, wonach durch die Färbung in einen Blondton erhebliche Qualitätsverluste entstehen und es in dem dort entschiedenen Fall nicht zu einer angemessenen Nachbildung des ursprünglichen Aussehens gekommen wäre, ergibt sich keine andere Beurteilung. Dieses Urteil steht im Widerspruch zur Entscheidung des BSG 23.07.2002, in dem ausdrücklich entschieden wurde, dass kein Anspruch auf eine möglichst vollständige Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes besteht.
Soweit der Klägerbevollmächtigte geltend gemacht hat, dass nach seiner Information aus anderen Verfahren eine Echthaarperücke erst ab ca. 1500 € in Betracht käme, ist zwar festzustellen, dass laut Auskunft der Zeugin das Echthaarmodell als Kurzhaarperücke eigentlich 986 € Kosten würde und damit über den Vertragspreis liege. Insoweit ist jedoch entscheidend für den hier vorliegenden streitigen Kostenerstattungsanspruch der Klägerin, dass die Zeugin dennoch bereit gewesen wäre, dieses Modell zum Vertragspreis abzugeben. Die Klägerin hätte daher trotzdem zum Vertragspreis ausreichend versorgt werden können.
Insgesamt waren daher die Voraussetzungen für den geltend gemachten Kostenerstattungsanspruch nicht gegeben. Die von der Beklagten gewährte Bewilligung in den streitgegenständlichen Bescheiden war daher rechtmäßig. Ein darüber hinausgehender Kostenerstattungsanspruch besteht daher nicht.
Nach alledem war die Klage unbegründet und daher abzuweisen.
Folglich sind außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten, § 193 SGG.


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