Medizinrecht

Prüfung von Abschiebungsverboten hinsichtlich Nigeria

Aktenzeichen  Au 7 K 18.30384

Datum:
17.3.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 18706
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 108 Abs. 1 S. 1
VwVfG § 51
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
AsylG § 77 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 1. Februar 2018 wird aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Nigerias vorliegen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollsteckbar.

Gründe

I.
Das Gericht kann durch die Einzelrichterin entscheiden, da ihr der Rechtsstreit durch Beschluss vom 12. Februar 2020 zur Entscheidung übertragen wurde (§ 76 Abs. 1 Asylgesetz – AsylG).
II.
Über die Klage konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vom 11. März 2020 entschieden werden, da die Beteiligten mit der ordnungsgemäßen Ladung darauf hingewiesen wurden, dass bei Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
III.
Die zulässige Klage ist auch begründet. Der Bescheid vom 1. Februar 2018 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Das Bundesamt hat den Antrag auf Abänderung des Bescheids vom 23. März 2011 bezüglich der Feststellung zu § 60 Abs. 5 und 7 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz – AufenthG) zu Unrecht abgelehnt, da dem Kläger in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) ein Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens verbunden mit der Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheids und Feststellung des Bestehens eines nationalen Abschiebungsverbots hinsichtlich Nigerias nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG zusteht (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Für diesen Folgeantrag sind die in § 71 AsylG enthaltenen Regelungen nicht anwendbar, da die Geltendmachung lediglich eines (nationalen) Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht Teil des Asylantrags ist (vgl. § 13 AsylG). Für das begehrte Wiederaufgreifen des Verfahrens kommt daher die allgemeine Regelung des § 51 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) unmittelbar zur Anwendung (vgl. BVerwG, U.v. 17.10.2006 – 1 C 18/05 – BVerwGE 127, 33). Dem Kläger ist auf der Grundlage von § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG der begehrte Abschiebungsschutz zuzuerkennen, da die tatbestandlichen Voraussetzungen insbesondere des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zum maßgeblichen Zeitpunkt vorliegen.
Das Gericht geht nach dem in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindruck vom Kläger von einem zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG aus.
1. Das Gericht ist nach Auswertung der vorgelegten fachärztlichen Berichte und dem persönlichen Eindruck in der mündlichen Verhandlung zu der Überzeugung gekommen, dass bei Rückkehr des Klägers nach Nigeria eine wesentliche Verschlimmerung seiner psychischen Erkrankung im Sinne einer existentiellen Gesundheitsgefahr aus Sicht eines vernünftigen und besonnenen Menschen ernstlich zu befürchten und damit überwiegend wahrscheinlich ist.
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Die Gefahr ist „erheblich“ i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, wenn sich der Gesundheitszustand wesentlich oder gar lebensbedrohlich verändern würde und „konkret“, wenn der Asylbewerber alsbald nach seiner Rückkehr in den Abschiebestaat in diese Lage käme, weil er auf die dortigen unzureichenden Möglichkeiten der Behandlung seines Leidens angewiesen wäre und auch anderswo wirksame Hilfe nicht in Anspruch nehmen könnte (BVerwG, U.v. 25.11.1997, 9 C 58.96, BVerwGE 105, 383).
Hinsichtlich krankheitsbedingter Gefahren für Leib oder Leben werden die Voraussetzungen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbotes durch die Regelung in § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG konkretisiert. Danach liegt eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Dabei ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist (§ 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG). Des Weiteren liegt eine ausreichende medizinische Versorgung in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaates gewährleistet ist (§ 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG). Danach ist erforderlich, aber auch ausreichend für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, dass sich die vorhandene Erkrankung des Ausländers aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führt, d.h. dass eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht (vgl. BVerwG, B.v. 17.8.2011, 10 B 13/11). Dies hat der Ausländer durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung, d.h. durch Vorlage eines aussagekräftigen, (ggf. fach-)ärztlichen Attestes glaubhaft zu machen (§ 60 Abs. 7 Satz 2 i.V.m. § 60 a Abs. 2 c Sätze 2 und 3 AufenthG).
Im Hinblick auf Krankheiten ist für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erforderlich, dass sich der Gesundheitszustand des betreffenden Ausländers alsbald nach der Ankunft im Zielland der Abschiebung infolge unzureichender Behandlungsmöglichkeiten wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern würde, weil dort eine adäquate Behandlung wegen des geringen Versorgungsstandards nicht möglich oder unzureichend ist und/oder der Betroffene insbesondere mangels finanzieller Mittel eine Behandlung nicht erlangen kann (vgl. BVerwG, U.v. 29.10.2002 – 1 C 1/02 – DVBl. 2003, 463, juris; BVerwG, U.v. 17.10.2006 – 1 C 18/05 – NVwZ 2007, 712, juris).
Das Tatbestandsmerkmal der Erheblichkeit der zu erwartenden Gefährdungssituation ist dabei nur dann gegeben, wenn der Eintritt der Gefahr eine bedeutende Rechtsgutbeeinträchtigung nach sich zieht. Ausgehend von einer unzureichenden medizinischen Behandlungsmöglichkeit liegt das für die hieraus resultierende akute Lebensgefahr auf der Hand und heißt für den Fall der befürchteten Verschlimmerung einer bereits vorhandenen Erkrankung, dass sich der Gesundheitszustand nach Ankunft im Zielland der Abschiebung alsbald wesentlich oder sogar lebensbedrohlich verschlechtern wird (vgl. BVerwG, B.v. 17.8.2011 – 10 B 13.11, 10 PKH 11.11 – juris Rn. 3; BVerwG, U.v. 17.10.2006 – 1 C 18.05 – NVwZ 2007, 712, juris).
Dementsprechend kann von einer abschiebungsschutzrelevanten Verschlechterung des Gesundheitszustandes nicht schon dann gesprochen werden, wenn „lediglich“ eine Heilung eines Krankheitszustandes des Ausländers im Abschiebungsfall nicht zu erwarten ist. Eine solche Gefahr ist auch nicht schon bei jeder befürchteten ungünstigen Entwicklung des Gesundheitszustandes anzunehmen, sondern nur, wenn außergewöhnlich schwere körperliche oder psychische Schäden alsbald nach der Einreise des Betroffenen in den Zielstaat drohen. Das Abschiebungsverbot dient nämlich nicht dazu, dem ausreisepflichtigen erkrankten Ausländer die Heilung seiner Erkrankung im Rahmen des sozialen Systems der Bundesrepublik Deutschland zu eröffnen; vielmehr stellt es allein den Schutz vor einer gravierenden Beeinträchtigung von Leib und Leben sicher.
Gemessen an diesen Grundsätzen liegen hinreichende Anhaltspunkte für eine relevante Erkrankung im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in Form einer schweren depressiven Erkrankung mit damit einhergehender Suizidalität vor.
a) Nicht weiter auszuführen ist zur ursprünglich geltend gemachten Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), deren Voraussetzungen schon in Ermangelung eines glaubhaften Verfolgungsvortrags nicht vorliegen, wie in der mündlichen Verhandlung in Übereinstimmung mit den diesbezüglichen Ausführungen im Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 10. Februar 2016, zu denen sich insofern keine Änderungen ergeben haben, und in Übereinstimmung mit dem Klägerbevollmächtigten bereits erläutert wurde.
b) Ein Abschiebungsverbot folgt jedoch aus der schweren depressiven Erkrankung des Klägers mit damit einhergehender Suizidalität des Klägers. Die Suizidalität steht zur Überzeugung des Gerichts fest.
Der Begriff Suizidalität umschreibt einen psychischen Zustand, in dem Gedanken, Phantasien, Impulse und Handlungen anhaltend, wiederholt oder in bestimmten krisenhaften Zuspitzungen darauf ausgerichtet sind, gezielt den eigenen Tod herbeizuführen. Es besteht eine graduelle Differenzierung zwischen Suizidgedanken ohne den Wunsch nach Selbsttötung – die ebenfalls zur Suizidalität zählen – und drängenden Suizidgedanken mit konkreten Absichten, Plänen bis hin zu Vorbereitungen eines Suizids. Daran wird deutlich, dass nicht schon jede Form der Suizidalität geeignet ist, eine Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu begründen. Jedenfalls die zeitlich begrenzte bloße innere Hinwendung zu Selbsttötungsgedanken rechtfertigt ohne das Hinzutreten äußerer damit im Zusammenhang stehender Anzeichen einer Gesundheitsverschlechterung wie Verletzungshandlungen, körperlichem Verfall oder vegetativen Auffälligkeiten die Annahme einer besonders intensiven Gesundheitsverschlechterung nicht (OVG NRW, U.v. 27.1.2015 – 13 A 1201/12.A – juris Rn. 43 f.).
Nach diesen Maßstäben ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) die im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erforderliche beachtliche Wahrscheinlichkeit für die Gefahr einer Selbsttötung feststellbar. Das Gericht hat im Rahmen seiner freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) die Überzeugung gewonnen, dass der Kläger im Falle einer erzwungenen Rückkehr nach Nigeria mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine suizidale Krise erleiden wird, die eine abschiebungsschutzrelevante Qualität erreicht. Maßgeblich hierfür sind – neben einer Gesamtschau zur langjährigen Erkrankung und Behandlung des Klägers – insbesondere die Erkenntnisse zum Suizidversuch des Klägers am 9. Januar 2020 gemäß dem Arztbrief vom 9. Januar 2020 (Bl. 55 ff. der Gerichtsakte), zur anschließenden Behandlung im …krankenhaus … vom 10. Januar 2020 bis 28. Februar 2020 gemäß dem vorläufigen Arztbrief vom 15. Januar 2020 (Bl. 66 ff. der Gerichtsakte), zur Behandlung bei seinem behandelnden Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie gemäß ärztlichem Attest vom 20. Februar 2020 (Bl. 70 f. der Gerichtsakte) sowie der persönliche Eindruck vom Gesundheitszustand des Klägers in der mündlichen Verhandlung. Die vorliegenden Atteste und vor allem der gewonnene persönliche Eindruck in der mündlichen Verhandlung haben das Gericht zu der Überzeugung gelangen lassen, dass es beim Kläger nicht um eine Drohung mit einem Suizid zur Verhinderung der Abschiebung geht, sondern es bei ihm – anders als in den meisten anderen Fällen zur Suizidalität in der Rechtsprechung – auch in jüngster Vergangenheit nicht nur zu Suizidabsichten, sondern sogar zu auf eine Selbsttötung gerichteten selbstverletzenden Handlungen kam. Das Gericht stellte hierzu in der mündlichen Verhandlung fest, dass der Kläger mehrere sichtbare oberflächliche Schnittwunden an den Armen hatte.
Schließlich ist gemessen an der fachärztlichen Einschätzung, an der das Gericht keine Zweifel hat, davon auszugehen, dass sich die psychische Erkrankung des Klägers ohne Behandlung nach einer Rückkehr nach Nigeria alsbald und wesentlich verschlimmern würde. Aufgrund der fachärztlich festgestellten Erkrankung kann auch eine weiterhin bestehende Suizidalität nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden.
Eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben des Klägers aufgrund einer alsbaldigen schwerwiegenden und wesentlichen Verschlechterung seines Gesundheitszustandes im Falle seiner Rückkehr ist auch mit der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzunehmen. Eine solche Gefahr kann den vom Kläger vorgelegten ärztlichen Attesten, kulminierend in seinem Suizidversuch am 9. Januar 2020, entnommen werden. Der Kläger benötigt – wie sein bisheriger Krankheitsverlauf aufgezeigt hat – fortlaufend Medikamente sowie eine psychologische bzw. psychiatrische Behandlung.
Zwar finden Rückkehrer in den Großstädten eine medizinische Grundversorgung vor, die im öffentlichen Gesundheitssektor allerdings in der Regel unter europäischem Standard liegt. Der private Sektor bietet hingegen in einigen Krankenhäusern der Maximalversorgung (z.B. in Lagos, Abuja, Ibadan) westlichen Medizinstandard. Eine medikamentöse Behandlung der depressiven Erkrankung ist somit grundsätzlich auch in Nigeria möglich. In der Regel gibt es dort fast alle geläufigen Medikamente in Apotheken zu kaufen, u.a. auch Medikamente zur Behandlung von neurologischen und psychiatrischen Leiden, wobei aus Qualitätsgründen empfohlen wird, Produkte aus europäischer oder USamerikanischer Herkunft zu wählen. Die medizinische Versorgung und die Versorgung mit Medikamenten in Nigeria ist schwierig und teuer, da eine kostenfreie Medikamentenversorgung durch die staatliche Gesundheitsversorgung nicht geleistet wird (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria – Lagebericht – vom 16.1.2020, Stand: September 2019, Nr. IV 1.3, 1.4). Auch nach dem Bericht der schweizerischen Flüchtlingshilfe („Nigeria: psychiatrische Versorgung“, Auskunft der SFH-Länderanalyse vom 22. Januar 2014 – veröffentlicht im Internet) ist – trotz aller dort eingehend beschriebener Mängel – psychiatrische Behandlung auch von u.a. klinischen Depressionen und suizidalen Tendenzen möglich (schweizerische Flüchtlingshilfe a.a.O., Seite 3); Antidepressiva sind erhältlich (schweizerische Flüchtlingshilfe: „Nigeria Behandlung von PTSD“ Auskunft der SFH-Länderanalyse vom 9.11.2009, Seite 5).
Dieser Kostenaufwand kann zur Überzeugung des Gerichts indes vom Kläger nicht finanziert werden. Auch wenn in großen Städten wie Lagos psychische Erkrankungen grundsätzlich behandelbar sind, so wird die erforderliche Behandlung für den Kläger im hier vorliegenden Einzelfall jedenfalls nicht erreichbar sein. Die nötige Behandlung wäre für ihn in seinem Herkunftsland schon allein deshalb nicht erreichbar, weil sie mit Kosten verbunden wäre, die er aufgrund seines Gesundheitszustands in Folge seiner depressiven Erkrankung nicht tragen kann, da nach der richterlichen Beweiswürdigung nicht davon auszugehen ist, dass er seinen Lebensunterhalt geschweige denn den besonderen medizinischen Kostenaufwand selbst erwirtschaften und sichern kann. Der Kläger wäre nach Einschätzung des Gerichts gerade aufgrund seiner Erkrankung nicht in der Lage, die finanziellen Mittel für die erforderlichen Medikamente sowie eine psychotherapeutische Behandlung aufzubringen. Der Kläger verfügt jedenfalls aktuell nicht über die notwendige Verfassung, eine Arbeit zu finden und auszuüben, um mit dem Verdienst neben den allgemein zum Leben notwendigen Dingen wie Wohnung und Nahrung zusätzlich die Kosten für eine medizinische Behandlung zu stemmen.
Dass der Kläger – entgegen seiner eigenen Angaben in der mündlichen Verhandlung – in Nigeria auf einen Familienverbund zur Sicherung seines existentiellen Bedarfs sowie zur Tragung der Kosten für seine erforderliche Behandlung zurückgreifen kann, lässt sich vorliegend jedenfalls nicht mit hinreichender Gewissheit feststellen. Beim Kläger ist somit nach alledem nicht davon auszugehen, dass er die erforderlichen Medikamente für die Behandlung seiner depressiven Erkrankung geschweige denn die entsprechende ärztliche Behandlung selbst in Nigeria erlangen kann.
c) Die Suizidalität steht schließlich auch nicht in Zusammenhang mit der Abschiebung als solcher, sondern mit den spezifischen Verhältnissen im Zielstaat der Abschiebung.
Der Vortrag, allein die drohende Abschiebung führe dazu, dass noch vor Einleitung der Abschiebung bereits im Bereich der Bundesrepublik Deutschland eine erhebliche Suizidgefahr bestehe, genügt nach der Rechtsprechung für die Gewährung eines Abschiebungsverbots nicht (vgl. BayVGH, B.v. 3.2.2015 – 15 ZB 15.30038 – juris). Darin liegt allenfalls ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis (vgl. BVerfG, E.v. 16.4.2002 – BvR 553/02 – InfAuslR 2002, 415 = juris Rn. 2), das vom Bundesamt im Asylverfahren nicht zu berücksichtigen ist. Das Bundesamt ist bei der Beendigung des Aufenthalts erfolgloser Asylbewerber auf die Prüfung und Feststellung von sog. zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten beschränkt, die sich der Sache nach aus der Unzumutbarkeit des Aufenthalts im Zielland für diesen Ausländer herleiten und damit in Gefahren begründet sind, die im Zielstaat der Abschiebung drohen. Die Ausländerbehörde bleibt demgegenüber für die Durchführung der Abschiebung und dabei auch für die Entscheidung über alle inlandsbezogenen und sonstigen tatsächlichen Vollstreckungshindernisse zuständig (BVerwG, B.v. 10.10.2012 – 10 B 39/12 – InfAuslR 2013, 42 = juris Rn. 4 m.w.N.; anders im Rahmen einer Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 AsylVfG, vgl. BVerfG, E.v. 17.9.2014 – 2 BvR 732/14 – AuAS 2014, 244 = juris Rn. 11 f. m.w.N.). Insoweit ist es die Aufgabe der Ausländerbehörde, Vorkehrungen zu treffen, um derartige Gefahren im Zusammenhang mit dem Abschiebungsvorgang auszuschließen.
Nach diesen Maßstäben sind vorliegend die Voraussetzungen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisses gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG und nicht nur diejenigen eines inlandsbezogenen Vollstreckungshindernisses gemäß § 60a Abs. 2 AufenthG gegeben, das allein gegenüber der Ausländerbehörde geltend zu machen wäre. Insofern haben sich die Verhältnisse seit dem Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 10. Februar 2016, mit welchem die Klage vollumfänglich, d.h. auch bezüglich der Feststellung von Abschiebungsverboten, abgewiesen wurde, maßgeblich geändert. Auf die obigen Ausführungen kann verwiesen werden.
Zum einen handelt es sich um hinreichend substantielle, d.h. um anhaltende und konkretisierte Selbsttötungsgedanken, zum anderen hat das depressive Krankheitsbild des Klägers seine Ursache nicht vorrangig in für den Kläger schwierigen Lebensumständen in Deutschland, insbesondere der Angst vor Abschiebung. Die als möglich erachtete Dekompensation bzw. suizidale Krise steht nicht spezifisch in Zusammenhang mit der Abschiebung als solcher, sondern vielmehr mit den spezifischen Verhältnissen im Zielstaat der Abschiebung.
So ist schon nicht davon auszugehen, dass ein Asylbewerber rein zum Zwecke des Erhalts eines Abschiebungsverbots nicht nur Suizidabsichten vorträgt, sondern diese vielmehr sogar in die Tat umsetzt. Zum anderen fand insbesondere der Suizidversuch am 9. Januar 2020 nicht in direktem zeitlichen Zusammenhang mit dem zu diesem Zeitpunkt noch laufenden Gerichtsverfahren statt, in welchem der Kläger mit Ladungsverfügung vom 12. Februar 2020, welche seinem Prozessbevollmächtigten laut Empfangsbekenntnis am 14. Februar 2020 zuging, zur mündlichen Verhandlung geladen wurde. Da der Asylrechtsstreit bereits seit dem 19. Februar 2018 bei Gericht anhängig ist, kann daher in keinem Fall davon ausgegangen werden, dass der Suizidversuch des Klägers vom 9. Januar 2020 nur aus Furcht vor einer – bei Klageabweisung wie in seinen früheren Verfahren – drohenden, nunmehr näher rückenden Abschiebung erfolgte.
d) Nach alledem steht auf Grundlage der vorgelegten ärztlichen Unterlagen, die auch die erforderliche Aktualität aufweisen, zur Überzeugung des Gerichts (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) fest, dass dem Kläger ein Schutzanspruch im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zusteht.
2. Ob daneben auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG erfüllt sind, bedarf an sich keiner exakten Prüfung, da es sich beim national begründeten Abschiebungsverbot um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (vgl. BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – juris Rn. 16 und 17). Daher wird rein ergänzend hierzu wie folgt ausgeführt:
a) Die schlechte wirtschaftliche Situation in Nigeria – hier leben immer noch ca. 70% der Bevölkerung am Existenzminimum und sind von informellem Handel und Subsistenzwirtschaft abhängig (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria – Lagebericht – vom 16.1.2020, Stand: September 2019, Nr. I.2.) – führt ebenso wie die Situation hinsichtlich der verschiedenen gewalttätigen Auseinandersetzungen und Übergriffe, z.T. auch durch die Sicherheitskräfte, und die damit zusammenhängenden Gefahren (Lagebericht a.a.O. Nr. II.2 und 3.) grundsätzlich nicht zu einer individuellen, gerade dem Kläger drohenden Gefahr, sondern ist unter die allgemeinen Gefahren zu subsumieren, denen die Bevölkerung oder relevante Bevölkerungsgruppe allgemein ausgesetzt sind und die gemäß § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG durch Anordnungen gemäß § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen sind.
Der Umstand, dass im Falle einer Aufenthaltsbeendigung die Lage eines Betroffenen erheblich beeinträchtigt würde, reicht allein nicht aus, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen; anderes kann nur in besonderen Ausnahmefällen gelten, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen, wie zum Beispiel im Falle einer tödlichen Erkrankung in fortgeschrittenem Stadium, wenn im Zielstaat keine Unterstützung besteht (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – BVerwGE 146, 12-31, juris, Rn. 23ff m.w.N.). Im Hinblick auf die Bewertung eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK gelten dabei bei der Beurteilung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG die gleichen Voraussetzungen wie bei der Frage der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG wegen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – a.a.O. – Rn. 22, 36).
Auch eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben (§ 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG) für einen Betroffenen aufgrund allgemein für die Bevölkerung bestehender Gefahren, die über diese allgemein bestehenden Gefahren hinausgeht, ist nur im Ausnahmefall im Sinne eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – a.a.O. Rn. 38). Ein Ausländer kann im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die ihn im Abschiebezielstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur ausnahmsweise beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser allgemein bestehenden Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Denn nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für die Betroffenen die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Betroffenen daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der eine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren (zum Ganzen BVerwG, U.v. 31.1.2013 a.a.O. Rn. 38).
b) Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe geht das Gericht vorliegend nach den besonderen Umständen des Einzelfalls von derartigen besonderen Gefahren aufgrund schlechter humanitärer oder wirtschaftlicher Verhältnisse aus. Somit liegen auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG im Fall des Klägers vor. Er wäre im Falle einer Rückkehr nach Nigeria einer besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen würde, dass sein Existenzminimum nicht mehr gesichert wäre. Diese besonderen Umstände resultieren im vorliegenden Einzelfall aus seiner Erkrankung. Maßgeblich hierfür ist die vorgetragene, mit fortlaufenden ärztlichen Berichten belegte und nach der in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Überzeugung für das Gericht feststehende schwere depressive Erkrankung inklusive der Gefahr der Suizidalität des Klägers, die ihn jedenfalls zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung daran hindern wird, seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten zu können.
IV.
Die Entscheidung über die Kosten ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
V.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2, Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 708 ff. der Zivilprozessordnung (ZPO).


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