Aktenzeichen S 12 R 752/15
Leitsatz
Der Nachweis für die den Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung begründenden Tatsachen muss im Wege des Vollbeweises erfolgen. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Das Sozialgericht Nürnberg ist sachlich und örtlich gemäß §§ 51, 57 SGG zuständig.
Die ordnungsgemäß und fristgerecht eingereichte Klage ist zulässig.
Sie ist jedoch nicht begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung. Der Bescheid der Beklagten vom 12.06.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.07.2015 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
Ausgangspunkt der Prüfung ist der umgedeutete Rentenantrag des Klägers vom 13.08.2014. Prüfungsmaßstab ist damit die Vorschrift des § 43 SGB VI in der seit 01.01.2001 geltenden Fassung. Nach § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie
– voll bzw. teilweise erwerbsgemindert sind,
– in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und
– vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung haben nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Erwerbsgemindert ist nach § 43 Abs. 3 SGB VI nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage zu berücksichtigen.
Nach dem Ergebnis der Ermittlungen steht fest, dass ein Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung nicht mit der im Wege des Vollbeweises erforderlichen, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gegeben ist. Das Gericht gelangt zu dieser Auffassung aufgrund der aktenkundigen medizinischen Unterlagen und des Gutachtens sowie der ergänzenden Stellungnahme von Dr. G.. Der Gutachter hat den Gesundheitszustand des Klägers zutreffend erfasst und dass aus den jeweils festgestellten Gesundheitsstörungen abgeleitete Leistungsvermögen ebenso zutreffend beschrieben.
Der Nachweis für die den Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung begründenden Tatsachen muss im Wege des Vollbeweises erfolgen. Dies erfordert, dass die Tatsachen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorliegen müssen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bedeutet dabei, dass bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens der volle Beweis für das Vorliegen der genannten Tatsachen als erbracht angesehen werden kann. Das Gericht muss von der zu beweisenden Tatsache mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit ausgehen können. Es darf dabei kein vernünftiger, in den Umständen des Einzelfalls begründeter Zweifel mehr bestehen. Können die genannten Tatsachen trotz Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten nicht im erforderlichen Vollbeweis nachgewiesen werden, so geht dies nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast zu Lasten des Beteiligten, der aus diesem Sachverhalt Rechte herleiten möchte. Das heißt, für das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen der Erwerbsminderung trägt insoweit der Versicherte die Darlegungssowie die objektive Beweislast.
Der Kläger leidet vorrangig an orthopädischen Gesundheitsstörungen.
Die Diagnosen ergeben sich bereits aus dem Entlassungsbericht über die medizinische Rehabilitationsmaßnahme 2013. Dort wurden ein chronisches Lendenwirbelsäulen-Syndrom, ein Zervikobrachial-Syndrom sowie ein Impingement-Syndrom der Schulter diagnostiziert. Dies bestätigten Dr. S., Dr. G. und auch Prof. Dr. H.. Jedoch ergeben die gemessenen Bewegungsumfänge des Klägers bei den einzelnen Begutachtungen kein einheitliches Bild. Die Gutachter führen die unterschiedlichen Messwerte auf Verdeutlichungstendenzen zurück. Dies gibt zum einen Dr. G. an, der ausführt, dass ein Missverhältnis der Gelenkbeweglichkeit bei der Untersuchung und außerhalb der Untersuchungssituation beim Kläger zu beobachten war. Zum anderen kann auch der eigene Gutachter des Klägers, Prof. Dr. H., das angegebene Missempfinden des rechten Armes und der Schultergürtelregion rechts aus orthopädischer Sicht nicht nachvollziehen, ebenso wie die vom Kläger demonstrierte Muskelschwäche der rechten Schulter- und Oberarmmuskulatur bei ausreichender Muskelbemantelung. Auch die demonstrierte Minderung der Kraft des Faustschlusses der rechten Hand kann durch Prof. Dr. H. nicht erklärt werden.
Diese Unstimmigkeiten ergeben sich auch aus einer Übersicht der Messwerte.
Dr. S. Dr. G. Prof. Dr. H. Norm
Schober 10 / 13,5 cm 10 / 11 cm 10 / 14 cm 10 / 15 cm
Ott 30 / 32 cm 30 / 31 cm 30 / 33 cm 30 / 34 cm
FBA 55 cm Höhe der Kniegelenke 50 cm
HWS
Seitneigen 30 / 0 / 30° rechts und links vom Kl. nicht durchgeführt 30 / 0 / 30° rechts und links 45 / 0 / 45°
Drehen 30 / 0 / 30° rechts und links 20 / 0 / 20° rechts 10 / 0 / 10° links 60 / 0 / 50° rechts und links 60-80 / 0 / 60-80°
LWS / BWS
Drehen 30 / 0 / 40° rechts und links 15 / 0 / 15° rechts und links 30-40 / 0 / 30-40°
Seitneigen 20 / 0 / 20° rechts und links 10 / 0 / 10° rechts und links 30-40 / 0 / 30-40°
Schulter
Abspreizen und Anlegen 120 / 0 / 20° rechts 150 / 0 / 25° links rechter Arm wird kaum angehoben 170 / 0 / k.A. links 160 / 0 / 40° rechts 180 / 0 / 40° links 180 / 0 / 20-40° Rück- und Vorführen 30 / 0 / 100° rechts 40 / 0 / 150° links k.A. / 0 / 50° rechts
k. A. / 0 / 170° links 40 / 0 / 140° rechts 40 / 0 / 170 ° links 40 / 0 / 150-170°
Außen- und Innendrehung bei anliegendem Arm 50 / 0 / 90° rechts 60 / 0 / 90° links korrekt durchführbar 70 / 0 / 90° rechts 80 / 0 / 90° links 40-60 / 0 / 95°
Außen- und Innendrehung bei abduziertem Arm 45 / 0/ 45° rechts 90 / 0 / 45° links 90 / 0 / 70° rechts 90 / 0 / 80° links 70 / 0 / 70°
Ellenbogengelenke
Strecken und Beugen 0 / 0 / 140° rechts und links 0 / 0 / 140° rechts 10 / 0 140° links 10 / 0 / 140° rechts und links 10 / 0 / 150°
Außen- und Innendrehung 90 / 0 / 90° rechts und links korrekt durchführbar 90 / 0 / 90° rechts und links 80-90 / 0 / 80-90°
Kniegelenke
Streckung und Beugung 0 / 0 / 130° rechts
0 / 0 / 125° links vom Kläger nicht ausgeführt, beim Sitzen 90° 5 / 0 / 130° rechts
0 / 0 / 110° links 5-10 / 0 / 120-150°
Hüfte
Streckung / Beugung 0 / 0 / 90° rechts
0 / 0 / 95° links 0 / 0 / 90° rechts
0 / 0 / 130° links 10 / 0 / 140° rechts und links 10 / 0 / 130°
Abspreizen / Anführen 30 / 0 / 20° rechts und links rechts nicht messbar 140 / 0 / 20° links 30 / 0 / 30° rechts 60 / 0 / 30° links 30-45 / 0 / 20-30°
Drehung 30 / 0 / 25° rechts und links rechts nicht messbar 30 / 0 / 20° links 30 / 0 / 40° rechts 40 / 0 / 40° links 30-45 / 0 / 40-50°
Oberes Sprunggelenk
Heben und Senken 10 / 0 / 30° rechts und links 20 / 0 / 50° rechts und links 20 / 0 / 40° rechts und links 20-30 / 0 / 40-50°
Die Messwerte des Gutachters Prof. Dr. H. ergeben eine gute Seitbeugung und eine gute altersgemäße Drehbewegung in der Halswirbelsäule. Diese war deutlich besser als bei der Untersuchung durch Dr. G. oder auch Dr. S.. Dagegen war die Beweglichkeit der Lendenwirbelsäule bei der Untersuchung durch Dr. G. nur leichtgradig eingeschränkt, bei Prof. Dr. H. jedoch mittelgradig.
Der Kläger und auch Prof. Dr. H. geben einen eingeschränkten Bewegungsumfang im rechten Schultergelenk an. Das Schultergelenk kann aber noch um etwa 160° gehoben werden. Dies ist fast normgemäß. Zudem ist das Ergebnis der Messwerte deutlich besser als bei der Untersuchung durch Dr. G. und auch Dr. S..
Auch an den unteren Extremitäten spricht Prof. Dr. H. von einer eingeschränkten Beweglichkeit im rechten Hüftgelenk. Während jedoch das rechte Hüftgelenk bei der Untersuchung von Dr. G. und auch bei der Untersuchung durch Dr. S. nur zu 90° beugbar war, konnte der Kläger es bei der Untersuchung von Prof. Dr. H. um etwa 140° beugen, wobei nur das Abspreizen eingeschränkt war.
An den Kniegelenken ist bei der Untersuchung durch Prof. Dr. H. und bei der Untersuchung durch Dr. S. die Beugung im linken Knie um etwa 20-30° eingeschränkt. Bei der Untersuchung durch Dr. G. war eine Beugung in beiden Kniegelenken nicht möglich, wobei aber beim Sitzen und auch beim An- und Auskleiden eine Beugung über 90° möglich war.
Aus diesen Feststellungen kann auch das Gericht keine erheblichen Funktionseinschränkungen beim Kläger feststellen, die es ihm untersagen leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts 6 Stunden und mehr täglich zu verrichten. Insoweit sind auch die Schlussfolgerungen von Prof. Dr. H. für das Gericht keinesfalls nachvollziehbar.
Hinzu kommt, dass sich der Kläger nicht in psychiatrischer Behandlung befindet. Die von Dr. G. als Dysthymie mit Hinweisen auf eine chronische Schmerzstörung und von Prof. Dr. H. als Verdacht auf eine somatisierende depressive Verstimmung benannte Gesundheitsstörung ist völlig unbehandelt. Daran ändert auch der Besuch bei der Neurologin Dr. B. im Dezember 2016 nichts. Diese hat außer der Diagnose „chronische Schmerzstörung mit psychischen und physischen Faktoren“ keine weiteren Behandlungsschritte eingeleitet. In diesem Zusammenhang weist das Gericht auf die einschlägige Rechtsprechung, insbesondere des Bayerischen Landessozialgerichts hin, die besagt, dass bei psychischen Erkrankungen eine Rente erst in Betracht kommt, wenn alle zur Verfügung stehenden Therapieoptionen (medikamentös, therapeutisch, ambulant, stationär) wahrgenommen wurden (vgl. unter anderem Bayerisches LSG, Urteile vom 18.03.2015, Az. L 19 R 495/11, vom 22.10.2014, Az. L 19 R 313/12 und vom 21.03.2012, Az. L 19 R 35/08, aber auch BSG, Urteil vom 29.03.2006, Az. B 13 RJ 31/05 R). Dies ist vorliegend beim Kläger (noch) nicht geschehen. Auch wenn die psychische Problematik erst im Laufe des gerichtlichen Verfahrens aufgetreten sein sollte, denn Dr. L. konnte am 25.02.2015 keinen krankhaften Befund auf nervenärztlichem Fachgebiet finden, so war aufgrund der langen Dauer des gerichtlichen Verfahrens genügen Zeit entsprechende therapeutische Schritte einzuleiten. Die zur Verfügung stehenden Behandlungsmöglichkeiten wurden vom Kläger jedoch nicht wahrgenommen, so dass eine Begutachtung auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet nicht erforderlich ist. Die eventuell vorliegenden Gesundheitsstörungen sind nicht behandelt und führen daher, wie oben dargestellt, nicht zur Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung.
Bezüglich der vom Kläger genannten konstitutionellen Hypermobilität, welche während der Rehabilitationsmaßnahme 2011 festgestellt wurde, ist auszuführen, dass dies lediglich eine Diagnose ist. Entscheidend bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit sind die aufgrund der jeweiligen Gesundheitsstörung bestehenden Funktionseinschränkungen. Hierzu haben die Gutachter entsprechend Stellung genommen. Erhebliche Funktionseinschränkungen waren bei den Begutachtungen entsprechend der Messwerttabellen, insbesondere aufgrund der Diskrepanzen bei den Untersuchungen, nicht festzustellen.
Soweit der Kläger meint, sich subjektiv nicht mehr in der Lage zu fühlen einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, kann hierauf nicht abgestellt werden, denn die subjektive Einschätzung begründet keinen Rechtsanspruch. Die objektiv erhobenen Befunde der Gutachter sind eindeutig und stützen das Begehren einer Rente wegen voller Erwerbsminderung nicht. Entscheidend für die erwerbsminderungsrechtlich relevante Leistungseinschätzung sind allein die auf einer Krankheit oder einem Krankheitskomplex beruhenden Funktionsausfälle oder Funktionseinschränkungen. Diese zeigen hier, dass dem Kläger auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt leichte Tätigkeiten weiterhin vollschichtig möglich sind.
Dass der Kläger seine letzte Tätigkeit als Schreinermeister aufgrund der orthopädischen Einschränkungen nicht mehr ausüben kann, wurde durch die Beklagte bereits durch die Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit auf Dauer berücksichtigt.
Nach alldem besteht gemäß § 43 SGB VI kein Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.