Medizinrecht

Rentenversicherungsrecht: Anspruch auf Änderung der Versicherungsnummer bzw. des Geburtsdatums

Aktenzeichen  L 13 R 496/15

Datum:
20.3.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 8049
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB I § 33a
SGB VI § 147, § 152 Nr. 3
SGB X § 21
SGG § 128
ZPO § 415

 

Leitsatz

1. Ein handschriftlich geführtes Taufbuch einer aramäischen Kirchengemeinde in der Türkei stellt eine Urkunde dar, die geeignet ist, ein anderes Geburtsdatum iSd § 33a SGB I zu belegen.
2. Die Entscheidung über die Frage, ob sich hieraus ein anderes Geburtsdatum ergibt, ist eine Entscheidung, die vom Gericht im Rahmen freier Beweiswürdigung zu treffen ist.
3. Dabei können sowohl Zeugenaussagen als auch Beteiligtenvortrag herangezogen werden.

Verfahrensgang

S 2 R 641/14 2015-06-15 Urt SGAUGSBURG SG Augsburg

Tenor

I. Auf den Antrag des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 15.06.2015 sowie der Bescheid der Beklagten vom 19.08.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.05.2014 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, an den Kläger eine neue Versicherungsnummer unter Zugrundelegung des Geburtsdatums 27.08.1951 zu vergeben.
II. Die Beklagte erstattet dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die Berufung ist gemäß §§ 143,151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig, insbesondere statthaft und form- und fristgerecht eingelegt.
Sie ist auch begründet, weil zur Überzeugung des Senats feststeht, dass der Kläger am 17.08.1951 getauft worden ist und daher spätestens an diesem Tag geboren sein muss. Die Beklagte ist daher verpflichtet, die Versicherungsnummer des Klägers unter Berücksichtigung dieses Datums zu ändern.
1. Richtige Klageart für das Begehren des Klägers ist die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage. Die Neuvergabe einer Versicherungsnummer stellt einen Verwaltungsakt dar (vgl. BSG, Urteil vom 05.04.2001, B 13 RJ 35/0 0 R). Dementsprechend wurde der Antrag des Klägers auf Änderung der Versicherungsnummer von der Beklagten auch durch Verwaltungsakt abgelehnt.
2. Der Kläger hat Anspruch auf Vergabe einer neuen Versicherungsnummer unter Berücksichtigung eines Geburtsdatums am 17.08.1951, weil festgestellt worden ist, dass er tatsächlich nicht am 03.02.1954, sondern spätestens am 17.08.1951 geboren ist. Das vorliegend streitige Geburtsdatum ist gem. § 147 Abs. 2 Nr. 2 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) Teil der Versicherungsnummer.
Der Anspruch auf Vergabe bzw. Neuvergabe (Berichtigung) einer Versicherungsnummer richtet sich nach § 147 und § 152 Nr. 3 SGB VI i.V.m. der Versicherungsnummern-, Kontoführungs- und Versicherungsverlaufsverordnung vom 30. März 2001 (BGBl. I S. 475), die zuletzt durch Artikel 22 Absatz 8 des Gesetzes vom 11. November 2016 (BGBl. I S. 2500) geändert worden ist (VKVV) und die die frühere Versicherungsnummer-Verordnung (VNrV) abgelöst hat. Nach § 147 Abs. 1 Satz 1 SGB VI kann der Träger der Rentenversicherung für Personen eine Versicherungsnummer vergeben, wenn dies zur personenbezogenen Zuordnung der Daten für die Erfüllung einer gesetzlichen Aufgabe nach diesem Gesetzbuch erforderlich oder dies durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes bestimmt ist. Für die nach dem SGB VI versicherten Personen hat er eine Versicherungsnummer zu vergeben (§ 147 Abs. 1 Satz 2 SGB VI). Nach § 147 Abs. 2 SGB VI setzt sich die Versicherungsnummer einer Person aus der Bereichsnummer des zuständigen Trägers der Rentenversicherung, dem Geburtsdatum, dem Anfangsbuchstaben des Geburtsnamens, der Seriennummer, die auch eine Aussage über das Geschlecht einer Person enthalten darf, und der Prüfziffer zusammen. Nach § 3 Abs. 1 VKVV werden Versicherungsnummern, in denen das Geburtsdatum oder die Seriennummer unrichtig sind oder Versicherungsnummern, die aufgrund einer nach § 33a Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) zu berücksichtigenden Änderung des Geburtsdatums fehlerhaft geworden sind, gesperrt und die Versicherten erhalten eine neue Versicherungsnummer.
Ob eine Versicherungsnummer wegen eines unzutreffenden Geburtsdatums unrichtig ist, bestimmt sich nach § 33a SGB I. Sind Rechte oder Pflichten davon abhängig, dass eine bestimmte Altersgrenze erreicht oder nicht überschritten ist, ist das Geburtsdatum maßgebend, das sich aus der ersten Angabe des Berechtigten oder Verpflichteten oder seiner Angehörigen gegenüber einem Sozialleistungsträger oder, soweit es sich um eine Angabe im Rahmen des Dritten oder Sechsten Abschnitts des Vierten Buches handelt, gegenüber dem Arbeitgeber ergibt. Von einem nach Abs. 1 maßgebenden Geburtsdatum darf gemäß § 33 Abs. 2 SGB I nur abgewichen werden, wenn der zuständige Leistungsträger feststellt, dass
– ein Schreibfehler vorliegt oder
– sich aus einer Urkunde, deren Original vor dem Zeitpunkt der Angabe nach Abs. 1 ausgestellt worden ist, ein anderes Geburtsdatum ergibt.
Diese Regelungen gelten gemäß § 33 Abs. 3 SGB I für Geburtsdaten, die Bestandteil der Versicherungsnummer oder eines anderen in den Sozialleistungsbereichen dieses Gesetzbuches verwendeten Kennzeichens sind.
§ 33a SGB I in der Fassung vom 16.12.1997 soll die rechtsmissbräuchliche Inanspruchnahme von Sozialleistungen in den Fällen vermeiden, in denen aufgrund einer Änderung von Geburtsdaten ein längerer Bezug von Sozialleistungen (z.B. bei kindbezogenen Leistungen) oder ein früherer Bezug (z.B. einer Altersrente) beantragt wird. Dabei nimmt die Gesetzesordnung vor allem Bezug auf die in ausländischen Rechtsordnungen vorgesehene Möglichkeit, das Geburtsdatum durch eine gerichtliche Entscheidung nachträglich zu ändern, wovon gerade türkische Arbeitnehmer in der Vergangenheit vermehrt Gebrauch gemacht haben (BT-Drs. 13/8994, S. 67 und grundlegend Seewald in Kassler Kommentar, 96. Aufl. 2017, § 33a SGB I, Rn. 2ff). Durch die Regelung in § 33a SGB I soll – die zuvor besonders verwaltungsintensive Prüfung vereinfachend – sichergestellt werden, dass solche Änderungen im deutschen Sozialrecht grundsätzlich nicht berücksichtigt werden und dass grundsätzlich das Geburtsdatum maßgebend ist, dass zuerst gegenüber einem Sozialleistungsträger angegeben wurde. Damit hat der Gesetzgeber die Anknüpfung an das „wahre“ Geburtsdatum aufgegeben und das im Geltungsbereich des SGB für altersabhängige Rechte und Pflichten maßgebende Geburtsdatum eigenständig definiert (BSG, Urteil vom 05.04.2001 – B 13 RJ 35/00 R – juris, Rdnr. 19).
Vorliegend hat der Kläger bis zu seinem Änderungsantrag, den er mit Schreiben seines Bevollmächtigten vom 18.06.2013 gestellt hat, als Geburtsdatum den 03.02.1954 angegeben. Dieses war auch Grundlage für die Vergabe der Vers.-Nr. 18 030254 O 022 durch die Beklagte am 13.04.1988 und ist damit zunächst maßgebend im Sinne des § 33a Abs. 1 SGB I.
Da weder vorgetragen noch erkennbar ist, dass dieses Geburtsdatum auf einem Schreibfehler beruht, kommt es entscheidend darauf an, ob sich aus eine Urkunde, deren Original vor dem Zeitpunkt der Angabe nach Abs. 1 ausgestellt worden ist, ein anderes Geburtsdatum ergibt (§ 33a Abs. 2 Nr. 2 SGB I).
Dabei gelten nach der Rechtsprechung des BSG (grundlegend Urteil vom 05.04.2001, a.a.O.) folgende Grundsätze:
Ein Geburtsdatum ist i.S. des § 33a SGB I nicht erst dann fehlerhaft, wenn sich nach Tag, Monat und Jahr ein (vollständig) anderes Geburtsdatum ergibt (BSG, Urteil vom 09.04.2003 – B 5 RJ 32/02 R -).
Der Begriff der Urkunde richtet sich nach allgemeinen Bestimmungen, wobei nicht nur Personenstandsunterlagen bzw. nur solche Urkunden herangezogen werden können, die das Geburtsdatum unmittelbar selbst dokumentieren. Danach sind Urkunden alle durch Niederschrift verkörperten Gedankenerklärungen, die geeignet sind, im Rechtsverkehr Beweis zu erbringen. Im sozialgerichtlichen Verfahren stellen sie Beweismittel i.S.d. § 21 Abs. 1 Nr. 3 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) dar.
Nach den allgemeinen Bestimmungen ist unter einer Urkunde i.S. von § 33a SGB I jede schriftliche Verkörperung eines Gedankens zu verstehen (auch hierzu grundlegend, BSG Urteil vom 05.04.2001, a.a.O.; Thomas in Thomas/Putzo, ZPO, 40. Aufl. 2019, Vorb. zu § 415 Rn. 1), wobei Aussteller und die Art und Weise der Herstellung zunächst unerheblich sind. Auch Taufbücher stellen nach diesen allgemeinen Bestimmungen Urkunden dar. Nicht zu den Merkmalen der Urkunde gehört deren Beweiskraft. Im Unterschied zum Strafrecht kommt es beim Urkundsbeweis i.S.v. § 21 Abs. 1 Nr. 3 SGB X nicht darauf an, dass die Urkunde einen Aussteller erkennen lässt und im Rechtsverkehr von Bedeutung ist, sondern der Urkundenbeweis dient im Verfahrensrecht der Ermittlung und Verwertung des gedanklichen Inhalts eines Schriftstücks (Luthe in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl. 2017, § 21 Rn. 30).
Dass nur Urkunden zu berücksichtigen sind, deren Original vor der ersten Angabe des Versicherten i.S. von § 33a Abs. 1 SGB I ausgestellt worden ist, bedeutet nicht, dass das Original der Urkunde vorliegen muss. Gerade Urkunden, die von einer öffentlichen Behörde innerhalb der Grenzen ihrer Amtsbefugnisse oder von einer mit öffentlichem Glauben versehenen Person innerhalb ihres Geschäftskreises in der vorgeschriebenen Form aufgenommen worden sind, befinden sich häufig in amtlicher Verwahrung. In diesem Fall ist ausschlaggebend, ob zur vollen Überzeugung des Gerichts festgestellt werden kann, dass eine Urkunde, deren Original vor dem Zeitpunkt der ersten Angabe i.S. des § 33a Abs. 1 SGB I ausgestellt worden ist, ein anderes Geburtsdatum ergibt. Daher kann für die Überzeugungsbildung des Gerichts auch eine Kopie oder Fotografie von Bedeutung sein, unabhängig davon, wann diese angefertigt worden ist.
§ 33a Abs. 2 SGB I verlangt auch nicht, dass das Geburtsdatum als solches in der Urkunde ausdrücklich und vollständig vermerkt ist; es „ergibt“ sich aus der Urkunde auch, wenn die durch die Urkunde bewiesenen Tatsachen zur vollen Überzeugung des Gerichts auf ein abweichendes Geburtsdatum i.S. des § 33a Abs. 2 SGB I schließen lassen.
2.1. Die vorgelegten Auszüge aus dem Taufregister stellen Urkunden i.S.d. § 33a SGB I dar. Das gilt sowohl für das Originalregister als auch für die später gefertigte Abschrift.
Für die Frage, welche Tatsachen durch eine Urkunde bewiesen werden, und für deren Echtheit gelten nach § 118 SGG die besonderen Beweisregeln der §§ 415 bis 419 ZPO bzw. die §§ 437 bis 440 ZPO entsprechend (BSG, Urteil vom 28.04.2004 – B 5 RJ 33/03 R -, juris). Dabei besteht nach den hier auch zu beachtenden europarechtlichen Grundsätzen die Verpflichtung, von der Behörde eines anderen Mitgliedstaates ausgestellte Urkunden zu beachten, sofern deren Richtigkeit nicht durch konkrete, auf den Einzelfall bezogene Anhaltspunkte ernstlich in Frage gestellt ist (EUGH Urteil vom 2. Dezember 1997 – C-336/94 – SozR 3-7670 § 66 Nr. 1). Im Übrigen entscheidet das Gericht insbesondere über die Frage, welche Bedeutung die durch eine Urkunde i.S. der Beweisregeln bewiesenen Tatsachen für das Beweisthema haben, in freier Beweiswürdigung.
2.2. Das Originaltaufbuch ist zur Überzeugung des Senats auch vor dem Zeitpunkt ausgestellt worden, zu dem der Kläger erstmals gegenüber einem Sozialleistungsträger Angaben zu seinem Geburtsdatum im Sinne des § 33a Abs. 1 SGB I gemacht hat. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob hinsichtlich der Erstangaben auf die erste Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung im Jahr 1970, damals wurde die Versicherungsnummer 18 260054 O 008 vergeben, abzustellen ist, oder auf die Vergabe der nunmehrigen Versicherungsnummer am 13.04.1988. Wann die Fotografien angefertigt worden sind, ist ebenfalls unerheblich. Der Senat hat keine Zweifel daran, dass dieses in mehreren Handschriften geführte Taufbuch mit einer chronologischen Darstellung aller Geburten zeitnah erstellt und nicht nachträglich abgeschrieben oder gar zur Vorlage bei Gericht erstellt worden ist. Vom Kläger sind neben Fotos von einzelnen Seiten auch Fotos vom Originaltaufbuch mit Deckblatt vorgelegt worden, aus denen sich der insgesamt sehr schlechte Zustand ergibt. Es handelt sich danach offensichtlich um ein altes Buch, das sich gerade in der Mitte zunehmend auflöst, weswegen es inzwischen auch in einer neuen Abschrift vorliegt, die anders als die von unterschiedlichen, nicht immer zweifelsfrei leserlichen und durchaus mit Streichungen und Korrekturen versehenen handschriftlichen Einträgen geprägte Urschrift sorgfältig und stringent in einer Handschrift gefertigt worden ist. Die Beklagte hat für ihre Zweifel an der Echtheit des Taufbuchs und der zeitnahen Eintragung der dort verzeichneten Taufen über ein allgemeines Misstrauen hinaus auch keine konkreten Anhaltspunkte benennen können. Fest steht allerdings, dass die Abschrift des Taufbuchs, die im Berufungsverfahren vorgelegt worden ist, nach dem gemäß § 33a Abs. 1 SGB I maßgebenden Zeitpunkt erstellt worden ist. Der Senat hat für seine Entscheidung hierauf aber nicht abgestellt. Maßgebend für die Feststellung eines anderen Geburtsdatums ist das Originaltaufbuch, das dem Senat sowohl in Kopie als auch in gut lesbaren Fotografien vorgelegt worden ist und an dessen Echtheit und Beweiskraft der Senat keine Zweifel hat.
2.3. Das Taufregister ist keine öffentliche Urkunde im Sinn des § 415 Abs. 1 ZPO. Öffentliche Urkunden sind danach Urkunden, die von einer öffentlichen Behörde innerhalb der Grenzen ihrer Amtsbefugnisse oder von einer mit öffentlichem Glauben versehenen Person innerhalb des ihr zugewiesenen Geschäftskreises in der vorgeschriebenen Form aufgenommen sind. Diese begründen, wenn sie über eine vor der Behörde oder der Urkundsperson abgegebene Erklärung errichtet sind, vollen Beweis des durch die Behörde oder die Urkundsperson beurkundeten Vorganges. Es kann aber als ausgeschlossen angesehen werden, dass christliche Gemeinden in der Türkei in den fünfziger Jahren als öffentliche Behörden fungiert haben (vgl. zu den Anforderungen im Einzelnen Geimer in Zöller, Zivilprozessordnung, 32. Aufl. 2018, § 415 ZPO).
Das bedeutet, dass die beurkundete Tatsache nicht bereits durch die Beurkundung an sich nachgewiesen ist, sondern dass nach allgemeinen Grundsätzen des Beweisrechts zu entscheiden ist.
Gemäß § 128 SGG entscheidet der Senat dabei nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung, wobei die anspruchsbegründenden Feststellungen grundsätzlich nach dem Maßstab des Vollbeweises zu treffen sind, soweit sich nicht aus dem materiellen Recht im Einzelfall ein geringerer Maßstab – etwa Wahrscheinlichkeit oder Glaubhaftmachung – ergibt (so BSG in ständiger Rspr., aktuell etwa im Urteil vom 15.12.2016 – B 5 RS 4/16 R -, juris, dort Rn. 14). Derartige Abweichungen vom Regelbeweismaß bedürfen aber einer gesetzlichen Grundlage und bestehen vorliegend nicht. Die entscheidungserheblichen Tatsachen, hier die Feststellung eines anderen Geburtsdatums aus dem Taufbuch, muss mit einem an Sicherheit oder Gewissheit grenzenden Grad der Wahrscheinlichkeit, der ernste, vernünftige Zweifel zum Schweigen bringt, festgestellt werden. Ob dieser Grad der inneren Überzeugung erreicht ist, kann nicht allgemein und objektiv, sondern allein aus Sicht des entscheidenden Richters im konkreten Fall bestimmt werden. Das ist letztlich der Kern bzw. der Ausdruck der freien Beweiswürdigung (Giesbert in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl. 2017, § 128 SGG, Rn. 26). Dabei können auch Unterlagen berücksichtigt werden, die zeitlich jüngeren Datums sind. Denn der zeitliche Ausschluss durch das Erfordernis einer früheren Urkunde bezieht sich nur auf die Ausstellung der Urkunde, aus deren Original sich ein anderes Geburtsdatum ergeben soll, hier das alte Taufbuch. Der Gesetzgeber hat damit lediglich das Nachschieben von neuen Tatsachen in dem Sinn begrenzt, dass neuere Urkunden als Beweismittel von Gesetzes wegen ausgeschlossen sein sollen, um – vor dem Hintergrund von Erfahrungen der Sozialleistungsträger – einen Missbrauch durch nachträglich erfolgte Beurkundungen auszuschließen (Seewald, a.a.O., Rn. 33). Im Rahmen der freien Beweiswürdigung können sowohl der Beteiligtenvortrag als auch Zeugenaussagen berücksichtigt werden und es dürfen auch allgemein bekannte Erkenntnisse mit einbezogen werden (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auflage 2017, § 128 Rn. 4).
2.4. Grundsätzlich bestehen aufgrund der Art und Weise, in der das Taufbuch geführt worden ist, zunächst keine durchgreifenden Zweifel daran, dass die Taufen darin ordnungsgemäß und zutreffend beurkundet worden sind. Die Taufen sind chronologisch und systematisch verzeichnet, wobei zunächst der Vorname des Täuflings aufgeführt ist, dann weitere Namen; nach Angaben des Klägers und des mit der Führung von Taufbüchern vertrauten Zeugen C. handelt es sich dabei um den Namen des Vaters, dann den des Großvaters sowie anschließen den Familien-/Sippennamen. Zum Teil ist auch nur ein weiterer Vorname (Vater oder Großvater) genannt. Ferner sind eingetragen die Kirche, der taufende Priester und der oder die Taufpaten. Die Einträge sind entsprechend der aramäischen Schreibweise von rechts nach links zu lesen. Vereinzelte Streichungen und Korrekturen, die offensichtlich zeitnah vorgenommen worden sind, sind nicht geeignet, die Beweiskraft grundsätzlich zu erschüttern. Der Zeuge C. hat ergänzend ausgesagt, dass die Taufe nach dem Recht der syrisch-orthodoxen Kirche vorzunehmen war, sobald der Nabel verheilt ist, also in der Regel ein bis zwei Wochen nach der Geburt. Dem somit grundsätzlich zeitnah geführten Taufregister kommt eine höhere Beweiskraft zu als nachträglich ausgestellten Bescheinigungen, etwa Schulbescheinigungen, bei denen regelmäßig nicht bekannt ist, auf welcher Grundlage die Daten eingetragen worden sind (vgl. etwa Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 30.04.2014 – L 20 R 872/12 -, juris).
Aus dieser Urkunde ergibt sich, dass eine Person namens (bzw. Gi. oder evtl. auch Gü. oder G.) G. N. M. am 17.08.1951 in der Kirche St. M. in M. in der Türkei von Pfarrer N. getauft worden ist. Das haben sowohl der Sachverständige Zeuge H. als auch der zum Termin geladene schriftkundige Dolmetscher wie auf Vorhalt des Taufbuchs auch der Zeuge C., der als Priester ebenfalls schriftkundig ist, bestätigt. Leidglich nicht sicher ausgeschlossen werden kann danach nach Aussage des Zeugen H., ob es sich bei dem Konsonaten in der Mitte um ein „n“ oder ein „l“ handelt, da nach dem handschriftlichen Eintrag der entsprechende Buchstabe für ein „n“ vergleichsweise lang dargestellt ist, allerdings auch kürzer als üblicherweise ein „l“. Der Zeuge C. war dagegen der Meinung, dass es sich sicher um ein „n“ handle. Fest steht danach auch, dass Vokale in der aramäischen Schrift keine Rolle spielen und allenfalls zur Erleichterung der Lesbarkeit mit kleinen hochgestellten Zeichen dargestellt werden können, wie es später in der Abschrift erkennbar ist. Diese sind im Originaltaufbuch allerdings nicht enthalten. Der Name kann daher sowohl Gi. als auch G. bzw. evtl. G. oder Gü. heißen. Die beiden am Ende verbundenen Querstriche, die auch als Streichung bzw. Korrektur angesehen werden können, stellen tatsächlich nach übereinstimmender Aussage aller Schriftkundigen in der mündlichen Verhandlung einen Buchstaben dar, der dazu führt, dass das stimmlose „G“ zu Beginn als stimmhaftes „Tsch“ ähnlich dem englischen „G“ etwa in George ausgesprochen wird, was auch der Aussprache des Vornahmens des Klägers in der aramäischen Sprache entspricht. Die nachfolgenden Eintragungen „G. N. M.“ sowie der taufende Pfarrer und der Taufpate sind danach zweifelsfrei gut leserlich.
2.5. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht auch zur Überzeugung des Senats fest, dass es sich bei der am 17.08.1951 getauften Person um den Kläger gehandelt hat. Ernste, vernünftige Zweifel bestehen danach nicht mehr und wären allenfalls dann gerechtfertigt, wenn man das Taufbuch als Beweismittel grundsätzlich ablehnen wollte oder die Angaben des Klägers und des Zeugen insgesamt als unglaubwürdig ansehen würde. Dafür besteht aber keine Veranlassung. Sowohl der Kläger als auch der Zeuge haben spontan, widerspruchsfrei und im Wesentlichen überstimmend ausgesagt, ohne dass in irgendeiner Form eine Absprache zutage getreten wäre. Ohne dass es hierauf entscheidend ankommt, hat der Dolmetscher, der wie der Kläger und Zeuge aus M. stammt, allerdings deutlich jünger ist und daher beide in M. noch nicht kannte, deren Angaben zu den Strukturen und behördlichen Verfahrensweisen bestätigt. Auch die übrigen vorgelegten Unterlagen lassen ein Geburtsdatum des Klägers im Jahr 1951 als wesentlich wahrscheinlicher erscheinen als eines im Jahr 1954. Dem Senat ist im Rahmen seiner Beweiswürdigung nicht verwehrt, auch solche Umstände heranzuziehen, um sich von der Beweiskraft und Richtigkeit der Urkunde zu überzeugen.
Die übrigen Unterlagen, die ausnahmslos auf dem von den türkischen Behörden aufgenommenen Geburtsdatum 03.02.1954 beruhen, sind demgegenüber ebenso unrichtig wie das Geburtsdatum selbst. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Kläger, der bisher über keine andere Legitimation verfügt hat, bisher nur dieses Geburtsdatum verwenden konnte. Dass die auf dieser Grundlage erstellten Urkunden, etwa die Legitimationskarte, die Unterlagen des Militärs und die deutschen und türkischen Personaldokumente wie auch die Einbürgerungsurkunde der Regierung von Schwaben vom 22.06.1993 aufgrund eigener Prüfung der ausstellenden Behörden ausgestellt worden sind, kann nicht festgestellt werden, weswegen aus der Tatsache, dass die meisten vorgelegten Dokumente das „falsche“ Geburtsdatum aufweisen keine zusätzliche Beweiskraft für dieses Geburtsdatum beigemessen werden kann. Dem Kläger mag vorgeworfen werden, dass er sich erst im Zusammenhang mit einer – aufgrund des zunächst angegebenen Alters – mit Abschlägen verbundenen vorgezogenen Altersrente entschieden hat, ein anderes Geburtsdatum feststellen zu lassen. Deswegen sind auch die Angaben besonders gründlicher Überprüfung zu unterziehen. Dass er dies aber rechtsmissbräuchlich zu einem früheren Zeitpunkt unterlassen hat, etwa um in den Genuss bestimmter an ein späteres Geburtsdatum geknüpfter Leistungen zu kommen, kann nicht festgestellt werden. Vielmehr hat das Geburtsdatum für den Kläger bis zu diesem Zeitpunkt keine Rolle gespielt, was sich auch in der persönlichen Einvernahme bestätigt hat. Der Kläger selbst wusste zu keinem Zeitpunkt, wie alt er wirklich war. Er hatte stets nur eine ungefähre Vorstellung, so in Relation zu dem Zeugen oder seinen Geschwistern. Vor allem kann es inzwischen nicht mehr darauf ankommen, ob der Kläger möglicherweise aufgrund seiner (angegebenen) Minderjährigkeit Vorteile erhalten hat, als er 1970 das erste Mal zu seiner Mutter nach Deutschland gekommen ist.
Deswegen war auch dem Beweisantrag der Beklagten auf Anforderung der möglicherweise noch vorhandenen Ausländerakte nicht nachzukommen. Abgesehen davon, dass die Beklagte nicht ansatzweise erläutert hat, welche Tatsache damit bewiesen werden soll, geht der Senat davon aus, dass der Kläger bzw. wohl damals seine Mutter das „offizielle“ türkische Geburtsdatum 03.02.1954 angegeben hat.
Für die Identität des Klägers mit der im Taufbuch eingetragenen Person spricht insbesondere die Namenskombination mit dem Vaters-/Großvaters- und Sippennamen. Die Namen des Vaters und Großvaters (G. bzw. N.) sind anhand weiterer Urkunden, insbesondere der Urkunde über die Entlassung des Vaters aus der türkischen Staatsbürgerschaft belegt. Der Sippenname (M. bzw. M.h) ergibt sich aus den Angaben des Klägers und des Zeugen sowie dem vorgelegten Stammbaum. Auch die Geschwister des Klägers sind danach entweder mit dem Namen des Vaters oder des Großvaters und in jedem Fall mit diesem Stammesnamen im Taufbuch eingetragen. Dazu kommt der türkische Vorname, wobei es keine entscheidende Rolle spielt, ob der Kläger darin mit „l“ oder mit „n“ geschrieben ist.
Die Angaben des Klägers, wonach sie als christliche Minderheit mehr oder weniger gezwungen gewesen seien, türkische Namen, so auch den Familiennamen „A.“ anzunehmen, hat der Zeuge C. bestätigt. Auch dieser ist mit einem aramäischen Namen im Taufbuch eingetragen, hat aber jahrelang einen türkischen Nachnamen (K.) geführt. Der Kläger hat dazu angegeben, dass in seinem Fall der Vater habe „auf Nummer sicher gehen wollen“ und ihm zum Schutz vor möglichen Repressalien zusätzlich zum türkischen Familiennamen einen türkischen Vornamen gegeben habe. An der Richtigkeit dieses Sachverhalts und dem grundsätzlichen Nebeneinander von türkischen und aramäischen Namen hat der Senat keinen ernsthaften Zweifel.
Sowohl der Kläger als auch der Zeuge C. waren sich sicher, dass es keine andere Familie G. N. M. in M. gegeben hat. Dazu haben beide umfangreich ausgesagt und erläutert, welche anderen Bruder- bzw. Cousinfamilien mit entsprechend anderen Kombinationen es in M. und in anderen Städten gegeben hat. Der Zeuge, der mit dem Kläger zusammen aufgewachsen ist, hat spontan weitere Namenskombinationen aufgezählt, die belegen, dass es sich dabei jeweils um Brüder des Vaters oder des Großvaters gehandelt hat. Bei ca. 70 Familien im Viertel sowie 900 in M., bestehend aus ca. 10 „Stämmen“ kann es, wenn man diese Angaben nicht grundsätzlich als unglaubwürdig ansieht, wofür keine Anhaltspunkte bestehen, keinen Zweifel geben, dass es sich bei der eingetragenen Person um den Kläger handelt. So hat der Kläger zu der Eintragung unter ihm (Eintrag 93 des ursprünglichen Taufbuches) erläutert, dass es sich um einen Cousin gehandelt haben muß, dessen Vater A. ein Bruder seines Vaters war. Unabhängig davon, wie der Vorname dieses Verwandten genau lautete, insoweit waren sich die Schriftkundigen nicht einig, da dieser Eintrag vergleichsweise schlecht lesbar ist, hat er auch hierzu spontan weitere Verwandte und Namenskombinationen aufgezählt und angegeben, wie viele und welche Kinder sein Onkel A. insgesamt gehabt hatte. Auch wenn es sich danach bei den Namen G. und N. um immer wiederkehrende Namen handelt, erscheint damit ausgeschlossen, dass es eine weitere Person mit der Namenskombination des Klägers gegeben hat, die zu dieser Zeit in dieser Kirche in M. getauft worden ist.
Die Angaben werden insbesondere bestätigt durch die Aussage des Zeugen C., der zunächst selbst überzeugend dargelegt hat, weswegen er sich in seinem Fall sicher ist, dass für ihn zeitnah ein annähernd passendes Geburtsdatum eingetragen wurde. Danach ist zwar auch er zunächst 8 bis 15 Tage nach der Geburt getauft worden, anschließend aber, was ungewöhnlich gewesen sei, sofort bei den türkischen Behörden registriert worden, um eine Steuerbefreiung, die der Staat ab dem 5. Kind gewährt habe, alsbald in Anspruch nehmen zu können. Damit steht nach seiner Überzeugung aufgrund der übereinstimmenden Daten fest, dass er im November 1950 geboren ist. Er hat aber ausgeführt, dass dies eine Ausnahme gewesen sei und im Weiteren dargelegt, dass er den Kläger, der im Nachbarhaus bzw. auf der anderen Straßenseite gewohnt habe, nach seiner Erinnerung, die etwa mit dem 4. Lebensjahr beginne, schon immer gekannt habe und mit ihm bis heute befreundet bzw. jedenfalls bekannt sei. Wäre der Kläger wirklich erst 1954 geboren, wäre er aber zu diesem Zeitpunkt erst geboren und kaum ein geeigneter Spielkamerad gewesen. Auch sind beide entsprechend des Jahrgangsunterschiedes von einem guten Jahr mit einem Jahr Unterschied eingeschult worden, er erinnerlich 1958, der Kläger entsprechend 1959 oder 1960, nachdem sie zuvor gemeinsam die Religionsschule besucht haben, was entsprechend 1957 oder 1958 gewesen sein muss, also zu einem Zeitpunkt als der Kläger danach erst drei oder vier Jahre alt gewesen wäre. Dies steht in Übereinstimmung mit dem vorgelegten Schulentlassungszeugnis vom Juni 1965, wonach der Kläger nach einer 5-jährigen Schulzeit entlassen wurde und demnach 1959 oder spätestens 1960 eingeschult worden sein muss. Das bedeutet, dass er bei seinem Geburtsdatum 1954 bei seiner Einschulung erst fünf oder gerade sechs Jahre alt gewesen wäre, was der allgemeinen Erfahrung widerspricht, wonach Kinder in der Türkei regelmäßig nicht vor dem 7. Lebensjahr eingeschult worden sind, sondern tendenziell erst danach bis zum 9. Lebensjahr (vgl. auch hierzu Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 30.04.2014, a.a.O.). Auch der Zeuge, der erst spät im Jahr 1950 geboren ist, ist erst mit 8 Jahren eingeschult worden, wobei er erinnerlich erst von 7 Jahren ausgegangen ist. Der Kläger selbst hat hierzu angegeben, dass er schon etwas „erwachsener“ gewesen sei als die übrigen Schüler. Auch dies spricht dafür, dass der Eintrag 03.02.1954 falsch und der Eintrag im Taufbuch richtig ist und den Kläger betrifft.
Im Sinne einer Bestätigung der Schlüssigkeit der Taufbucheintragungen gegenüber den Eintragungen im Personenregister spricht auch die Reihenfolge der danach eingetragenen Geburten, die hinsichtlich des Personenstandsregisters den Eindruck erwecken, es habe sich nicht um reale Geburtsdaten handelt, wofür vor allem die Häufung der Angaben 01.01. oder 02.01. eines Jahres bei alleine vier Geschwistern spricht. Das diese Register oft nicht die realen Geburtsdaten aufweisen und insbesondere in ländlichen Gebieten der Türkei keine Vermutung der Richtigkeit für sich beanspruchen können, ist eine gerichtsbekannte Tatsache (vgl. hierzu ausführlich BSG, Urteil vom 05.04.2001 – B 13 RJ 35/00 R -).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens.
Gründe, die Revision zuzulassen (vgl. § 160 Abs. 2 SGG), liegen nicht vor. Streitig sind keine Rechtsfragen, sondern ausschließlich Tatsachenfeststellungen sowie Fragen der Beweiswürdigung. Dabei legt der Senat die von der Rechtsprechung aufgestellten Grundsätze zugrunde.

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