Medizinrecht

Versorgung Multiple-Sklerose-Erkrankter mit Walk-Aide-System

Aktenzeichen  L 4 KR 349/17

Datum:
23.10.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 134269
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB V § 12, § 13 Abs. 3a S. 1, S. 2, § 33 Abs. 1 S. 1, § 44 Abs. 4, § 125 Abs. 2, § 135, § 139

 

Leitsatz

1. Ein Fußhebersystem mit Neurostimulatur (Myoorthese) stellt bei Vorliegen einer Multiplen Sklerose ein technisch weiterentwickeltes Hilfsmittel dar. Es steht nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit einer neuen Behandlungsmethode, sondern dient dem unmittelbaren Behinderungsausgleich. (Rn. 47)
2. Das Fußhebersystem Walk Aide ist als Hilfsmittel dem unmittelbaren Behnderungsausgleich zuzuuordnen. (Rn. 57 – 62) (redaktioneller Leitsatz)
3. Der therapeutische Nutzen sowie die Wirksamkeit des Walk Aide-Systems ist im Sinne einer evidenzbasierten Medizin nachgewiesen (entgegen LSG Hessen BeckRS 2017, 103357). (Rn. 63 – 65) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 18 KR 168/16 2017-03-23 Urt SGMUENCHEN SG München

Tenor

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 23.03.2017 wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat auch die außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Berufungsverfahren zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die Berufung der Beklagten ist zulässig (§§ 143, 151 SGG), jedoch unbegründet.
Entgegen der Antragstellung und dem Tenor im erstinstanzlichen Verfahren kann der Erstattungsanspruch beziffert werden. Nach den vorgelegten Rechnungen vom 10. Februar 2015 in Höhe von 478,00 Euro und vom 12. März 2015 betragen die verauslagten Kosten 4.790,39 EUR: 4.312,39 EUR Kaufpreis für das Walk Aide System sowie bereits bezahlte Mietpauschale für den Zeitraum vom 6. Februar bis 5. März 2015 in Höhe von 478,00 EUR.
Als Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Erstattungsanspruch kommt hier nur § 13 Abs. 3 SGB V in Betracht. Die aufgrund der nach § 13 Abs. 3 a S. 2 SGB V mitgeteilten Einholung einer Stellungnahme des MDK geltende 5-Wochenfrist des § 13 Abs. 3 a S. 1 SGB V ist eingehalten.
§ 13 Abs. 3 SGB V gibt für den Ausnahmefall einen Kostenerstattungsanspruch, dass eine von der Krankenkasse geschuldete notwendige Behandlung infolge eines Mangels im Leistungssystem der Krankenversicherung als Dienst- oder Sachleistung nicht oder nicht in der gebotenen Zeit zur Verfügung gestellt werden kann.
Nach § 13 Abs. 3 SGB V sind dem Versicherten die Kosten einer selbstbeschafften Leistung in der entstandenen Höhe zu erstatten, wenn die Leistung unaufschiebbar war und die Krankenkasse sie nicht rechtzeitig erbringen konnte (erste Fallgruppe) oder wenn die Krankenkasse die Leistung zu Unrecht abgelehnt hatte (zweite Fallgruppe). Dies käme hier zum Zuge, wenn die Ablehnung der beantragten Kostenübernahme mit Bescheid vom 19. Januar 2015 zu Unrecht erfolgte. Dabei setzt die zweite Fallgruppe eine Kausalität zwischen Ablehnung und Kostenentstehung voraus. Der Kostenerstattungsanspruch setzt insoweit voraus, dass der Versicherte durch die Ablehnung der Krankenkasse veranlasst wird, sich die Behandlung auf eigene Kosten zu beschaffen (BSG, Breith. 2002, 154 ff). Davon ist vorliegend ganz offensichtlich auszugehen. Nahe liegt auch das Vorliegen einer unaufschiebbaren Leistung im Sinne der ersten Fallgruppe des § 13 Abs. 3 SGB V, da die bisherige Orthese gebrochen und nicht mehr zu reparieren war.
Der Anspruch auf Hilfsmittelversorgung richtet sich nach § 33 Abs. 1 S. 1 SGB V. Danach haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg einer Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Dabei muss das begehrte Hilfsmittel nicht im sog. Hilfsmittelverzeichnis (siehe § 139 SGB V) gelistet sein; bei diesem Verzeichnis handelt es sich nicht um eine abschließende Regelung im Sinne einer Positivliste (so z.B. auch: Thüringer LSG, Urteil vom 23. August 2016 – L 6 KR 1037/13 – juris; Hessisches LSG, Urteil vom 23. Februar 2017, L 8 KR 372/16 – juris). Ein Hilfsmittel, das im Hilfsmittelverzeichnis nicht aufgeführt ist, muss zu seiner Verordnungsfähigkeit allerdings durch medizinisch-technische Studien in seiner Wirksamkeit nachgewiesen sein.
Das Sozialgericht hat hierbei unter wesentlicher Bezugnahme auf das Gutachten und die ergänzende Stellungnahme des Dr. H. eine derartige Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 19. Januar 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Januar 2016 angenommen. Gemäß § 153 Abs. 2 SGG wird auf die Begründung des Sozialgerichts verwiesen.
Hinsichtlich der medizinischen Fragen ist auch nach Ansicht des Senats auf das Gutachten des Dr. H. abzustellen, der das Fußhebersystem Walk Aide zum unmittelbaren Ausgleich einer Körperfunktion als Hilfsmittel nach § 33 SGB V bei der Klägerin für notwendig erachtet hat. Folge dieses technisch hochwertigen Produkts ist, dass ein Hängenbleiben der Fußspitze beim Gehen und Treppensteigen verhindert bzw. vermindert wird; die Geschwindigkeit beim Gehen erhöht sich und die Sicherheit beim Gehen wird verbessert. Maßgebliche medizinische Diagnose ist eine bei der Klägerin primär chronisch progredient verlaufende Multiple Sklerose mit links und beinbetonter spastischer Parese. Unter Bezugnahme auf das Gutachten des Dr. H. ist auch von einer grundsätzlichen Wirksamkeit des Hilfsmittels auszugehen. Dies wird auch von der Klägerin im Rahmen der mündlichen Verhandlung bestätigt.
Darin unterscheidet sich das Ergebnis der medizinischen Sachverhaltsaufklärung von dem in dem Verfahren, über das das Hessische LSG entschieden hat (Urteil vom 14. April 2015, a.a.O.). Dort hatte das LSG angenommen, dass es sich zwar um ein Hilfsmittel handele, bei dem jedoch durch medizinisch-technische Studien eine Wirksamkeit nicht nachgewiesen sei:
„Auch die im Berufungsverfahren erfolgte Beweiserhebung hat den erforderlichen wissenschaftlichen Nachweis der Wirksamkeit der begehrten Hilfsmittel nicht erbracht. Der Sachverständige Dr. N. hat zwar Literatur zu den begehrten Hilfsmitteln genannt. Zugleich hat er aber den wissenschaftlich belegten Wirksamkeitsnachweis durch die in den von ihm aufgeführten Studien größtenteils in Zweifel gezogen. Darüber hinaus ist weiterhin nicht nachgewiesen, dass die begehrte Walk-Aide-Myoorthese bei der Klägerin eine bessere Wirksamkeit gegenüber der vorhandenen Fußheberschiene aufweist. Die Klägerin kann sich auch nicht erfolgreich auf das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 10. Oktober 2012 (S 9 KR 167/11) berufen, da diesem ein anderer Sachverhalt zugrunde lag. Darüber hinaus ist in dieser Entscheidung keine Aussage zum Wirksamkeitsnachweis gemacht worden, worauf die Beklagte zutreffend verwiesen hat.“ (Hess. Landessozialgericht, a.a.O., juris Rn. 21).
Das BSG hat mit Beschluss vom 30. Juli 2015 die Nichtzulassungsbeschwerde als unzulässig verworfen (Az.: B 3 KR 39/15 B) mit der Begründung, in der Beschwerde fehlten Ausführungen zu der „für die Hilfsmittelversorgung wichtigen Frage, ob es um die Sicherung des Behandlungserfolgs oder den Ausgleich einer Behinderung geht“.
In einer weiteren Entscheidung – vom 23. Februar 2017 (Hessisches LSG, a.a.O. – juris Rn. 19) – hat das Hessische LSG diese Ansicht im Ergebnis bestätigt und ausgeführt, dass zur Überzeugung des Senats im Anschluss an das Ergebnis der vorliegenden MDK-Gutachten der therapeutische Nutzen dieses Produktes sowie die Überlegenheit gegenüber einer herkömmlichen Unterschenkelbzw. Fußheberorthese nicht belegt sei. Darüber hinaus hat das Hessische LSG darauf hingewiesen, dass die Myo-Orthese Walk-Aide aufgrund der vorliegenden Epilepsie der dortigen Klägerin kontraindiziert sei.
Festzuhalten ist zunächst, dass vom G-BA kein Ausschluss von sensorgesteuerten Stimulationsgeräten zum Behinderungsausgleich erfolgt ist; es sind vielmehr lediglich keine einzelnen Geräte im Hilfsmittelkatalog gelistet. Dr. H. weist zutreffend darauf hin, dass Neurostimulatoren zum Behinderungsausgleich im Hilfsmittelverzeichnis mit der Hilfsmittelnummer 09.37.04.1.x aufgeführt sind, jedoch ohne ein gelistetes Einzelprodukt. Grundsätzlich seien aber sensorgesteuerte Stimulationsgeräte vom G-BA als geeignet bewertet, da anderweitig die Aufnahme dieses Unterpunktes ins Hilfsmittelverzeichnis nicht plausibel erklärbar wäre.
Hierauf verweist im Übrigen auch der MDK in Bayern in seiner Stellungnahme vom 14. Januar 2015: „Grundsätzlich sind Elektrostimulationsgeräte zur funktionellen Elektrostimulation (FES) im vorliegenden MDS-Hilfsmittelverzeichnis nach § 139 SGB V unter der Produktuntergruppe 09.37.04 als Einkanalperonäusstimulatoren (Produktart 09.37.04.0…) und mehrkanalige, sensorgesteuerte Stimulationsgeräte zum Behinderungsausgleich (Produktart 09.37.04.1…) dargestellt“. Es fehle lediglich eine Aufführung gelisteter Einzelprodukte. Der MDK hat sich im Ergebnis dahingehend geäußert, dass alleine die in der vorliegenden Verordnung angegebene Diagnose eine Versorgung nicht begründen könne.
Der BGH (BGH, Beschluss vom 5. Juli 2017, a.a.O.) hat für den Bereich der privaten Krankenversicherung (zum Basistarif) entschieden, dass ein Gerät, das lediglich elektrische Impulse aussende, um Muskeln anzuregen, nicht deren Stützfunktion übernehme. Das Stimulationsgerät Walk Aide sei somit nicht unter die Geräte der Hilfsmittelliste zu subsumieren (BGH – juris Rn. 14). Implizit hat der BGH im Folgenden aber angenommen, dass Kosten für ein Elektrostimulationsgerät in der GKV erstattet würden (juris Rn. 16). Internetrecherchen haben ergeben, dass einige gesetzliche Krankenkassen „Elektrostimulationsgeräte“ als verordnungsfähiges Hilfsmittel betrachten, so z.B. die TKK bzgl. TENS- und EMS-Geräten (Homepage, a.a.O.).
Nach Überzeugung des Senats handelt es sich bei dem von der Klägerin beantragten Gerät um ein Hilfsmittel im Sinne des § 33 SGB V, bei dem nicht eine neue Behandlungsmethode bzw. ein untrennbarer Zusammenhang mit einer neuen Behandlungsmethode im Vordergrund steht, sondern bei dem es sich um ein Hilfsmittel handelt, das dem unmittelbaren Behinderungsausgleich dient.
Die Myoorthese ist nicht erforderlich, um den Erfolg einer Krankenbehandlung im Sinne des § 33 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. SGB V zu sichern. In Betracht kommen hierbei alle sächlichen Mittel, die der Krankheitsbekämpfung dienen und spezifisch im Rahmen der Krankenbehandlung eingesetzt werden. Es genügt, wenn der therapeutische Erfolg erst angestrebt wird und es nicht nur um die Sicherung eines schon eingetretenen Heilerfolgs geht. Hilfen zur körperlichen Betätigung können beansprucht werden, wenn die Betätigung in einem engen Zusammenhang mit einer andauernden, auf einem ärztlichen Therapieplan beruhenden Behandlung steht und für die gezielte Versorgung (Behandlungsziele des § 27 Abs. 1) erforderlich sind (KassKomm-Nolte, § 33 SGB V, Rn. 7).
Ist ein Hilfsmittel untrennbarer Bestandteil einer neuen vertragsärztlichen Behandlungsmethode, bedarf es einer positiven Stellungnahme durch den G-BA (BSG vom 8. Juli 2015, a.a.O.). Erst wenn die Prüfung durch den G-BA positiv verlaufen ist, sind die für den Einsatz im Rahmen der Behandlungsmethode erforderlichen Hilfsmittel Gegenstand der Leistungspflicht der GKV (BSG Urteil vom 11. Mai 2017 – B 3 KR 1/16 R; BSG Urteil vom 11. Mai 2017 – B 3 KR 6/16 R; BSG Urteil vom 11. Mai 2017 – B 3 KR 17/16 R; KassKomm-Nolte, a.a.O.). Eine positive Empfehlung des G-BA liegt nicht vor.
Das BSG hat in dem o.g. Beschluss zur Nichtzulassungsbeschwerde (a.a.O.) ebenfalls eine Abgrenzung zwischen der Frage, ob es um die Sicherung des Behandlungserfolgs oder den Ausgleich einer Behinderung geht – also eine Abgrenzung zwischen der 1. und 2. Alternative des § 33 Abs. 1 SGB V – für wesentlich erachtet. Dabei ist ferner im Rahmen des § 33 Abs. 1 S. 1, 2. Alt. SGB V zu unterscheiden zwischen einem unmittelbaren und einem mittelbaren Behinderungsausgleich. Der Behinderungsausgleichs nach § 33 Abs. 1 S. 1, 2. Alt. SGB V hat im Gegensatz zur Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung nach der Rechtsprechung des BSG zwei Zielrichtungen: Im Vordergrund steht der unmittelbare Behinderungsausgleich.
Im Bereich des unmittelbaren Behinderungsausgleichs ist der Leistungsanspruch des Versicherten grundsätzlich auf den vollständigen funktionalen Ausgleich der Behinderung gerichtet. Damit steht der unmittelbare Ausgleich der ausgefallenen natürlichen Funktionen im Vordergrund. Davon ist auszugehen, wenn das Hilfsmittel die Ausübung der beeinträchtigten Körperfunktion selbst ermöglicht, ersetzt oder erleichtert. Es gilt hier das Gebot eines möglichst weitgehenden Ausgleichs des Funktionsdefizits, und zwar unter Berücksichtigung des aktuellen Standes des medizinischen und technischen Fortschritts (zum Ganzen KassKomm-Nolte, a.a.O., Rn. 11 unter Verweis auf BSGE 105, 170 – digitale Hörgeräte; BSG SozR 4-2500 § 33 Nr. 34 Rn. 31 – Rollstuhl-Bike; BSG SozR 4-2500 § 33 Nr. 24 Rn. 18 – Badeprothese). Eine Kosten-Nutzen-Abwägung ist in diesem Bereich nicht statthaft (KassKomm-Nolte, a.a.O., Rn. 11a m.w.N.).
Die Myoorthese dient dem Ausgleich der Behinderung der Klägerin beim Gehen (zu einer Beinprothese: BSG vom 16. September 2004, B 3 KR 20/04 R).
Demgegenüber zielt der mittelbare Behinderungsausgleich auf die Beseitigung oder zumindest Milderung der direkten oder indirekten Folgen einer Behinderung ab, soweit die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder zumindest gemildert werden und somit ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betroffen ist (BSG SozR 4 - 2500 § 33 Nr. 26 Rn. 16 – GPS für blinde Versicherte; BSGE 98, 213). Hier schulden die gesetzlichen Krankenkassen lediglich einen Basisausgleich.
Der Sachverständige Dr. H. hat ergänzend zu seinem Gutachten mit überzeugender Begründung die Ansicht vertreten, dass nach seiner Einschätzung dieses Hilfsmittel ein technisch weiterentwickeltes Hilfsmittel ist, das dem unmittelbaren Behinderungsausgleich dient. Im Vergleich zu einer Peronaeusorthese stellt ein Nerven- und Muskelstimulator ein fortschrittlicheres, technisch weiterentwickeltes Hilfsmittel dar. Der mit den herkömmlichen Orthesen erzielbare Versorgungsstandard erreicht nicht den Maßstab des natürlichen Gehens. Solange ein Ausgleich der Behinderung nicht vollständig im Sinne des Gleichziehens mit einem nicht behinderten Menschen erreicht ist, ist Raum für eine Fortentwicklung des Hilfsmittels.
Dabei handelt sich nicht um eine neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode im Sinne des § 135 SGB V, so dass die 1. Alternative des § 33 Abs. 1 S. 1 SGB ausscheidet.
Der MDK lässt diese Fragen in seinen Stellungnahmen zuletzt vom 24. Februar 2015 weitgehend offen; verlangt wird dort, dass „die gewünschte Versorgung mit Walk Aide als optionale Versorgung zu einer Versorgung mit Unterschenkelorthese in Carbonfasertechnik unter Berücksichtigung der gezielten Fragestellung der Krankenkasse verordnerseitig auch unter Berücksichtigung der Vorgaben gemäß § 7 Abs. 2 Hilfsmittelrichtlinien etc. entsprechend zu begründen“ wäre (Seite 3 der MDK-Stellungnahme). Dr. H. positioniert sich klar gegen das Vorliegen einer neuen Behandlungsmethode.
Nach Auffassung der Beklagten verfügt das Fußhebersystem Walk Aide sowohl über eine Komponente zum Behinderungsausgleich, durch die ein sicheres bzw. einfacheres Gehen ermöglicht werden soll, soll aber zusätzlich zur Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung dienen, wofür insbesondere auch der Übungsmodus während des Sitzens spreche. Allerdings steht nach Überzeugung des Senats ganz überwiegend der Behinderungsausgleich im Vordergrund – vor allem bei der Nutzung, wie sie die Klägerin in Anspruch nimmt. Aufgrund ihres Krankheitsbildes einer Multiplen Sklerose kann sie den Übungsmodus nicht sinnvollerweise nutzen, wie sich auch aufgrund der mündlichen Verhandlung ergeben hat. Primärer Zweck des Nervenstimulators Walk Aide ist kein Biofeedbacksystem, wie der Sachverständige Dr. H. ausführte; d.h. die Zielsetzung besteht nicht darin, eine Rückkoppelung von physiologischen Körperzuständen zu ermitteln. Der ganz überwiegende Zweck besteht vielmehr nur darin, ein besseres und sicheres Gehen zu ermöglichen. Dr. H. weist darauf hin, dass das System keine Therapie darstellt. Zwar kann gegebenenfalls eine mögliche therapeutische Funktion zur Aktivierung der teilgelähmten und spastischen Peroneusmuskulatur bei Einsatz des Systems erfolgen; dies ist jedoch, wie auch oben dargelegt, nicht primär eine Indikation für dieses Hilfsmittel. Hierfür sind die anerkannten Therapieverfahren wie z.B. Physiotherapie oder Entspannungstherapie zu beanspruchen.
Im Vordergrund steht damit der Behinderungsausgleich. Dies deckt sich nicht nur mit der Annahme des Gutachters, sondern wird auch dem überwiegenden Sinn und Zweck des Systems gerecht. Die Firma P. bewirbt auf der Homepage (www.P..de) das Gerät zur Anpassung des individuellen Gehmusters mittels des speziellen Softwareprogramms. Die elektrischen Signale betreffen den Peroneus-Nerv, dessen Funktion die Steuerung der Bewegungen in dem Fußgelenk und dem Fuß ist. Die Muskeln werden dadurch veranlasst, den Fuß zum richtigen Zeitpunkt anzuheben. Selbst wenn man auf die Möglichkeit der Nutzung des Übungsmodus abstellt, dient auch dieser nur dazu, die Muskeln zu trainieren, die Nerven zum Gehirn anzusprechen und Bewegungen anzubahnen. Der Übungsmodus dient, zumal bei der Klägerin, nicht dazu, den Erfolg einer Krankenbehandlung (hier der Multiplen Sklerose) zu sichern, sondern die Nutzung des Hilfsmittels zu optimieren und sich an das System zu gewöhnen.
Zwar steht dem Anwender dauerhaft eine funk-frequenzgesteuerte Neurostimulation der Fußhebemuskulatur über den Peronaeusnerv zur Verfügung, jedoch erfolgt dies durch ein Softwareprogramm, das der Anpassung durch speziell ausgebildete Ärzte, aber auch Therapeuten und Techniker bedarf (Homepage Fa. P.). Die Beklagte argumentiert hierbei hinsichtlich einer Behandlungsmethode mit der permanenten Einsetzbarkeit, dem Fehlen einer Abrechnungsziffer im EBM-Ä, mit einer im Rahmen des § 125 Abs. 2 SGB V geschlossenen Vereinbarung zwischen den Ersatzkassen und den Physiotherapeuten mit einer „Regelbehandlungszeit von fünf bis zehn Minuten je Muskelnerveinheit“.
Dem steht entgegen, dass eine Bestimmung von Reizparametern bei dem Fußhebersystem nicht erfolgt, insbesondere nicht speziell durch einen Arzt. Das Fußhebersystem kann auch ohne ärztliche Verordnung von jedermann erworben werden. Der Vertrieb erfolgt in Deutschland überwiegend durch Sanitätshäuser.
Die Orthese soll bei der Klägerin die zuvor verordnete und von der Beklagten übernommene Carbonschiene ersetzen, die unstreitig dem unmittelbaren Behinderungsausgleich diente, nur inzwischen gebrochen war.
Gerade auch im Hinblick auf die Anwendung bei der Klägerin liegt somit ein Fall des Behinderungsausgleichs, und zwar des unmittelbaren nach § 33 Abs. 1 S. 1, 2. Alt. SGB V vor in Form der Erleichterung und Unterstützung der beeinträchtigten Körperfunktion Gehen. Abzustellen ist hierbei auf einen vollständigen funktionalen Ausgleich der Behinderung. Es geht um einen unmittelbaren Ausgleich der ausgefallenen oder beeinträchtigten natürlichen Funktion des Gehens.
Der Senat sieht in der Zwischenzeit auch den therapeutischen Nutzen und die Wirksamkeit des Walk Aide-System im Sinne einer evidenzbasierten Medizin für nachgewiesen. Zu würdigen ist hierbei nur der aktuelle Stand des medizinischen und technischen Fortschritts. Derart grundsätzliche Bedenken gegen das Walk Aide-System finden sich in den Stellungnahmen des MDK in Bayern aus dem Jahre 2015 nicht.
Zwar hat das Hessische LSG einen abschließenden Beleg anhand kontrollierter, prospektiver, randomisierter Studien als nicht bestehend angesehen (Hessisches LSG vom 23. Februar 2017, a.a.O.). Dies erfolgte allerdings unter Bezugnahme auf ein dort eingeholtes Gutachten des MDK aus dem Jahre 2014. Es sei nicht gesichert, ob die Myoorthese in der Lage sei, bei einer komplexen, zentralneurologischen Störung einen ausreichenden Behandlungserfolg zu erzielen, da lediglich isoliert die Fußhebermuskulatur stimuliert werde. Ein Einfluss auf die hier vorliegende zentralneurologische Störung, auf den damit verbundenen veränderten Muskeltonus und die Störung von Gleichgewicht, Bewegungskoordination und Symmetrie sei durch das Walk Aide-System nicht möglich.
Die 2015 und 2017 vom Hessischen LSG aufgeführten Bedenken zum Wirksamkeitsnachweis bzw. zur besseren Wirksamkeit gegenüber der vorverordneten Fußheberschiene greifen heute nicht mehr. Das System hält sich auf dem Markt und wurde inzwischen auch für Kinder und Jugendliche weiterentwickelt. Auch der gerichtliche Sachverständige äußerte keine Zweifel an der besseren Wirksamkeit; dabei stellt er auf die Vorteile für die Klägerin ab. Es ermöglicht der Klägerin ein sichereres, schnelleres und ermüdungsfreieres Gehen. Im Gegensatz zu einer passiven Orthese kann ein Heben des Vorfußes bei entsprechendem Training auch über die Neutral-Null-Stellung hinaus bewerkstelligt werden. Hier kann sich somit ein weiterer, nach Ansicht des Sachverständigen entscheidender Vorteil zwischen dem aktiven System und einer passiv fixierenden Peronaeusschiene ergeben.
Kosten-Nutzen-Abwägungen sind im Bereich des unmittelbaren Behinderungsausgleichs nicht statthaft. Es ist jedoch auch auf die Darlegung des Sachverständigen zu verweisen, dass die Versorgung mit dem Fußhebersystem auch nicht unwirtschaftlich ist. Eine Carbonschiene ist mit einem Preis von ca. 1.000.- EUR anzusetzen; die Haltbarkeit ist sehr beschränkt (etwas über ein Jahr). Die Lebensdauer bei einem Nervenstimulator wird mit fünf Jahren kalkuliert bei einem Preis von unter 5.000.- EUR.
Das Konkurrenzprodukt Ness L 300 der Fa. B. ist nach Recherche des Sachverständigen nicht baugleich (zusätzlicher Fußdrucksensor) und mit ca. 5.500.- EUR teurer.
Ein Verstoß gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot nach § 12 SGB V scheidet damit aus.
Unstreitig handelt es sich nicht um einen allgemeinen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens im Sinne des § 33 Abs. 1 S. 1 SGB V. Ein Ausschluss nach § 34 SGB V greift nicht.
Die Höhe der von der Klägerin verauslagten Kosten ist belegt und unstreitig. Entsprechende vertragsärztliche Verordnungen liegen vor.
Die Berufung war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor. Insbesondere weicht der Senat nicht von einer Entscheidung des BSG ab, sondern berücksichtigt diese wie insbesondere das Urteil des BSG vom 8. Juli 2015 (BSG, a.a.O.). Auch setzte sich der Senat mit der vom BSG in dem Beschluss vom 30. Juli 2015 (BSG, a.a.O.) als wichtig herausgestellten Frage auseinander, ob es um die Sicherung des Behandlungserfolgs oder den Ausgleich einer Behinderung geht. Wie dargelegt war dabei gerade auch auf die konkrete Anwendung durch die Klägerin und das bei ihr bestehende Krankheitsbild abzustellen.


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