Medizinrecht

Verstoß gegen die Amtsaufklärungspflicht durch Nichtbeachtung eines Hilfsbeweisantrags zum Vorliegen einer PTBS

Aktenzeichen  8 ZB 19.31737

Datum:
9.7.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 15192
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 3
VwGO § 86 Abs. 1, § 87a Abs. 2, Abs. 3, § 108 Abs. 2, § 152 Abs. 1
AufenthG § 60a Abs. 2c
GG Art. 103 Abs. 1
BV Art. 91 Abs. 1

 

Leitsatz

1 Während sich die Voraussetzungen für die Ablehnung eines in der mündlichen Verhandlung unbedingt gestellten Beweisantrags aus § 86 Abs. 2, 1 VwGO ergeben, wird mit einem nur hilfsweise gestellten Beweisantrag lediglich die weitere Erforschung des Sachverhalts nach § 86 Abs. 1 VwGO angeregt. Eine Verletzung der Aufklärungspflicht ist unter diesen Umständen dann begründet, wenn sich dem Gericht von Amts wegen eine weitere Beweisaufnahme hätte aufdrängen müssen (BVerwG BeckRS 2012, 55084). (Rn. 2) (red. LS Clemens Kurzidem)
2 Dem Verwaltungsgericht ist es verwehrt, eine eigene medizinische Bewertung von Schwere und Ausmaß der Erkrankung eines Asylbewerbers vorzunehmen, ohne die hierfür erforderliche eigene Sachkunde zu besitzen und darzulegen (BVerwGE 129, 251 = BeckRS 2008, 30091). (Rn. 6) (red. LS Clemens Kurzidem)

Verfahrensgang

RO 2 K 18.32253 2019-03-27 Urt VGREGENSBURG VG Regensburg

Tenor

I. Die Berufung wird zugelassen.
II. Dem Kläger wird für das Berufungsverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt … …, …, beigeordnet.

Gründe

1. Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat Erfolg.
Die Berufung ist wegen eines Verfahrensmangels zuzulassen (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO). Der geltend gemachte Verfahrensmangel der Versagung des rechtlichen Gehörs (§ 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG, Art. 91 Abs. 1 BV) liegt vor. Das Verwaltungsgericht hat seine Sachaufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) verletzt, indem es dem Hilfsbeweisantrag des Klägers auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Feststellung des Vorliegens einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) mit der Gefahr einer Retraumatisierung bei einer Rückkehr nach Äthiopien nicht nachgekommen ist. Während sich die Voraussetzungen für die Ablehnung eines in der mündlichen Verhandlung unbedingt gestellten Beweisantrages aus § 86 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 VwGO ergeben, wird mit einem nur hilfsweise gestellten Beweisantrag lediglich die weitere Erforschung des Sachverhalts nach § 86 Abs. 1 VwGO angeregt. Eine Verletzung der Aufklärungspflicht ist unter diesen Umständen nur dann begründet, wenn sich dem Gericht von Amts wegen eine weitere Beweisaufnahme hätte aufdrängen müssen (vgl. BVerwG, B.v. 26.7.2012 – 10 B 21.12 – juris Rn. 3; B.v. 9.12.1997 – 9 B 505.97 – juris Rn. 3).
Dies ist vorliegend der Fall. Das Verwaltungsgericht hat den bedingten Beweisantrag des Klägers, ein Sachverständigengutachten zu der Tatsache einzuholen, dass bei ihm die in der ärztlichen Stellungnahme vom 15. März 2019 aufgeführten Erkrankungen tatsächlich vorliegen und er bei einer Rückkehr nach Äthiopien mit einer sofortigen Retraumatisierung, verbunden mit Suizidalität, zu rechnen hätte und er insgesamt wegen der Summe seiner Erkrankungen auf Dauer erwerbsunfähig sei, in den Urteilsgründen wegen mangelnder Substanziierung abgelehnt (vgl. UA S. 10 f.). Damit hat es – hinsichtlich der im ersten Teil des Beweisantrags aufgestellten Behauptung des Vorliegen einer PTBS – die Anforderungen an die Darlegungspflicht überspannt; das vorgelegte nervenärztliche Attest des Dr. B* … vom 17. September 2018 genügt den höchstrichterlichen Mindestanforderungen, die an eine fachärztliche Bescheinigung zum Vorliegen einer PTBS zu stellen sind (vgl. grundlegend BVerwG, U.v. 11.9.2007 – 10 C 8.07 – BVerwGE 129, 251 = juris Rn. 15; B.v. 26.7.2012 – 10 B 21.12 – juris Rn. 7), die vom Gesetzgeber inzwischen in § 60a Abs. 2c AufenthG übernommen wurden (zur Anwendbarkeit der Vorschrift auf krankheitsbedingte Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vgl. BayVGH, B.v. 4.4.2019 – 9 ZB 19.30999 – juris Rn. 6; B.v. 5.4.2019 – 8 ZB 18.33333 – juris Rn. 7).
Aus diesem Attest ergibt sich nachvollziehbar, dass der behandelnde Neurologe und Psychiater seine Diagnose aufgrund einer nervenärztlichen Untersuchung am 11. September 2018 gestellt hat. Das Attest enthält Angaben darüber, wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt („mittelschwere bis schwere depressive Symptome, Ängste und Erinnerungsintrusionen“; „durch das psychopathologische Bild bestätigt“). Dass sich der Kläger seit seiner Entlassung aus dem Bezirksklinikum R* … im September 2014, wo er mehrere Wochen mit der Diagnose „posttraumatische Belastungsstörung mit derzeit schwerer depressiver Episode“ (vgl. ärztliches Attest vom 28.8.2014, S. 182 der Bundesamtsakte) stationär behandelt wurde (24.7.-3.8.2014 und 20.8. bis 11.9.2014, vgl. Darstellung des Krankheitsverlaufs im Attest des Dr. A* … vom 8.4.2015, S. 309 der Bundesamtsakte), offenbar nicht in regelmäßiger nervenärztlicher Behandlung befand, steht dem nicht entgegen. Der behandelnde Neurologe und Psychiater Dr. B* … stellt hierzu nämlich nachvollziehbar fest, dass dem Kläger im Rahmen des gehemmt-depressiven Syndroms regelmäßige nervenärztliche Kontakte nicht möglich waren (vgl. ärztliches Attest vom 17.9.2018). Das Attest gibt auch Aufschluss über die Schwere der Krankheit („posttraumatische Belastungsstörung mit wiederholten bis zu schweren depressiven Episoden“) und deren Behandlungsbedürftigkeit („ambulante traumazentrierte Psychotherapie“, medikamentöse Therapie ist nur unterstützend sinnvoll“). Bei der Rückkehr in sein Heimatland prognostiziert der behandelnde Neurologe und Psychiater eine „Retraumatisierung und massive Zunahme der Beschwerden“ des Klägers.
Die Krankheitsbeschreibung in dem nervenärztlichen Attest vom 17. September 2018 wird auch von den Stellungnahmen der Psychologischen Psychotherapeutin Z* … vom 30. Januar 2019 und der Psychosozialen Aids-Beratungsstelle O* … vom 20. September 2018 (unterzeichnet u.a. vom Psychologischen Psychotherapeut D* …h) gestützt. Insbesondere berichtet die behandelnde Psychotherapeutin Z* …, in Sitzungen mit dem Kläger „dissoziative Zustände“ und „Übererregungszustände als Folge der traumatischen Erlebnisse“ beobachtet zu haben.
Soweit das Verwaltungsgericht darauf abgestellt hat, es seien Abweichungen in den Diagnosen der vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen nicht nachvollziehbar, da die Atteste sich nicht zueinander verhielten (S. 11 UA), legt es nicht offen, welche Abweichungen es damit meint. Im Übrigen ist es dem Gericht verwehrt, eine eigene medizinische Bewertung von Schwere und Ausmaß der Erkrankung vorzunehmen, ohne die hierfür erforderliche eigene Sachkunde zu besitzen und darzulegen (vgl. BVerwG U.v. 11.9.2007 – 10 C 8.07 – BVerwGE 129, 251 = juris Rn. 17).
Den Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) legt der Zulassungsantrag auch ausreichend dar (vgl. hierzu BVerwG, B.v. 26.7.2012 – 10 B 21.12 – juris Rn. 3; Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124a Rn. 75).
2. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
3. Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe an den Kläger und die Beiordnung des Prozessbevollmächtigten für das Zulassungsverfahren folgt aus § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 114 Satz 1, 119 Abs. 1 Satz 1, 121 Abs. 1 ZPO. Die Rechtsverfolgung bietet hier im Hinblick auf die Ausführungen unter Nr. 1 hinreichende Erfolgsaussicht. Der Kläger hat durch die im erstinstanzlichen Verfahren vorgelegte Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse, auf die der anwaltliche Schriftsatz vom 26. April 2019 verweist, nachgewiesen, dass die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Prozesskostenhilfe gegeben sind.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO)


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