Medizinrecht

Vertragsärztliche Versorgung – Selektivvertrag zur besonderen Versorgung – Gestaltungsspielraum der Vertragspartner – Vereinbarung der Erbringung ambulanter Operationen, die in der Regelversorgung allein stationär erbracht werden dürfen – Regelung zur Finanzierung häuslicher Krankenpflege oder Haushaltshilfe aus der Pauschalvergütung für eine stationäre Behandlung

Aktenzeichen  B 6 A 1/20 R

Datum:
27.1.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
BSG
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BSG:2021:270121UB6A120R0
Normen:
§ 37 SGB 5
§ 38 SGB 5
§ 87 Abs 1 SGB 5
§ 95 SGB 5
§ 115b Abs 1 SGB 5
§ 132 SGB 5
§ 132a SGB 5
§ 140a Abs 2 S 1 SGB 5
§ 140a Abs 2 S 2 SGB 5
§ 140a Abs 3 S 2 SGB 5
Kap 31.2 EBM-Ä 2008
Spruchkörper:
6. Senat

Verfahrensgang

vorgehend Hessisches Landessozialgericht, 18. Juli 2019, Az: L 1 KR 644/18 KL, Urteil

Tenor

Auf die Revision der Klägerin werden das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 18. Juli 2019 geändert sowie der Bescheid der Beklagten vom 28. August 2018 aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Tatbestand

1
Die Beteiligten streiten über eine Aufsichtsmaßnahme der beklagten Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Bundesamt für Soziale Sicherung.
2
Die Klägerin, eine bundesunmittelbare Betriebskrankenkasse, legte dem Bundesversicherungsamt (BVA; seit dem 1.1.2020: Bundesamt für Soziale Sicherung), am 16.3.2017 einen “Vertrag zur Besonderen Versorgung nach § 140a SGB V über die Durchführung von operativen Eingriffen und deren Qualitätssicherung” mit der m. GmbH & Co KG zur Vorabprüfung vor, nachdem ein zuvor geschlossener Vertrag aufgrund aufsichtsrechtlicher Bedenken des BVA gekündigt worden war. Nach dem Inhalt des Vertrags sollte die m. GmbH & Co KG als Managementgesellschaft ua für die Konzeptentwicklung und für die Vergütung der operativen Leistungserbringer aus einer von der Klägerin zu zahlenden Komplexpauschale zuständig sein. Vertragsärzte und Krankenhäuser werden nach dem Inhalt des Vertrags über Teilnahmeerklärungen eingebunden.
3
Grundlage der Vergütung ist nach § 11 Abs 1 des Vertrags dessen Anlage 6. Der dort aufgeführte Katalog von Operationen, die auch ambulant erbracht werden können, enthält keine Beschränkung auf Leistungen, die im Einheitlichen Bewertungsmaßstab für ärztliche Leistungen (EBM-Ä) oder im Leistungskatalog des “Vertrages Ambulante Operationen und stationsersetzende Leistungen” (AOP-Vertrag) enthalten sind. Bezogen auf stationär durchgeführte Operationen verpflichtet § 11 Abs 4 des Vertrags die Leistungserbringer dazu, Patienten erst dann zu entlassen, wenn diese sich selbstständig im häuslichen Umfeld versorgen können oder die Versorgung durch im Haushalt lebende Personen sichergestellt ist. Die Verordnung von häuslicher Krankenpflege oder Haushaltshilfe zulasten der Klägerin im Anschluss an eine Behandlung, die durch eine Komplexpauschale nach Anlage 6 des Vertrags vergütet worden ist, ist nach § 11 Abs 4 des Vertrags ausgeschlossen und mit der Vergütung der Komplexpauschale abgegolten. Ferner wird geregelt, dass die Rechte der versicherten Patienten hiervon unberührt bleiben.
4
Die Beklagte teilte der Klägerin aufsichtsrechtliche Bedenken mit. Sie bat ua um Zusicherung, dass die in Anlage 6 des Vertrags aufgelisteten Leistungen inhaltlich mit dem Leistungskatalog des AOP-Vertrags bzw Kapitel 31 des EBM-Ä übereinstimmen. Ferner wurde die Klägerin aufgefordert, § 11 Abs 4 zu streichen, da der Arzt durch diese Regelung in seiner freien Entscheidung über die Verordnung von häuslicher Krankenpflege eingeschränkt werde. Daraufhin vereinbarte die Klägerin mit der m. GmbH & Co KG eine “Klarstellung” zu § 11 Abs 4 des Vertrags mit dem Inhalt, dass der Anspruch der Versicherten auf Versorgung mit häuslicher Krankenpflege sowie die ärztliche Therapie- und Verordnungshoheit nicht eingeschränkt wird. Die Regelung bezwecke lediglich die Vermeidung von Mehrkosten durch Unterschreitung der durch die Komplexpauschale bereits vergüteten Dauer der stationären Behandlung.
5
Nach weiterem Schriftwechsel erfolgte eine aufsichtsrechtliche Beratung der Klägerin durch die Beklagte. Darin hielt die Beklagte an ihrer Auffassung fest, dass der zwischen der Klägerin und der m. GmbH & Co KG geschlossene Vertrag rechtswidrig sei, weil die Erbringung ambulanter Operationen vertraglich vereinbart worden sei, die über den Leistungskatalog des Kapitels 31.2 iVm Anhang 2 des EBM-Ä und des AOP-Katalogs hinausgingen. Zudem schränke die Vereinbarung in § 11 Abs 4 des Vertrags die “Verordnungshoheit” des Arztes und die Versorgung der Versicherten mit häuslicher Krankenpflege ein. Die Beklagte forderte die Klägerin auf, den Vertrag den dargelegten Anforderungen anzupassen und sodann erneut vorzulegen. Sollte die Klägerin der Aufforderung nicht nachkommen, sei der Vertrag zum nächstmöglichen Zeitpunkt zu kündigen. Es sei beabsichtigt, einen entsprechenden Verpflichtungsbescheid zu erlassen.
6
Nach einer mündlichen Erörterung der Beteiligten übermittelte die Klägerin der Beklagten eine Ergänzungsvereinbarung vom 7.8.2018 zur Anpassung des Vertrags, mit der § 11 Abs 4 des Vertrags gestrichen und § 11 Abs 1 dahingehend abgeändert wurde, dass die in Anlage 6 aufgeführten Leistungen ausschließlich dann ambulant erbracht werden dürfen, wenn diese im AOP-Vertrag bzw im EBM-Ä enthalten sind. Diese Vereinbarung war allerdings befristet bis zum 31.12.2019 bzw bis “über eine mögliche Klage gegen den Verpflichtungsbescheid des BVA rechtskräftig entschieden ist”. Die Beklagte verpflichtete die Klägerin mit Bescheid vom 28.8.2018, den zwischen ihr und der m. GmbH & Co KG geschlossenen “Vertrag zur Besonderen Versorgung nach § 140a SGB V über die Durchführung von operativen Eingriffen und deren Qualitätssicherung” zum 31.12.2019 zu kündigen. Der Vertrag sei rechtswidrig und verstoße gegen § 87 Abs 2, § 115b Abs 2 SGB V, da ambulante Leistungen vertraglich vereinbart worden seien, die über den Leistungskatalog des Kapitels 31.2 iVm Anhang 2 des EBM-Ä und des AOP-Katalogs hinausgingen. Darüber hinaus schränke § 11 Abs 4 des Vertrags die “Verordnungshoheit” des Arztes und die Versorgung der Versicherten mit häuslicher Krankenpflege ein. Mit der Ergänzungsvereinbarung vom 7.8.2018 sei der Vertrag zwar rechtskonform angepasst worden, angesichts der Befristung sei jedoch absehbar, dass mit Ablauf der Befristung die rechtswidrigen Regelungen erneut zum Tragen kämen.
7
Das LSG hat die gegen den Verpflichtungsbescheid erhobene Klage abgewiesen (Urteil vom 18.7.2019). Zur Begründung hat es ausgeführt, dass der streitbefangene Vertrag gegen § 87 Abs 1 SGB V und § 115b Abs 2 SGB V verstoße, da die teilnehmenden Fachärzte und Krankenhäuser Operationen ambulant erbringen und abrechnen dürften, obwohl diese nicht im Leistungskatalog des Kapitels 31.2 iVm Anhang 2 des EBM-Ä oder im AOP-Katalog enthalten seien. Die Abweichungsbefugnis in § 140a Abs 2 Satz 1 SGB V betreffe zwar auch den EBM-Ä, umfasse aber lediglich Regelungen zwischen Leistungserbringern und Krankenkassen (KKn), nicht aber zwischen Versicherten und KKn, sodass die Vergütungsregelungen des EBM-Ä zur Disposition stünden, nicht aber das hierdurch vorgegebene Leistungsspektrum. Eine Abweichung vom Leistungsrecht der Regelversorgung sehe § 140a Abs 2 Satz 2 SGB V nur für die dort ausdrücklich benannten Leistungen sowie “ärztliche Leistungen einschließlich neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden” vor. Bei den in Anlage 6 des streitbefangenen Vertrags aufgeführten Operationen, die nicht im EBM-Ä enthalten seien, handele es sich nicht um “Behandlungsmethoden”. Zudem verfügten die teilnehmenden Fachärzte und Krankenhäuser nicht über die Zulassung, stationär zu erbringende Operationen ambulant durchzuführen. Zwar ermögliche § 140a Abs 3 Satz 2 SGB V eine Abweichung vom Zulassungsrecht, in dem sich die Vertragspartner darauf verständigten, dass Leistungen auch dann erbracht werden können, wenn die Erbringung dieser Leistungen vom Zulassungs- oder Ermächtigungsstatus des jeweiligen Leistungserbringers nicht gedeckt sei. Eine solche Vereinbarung dürfe sich aber nur auf Leistungen beziehen, die von dem Zulassungs-, Ermächtigungs- oder Berechtigungsstatus mindestens eines teilnehmenden Leistungserbringers umfasst seien. Die am Vertrag beteiligten Vertragsärzte verfügten über keine Zulassung zur Erbringung ambulanter Operationen, die im Leistungskatalog des EBM-Ä nicht enthalten sind. Auch die teilnehmenden Krankenhäuser verfügten lediglich über die Zulassung, ambulante Operationen gemäß AOP-Vertrag durchzuführen. Die Vereinbarung in § 11 Abs 4 des Vertrags sei hingegen nicht rechtswidrig. Die Teilnahme der Leistungserbringer am Vertrag sei freiwillig. Der Anspruch der Versicherten bleibe von eventuellen Vergütungsminderungen unberührt.
8
Mit ihrer Revision macht die Klägerin geltend, dass der streitgegenständliche Vertrag entgegen der Auffassung des LSG weder gegen § 87 Abs 1 SGB V noch gegen § 115b Abs 2 SGB V verstoße. Die Vertragspartner hätten von der in § 140a Abs 2 Satz 1 SGB V vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch gemacht, abweichende Regelungen zu den Vorschriften des Vierten Kapitels des SGB V zu treffen. Damit sei es möglich gewesen, auch die Leistungsinhalte des EBM-Ä zu verändern oder zu erweitern. Auch wenn man davon ausgehe, dass es sich vorliegend um eine Abweichung von dem im Dritten Kapitel geregelten Leistungsrecht handele, sei diese gerechtfertigt, da es sich bei den operativen Leistungen um ärztliche Leistungen iS des § 140a Abs 2 Satz 2 SGB V handele. § 140a Abs 2 Satz 3 SGB V stehe dem nicht entgegen, weil ein ablehnender Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) nicht vorliege. Auch der Zulassungsstatus der am Versorgungsvertrag teilnehmenden Vertragsärzte werde durch die Durchführung der ambulanten Operationen nicht überschritten. Die Zulassung eines Vertragsarztes beziehe sich auf die Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung im Rahmen des jeweiligen Fachgebietes. Die Frage, welche Leistungen er im Rahmen seines Fachgebietes erbringen und abrechnen dürfe, sei keine Frage des Zulassungsrechts. Die am Vertrag teilnehmenden Krankenhäuser könnten gemäß § 140a Abs 3 Satz 2 SGB V am ambulanten Zulassungsstatus der teilnehmenden Vertragsärzte partizipieren.
9
Die Klägerin beantragt,das Urteil des Hessischen LSG vom 18.7.2019 zu ändern und den Bescheid der Beklagten vom 28.8.2018 aufzuheben.
10
Die Beklagte beantragt,die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
11
Die Beklagte verteidigt die angefochtene Entscheidung. Ergänzend trägt sie vor, dass ein Abweichen iS des § 140a Abs 2 Satz 1 SGB V bereits wegen § 140a Abs 2 Satz 5 SGB V nicht in Betracht komme, da die in den Bundesmantelverträgen für die Leistungserbringung in der vertragsärztlichen Versorgung beschlossenen Qualitätsanforderungen nicht disponibel seien. Für ambulante Operationen gelte die Vereinbarung von Qualitätssicherungsmaßnahmen nach § 135 Abs 2 SGB V zum ambulanten Operieren der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KÄBV) und des Spitzenverbandes Bund der KKn. Danach sei der Vertragsarzt in der Regelversorgung nicht berechtigt, ambulante Operationen, die nicht im EBM-Ä oder im AOP-Katalog zu finden sind, auszuführen oder abzurechnen. Auch habe das LSG zutreffend entschieden, dass die am Vertrag teilnehmenden Vertragsärzte und Krankenhäuser nicht über eine Zulassung verfügen, die sie berechtigen würde, stationär zu erbringende Operationen ambulant durchzuführen. Welche Leistung ein Vertragsarzt bzw ein Krankenhaus erbringen und abrechnen dürfe, sei entgegen der Auffassung der Klägerin eine Frage des Zulassungsrechts. Zudem sei es nicht Aufgabe der Partner des Vertrags nach § 140a SGB V, sondern allein Aufgabe der gemeinsamen Selbstverwaltung, darüber zu entscheiden, welche Operationen ambulant durchgeführt werden dürfen. Diese Festlegungen würden im EBM-Ä und im AOP-Katalog nach § 115b SGB V getroffen. Sie, die Beklagte, verkenne nicht, dass sich im EBM-Ä und im AOP-Katalog möglicherweise nicht der aktuelle Stand der medizinischen Erkenntnisse wiederfinde. Es sei jedoch nicht Aufgabe der besonderen Versorgung nach § 140a SGB V, dafür zu sorgen, dass im Bereich der ambulanten Operationen der aktuelle Stand der medizinischen Entwicklung berücksichtigt werde. Darüberhinaus sei auch die Regelung in § 11 Abs 4 des streitbefangenen Vertrags rechtswidrig. Zum einen obliege es allein dem Vertragsarzt bzw Krankenhausarzt, bei Vorliegen der medizinischen Notwendigkeit häusliche Krankenpflege zu verordnen. Zum anderen werde dem Versicherten die Möglichkeit genommen, die ihm zustehenden Ansprüche vollumfänglich zu nutzen.


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