Medizinrecht

Verwaltungsgerichte, Hohes Aggressionspotential, Kraftfahreignung, Antragsgegner, Straßenverkehrsgesetz, Straßenverkehrsrecht, öffentlicher Straßenverkehr, Teilnahme am Straßenverkehr, Sicherheit des Straßenverkehrs, Medizinisch-psychologische Untersuchung, Erhebliche Straftat, Fahrerlaubnisbehörde, Entziehung der Fahrerlaubnis, Fahrerlaubnis-Verordnung, Medizinisch-psychologisches Gutachten, Strafgerichtliche Feststellungen, Wiederholungsgefahr, Streitwertfestsetzung, Ermessenserwägungen, Begutachtungsstelle für Fahreignung

Aktenzeichen  11 CS 20.2793

Datum:
9.3.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 4494
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
StVG § 2 Abs. 8, § 3 Abs. 1 S. 1
FeV § 11 Abs. 3 S. 1 Nr. 6, Abs. 8, § 46 Abs. 1, Abs. 3

 

Leitsatz

Nicht jede Straftat, die im Zusammenhang mit der Kraftfahreignung steht und Anhaltspunkte für ein hohes Aggressionspotenzial bietet, stellt zugleich eine erhebliche Straftat im Sinne von § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 FeV dar. Einen Anhalt für aggressive Neigungen oder eine generell geringe Hemmschwelle gegenüber der körperlichen Integrität anderer bieten die Massivität der Gewaltanwendung oder die Gefahrgeneigtheit oder Verletzungseignung der Handlung.

Verfahrensgang

M 6 S 20.3709 2020-11-17 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Unter Änderung der Nummer I. des Beschlusses des Verwaltungsgerichts München vom 17. November 2020 wird die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die Nummern 1 und 2 des Bescheids der Antragsgegnerin vom 30. Juli 2020 wiederhergestellt.
II. Unter Änderung der Nummer II. des Beschlusses des Verwaltungsgerichts München trägt die Antragsgegnerin die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000,- EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragstellerin wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Entziehung ihrer Fahrerlaubnis der Klassen B, BE, C1 (171), C1E, CE (79), L (174), M und S.
Im November 2019 wurde der Antragsgegnerin bekannt, dass das Amtsgericht München die Antragstellerin mit rechtskräftigem Urteil vom 9. Juli 2019 wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen verurteilt und ein Fahrverbot von einem Monat verhängt hatte. Dem lag folgender Sachverhalt zugrunde: Während die Antragstellerin ihren Pkw am 21. September 2018 auf einem Kundenparkplatz rückwärts in eine Längsparklücke einparkte, wartete die Fahrerin eines anderen Pkw diesen Parkvorgang ab, bevor sie einige Stellplätze weiter selbst einparkte. Die Antragstellerin näherte sich sodann dem geöffneten Fenster auf der Fahrerseite dieses Pkw, griff nach einem Wortwechsel durch das geöffnete Fenster nach den Haaren der Fahrerin und zog fest an diesen, wodurch die Fahrerin nicht unerhebliche Schmerzen erlitt.
Mit Schreiben vom 18. März 2020 forderte die Antragsgegnerin die Antragstellerin gemäß § 13 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 Alt. 1 FeV auf, innerhalb von drei Monaten ein medizinischpsychologisches Gutachten zur Klärung der Frage vorzulegen, ob sie trotz der aktenkundigen Straftat (hohes Aggressionspotenzial im Straßenverkehr) die Anforderungen an das sichere Führen eines Kraftfahrzeugs der Gruppe 1 und 2 erfülle und nicht erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche/strafrechtliche Bestimmungen verstoßen werde, die die Kraftfahreignung ausschließen würden. Dem kam die Antragstellerin nicht nach.
Daraufhin entzog ihr die Antragsgegnerin gestützt auf § 11 Abs. 8 FeV mit Bescheid vom 30. Juli 2020 die Fahrerlaubnis aller Klassen und forderte sie unter Androhung eines Zwangsgelds auf, ihren Führerschein unverzüglich, spätestens innerhalb einer Woche ab Zustellung des Bescheids, abzugeben. Am 8. August 2020 ließ die Antragstellerin ihren Führerschein bei der Polizei abgeben.
Am 14. August 2020 ließ sie durch ihre Bevollmächtigte Widerspruch einlegen und am 17. August 2020 beim Verwaltungsgericht München Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes beantragen.
Mit Beschluss vom 17. November 2020 lehnte das Verwaltungsgericht den Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO als unbegründet ab. Die Antragsgegnerin habe der Antragstellerin die Fahrerlaubnis zu Recht entzogen. Der Gutachtensanordnung habe keine sich aus § 3 Abs. 4 Satz 1 StVG ergebende Bindungswirkung des Strafurteils entgegengestanden, weil dieses keine Ausführungen zu ihrer Fahreignung enthalte und sich nicht zur Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 StGB verhalte, sondern allein zu einem Fahrverbot gemäß § 44 StGB. Ihm lasse sich bereits nicht entnehmen, ob das Strafgericht überhaupt eine eigenständige Eignungsbeurteilung vorgenommen habe. Die Gutachtensanordnung sei formell und materiell rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig gewesen. Die Voraussetzungen von § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 FeV hätten vorgelegen. Der Begriff „erheblich“ sei nicht mit „schwerwiegend“ gleichzusetzen, sondern beziehe sich auf die Kraftfahreignung. Er erfordere nicht, dass ein Pkw als Mittel zur Straftat genutzt oder die Tat unmittelbar im Straßenverkehr begangen worden sei. Die erforderlichen Anhaltspunkte für ein hohes Aggressionspotenzial müssten hinreichend konkret sein und den entsprechenden Eignungsmangel des Fahrerlaubnisinhabers als naheliegend erscheinen lassen. Ein Aggressionspotenzial müsse aber nicht bereits als vorhanden festgestellt worden sein. Eine vorsätzlich begangene Körperverletzung komme als erhebliche Tat in Betracht, insbesondere, wenn sie wie hier in unmittelbarem Zusammenhang mit einem Verhalten im Straßenverkehr stehe. Die Antragstellerin sei der Geschädigten nach einer Einparksituation zu ihrem Auto gefolgt und habe diese vorsätzlich verletzt. Das Greifen der Haare durch das geöffnete Fahrerfenster und das mehrfache Hin- und Herschütteln des Kopfes an den Haaren stelle keinen „marginalen Vorfall“ dar, sondern zeuge von großer Aggressivität und mangelnder Impulskontrolle. Es sei vorliegend gerade nicht bei einer rein verbalen Auseinandersetzung geblieben, sondern die Schwelle zum körperlichen Angriff überschritten worden. Die Antragstellerin habe nicht kraft eigener Willenskontrolle die Überschreitung dieser Schwelle unterlassen und damit belegen können, dass sie imstande sei, eine Aggression zumindest so zu steuern, dass es nicht zu einer Verletzung der körperlichen Integrität komme. Das Verhalten sei geeignet, Zweifel an der Fahreignung der Antragstellerin zu begründen, da es im Straßenverkehr immer wieder zu Konfliktsituationen mit anderen Verkehrsteilnehmern kommen könne, die eine ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksichtnahme erforderlich machten. Die Fahrerlaubnisbehörde habe das ihr zustehende Ermessen erkannt und fehlerfrei ausgeübt. Die Ermessenserwägungen seien offengelegt und damit Sinn und Zweck der angeordneten Mitteilungspflicht Genüge getan worden. Auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei beachtet worden. Die Antragsgegnerin habe im Rahmen der Angemessenheitsprüfung die zulasten und zugunsten der Antragstellerin sprechenden Gesichtspunkte rechtsfehlerfrei in ihre Abwägung eingestellt. Die Fragestellung der Gutachtensanordnung habe den sich aus § 11 Abs. 6 Satz 1 FeV ergebenden Anforderungen genügt. Die Beibringungsfrist sei ausreichend bemessen. Die Straftat sei im Zeitpunkt der Entziehung der Fahrerlaubnis auch noch nicht getilgt und gelöscht gewesen.
Mit ihrer Beschwerde, der die Antragsgegnerin entgegentritt, macht die Antragstellerin geltend, es gebe keinen einzigen vergleichbaren Fall, in dem eine medizinischpsychologische Untersuchung angeordnet worden sei. Es fehle an einer erheblichen Straftat im Sinne von § 13 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 Alt. 1 FeV. Die Anlasstat stehe nicht in Zusammenhang mit der Kraftfahreignung. Es bestünden keine Anhaltspunkte für ein hohes Aggressionspotenzial. Zudem liege ein Ermessensnicht- bzw. -fehlgebrauch vor. Ein Verstoß sei dann erheblich, wenn sich die Art der Begehung deutlich von vergleichbaren anderen unterscheide. Es sollten solche Verhaltensweisen als Anlass für eine Untersuchung genommen werden, die als dissozial, anpassungsgestört und unkontrolliert charakterisiert werden könnten. Dabei könnten die in der strafgerichtlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur Frage der Erheblichkeit nicht gänzlich unberücksichtigt bleiben, wonach eine Straftat von erheblicher Bedeutung sei, wenn sie mindestens dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzurechnen sei, den Rechtsfrieden erheblich störe und geeignet sei, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung zu beeinträchtigen. Einfache Körperverletzungen im Sinne von § 223 Abs. 1 StGB, die nur mit geringer Gewaltanwendung verbunden seien und die Erheblichkeitsschwelle der tatbestandlich vorausgesetzten Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit lediglich unwesentlich überschritten, erfüllten das Erheblichkeitsmerkmal im Sinne des § 63 StGB grundsätzlich nicht. Die vorliegende Verurteilung befinde sich mit 20 Tagessätzen am untersten Rand des möglichen Strafrahmens. Die Geschädigte habe keine Schäden davongetragen. Ihre Zivilklage habe sie zurückgenommen. Von einer erheblichen Störung des Rechtsfriedens könne nicht ausgegangen werden. Zudem würde die Anordnung einer medizinischpsychologischen Untersuchung bei nur einer Straftat, die nicht einmal dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzuordnen wäre, einen nicht aufzulösenden Widerspruch mit § 13 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 FeV, der im Übrigen die gleichen Voraussetzungen wie § 13 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 Alt. 1 FeV aufweise, und der hierzu ergangenen Rechtsprechung bedeuten. Die nicht punktebewertete Anlasstat habe keinen Zusammenhang mit der Kraftfahreignung der Antragstellerin. Dabei seien insbesondere die Regelungen des Fahreignungs-Bewertungssystems zu berücksichtigen. Um dieses System zu verlassen, müssten Besonderheiten den Einzelfall vom Regelfall im Sinne einer deutlich erhöhten Gefährlichkeit für den öffentlichen Straßenverkehr abheben. Auch wenn die Nutzung eines Pkw als Mittel zur Straftat nicht erforderlich sei, müsse anhand konkreter Umstände, die sich aus der Tat unter Berücksichtigung der Täterpersönlichkeit ergäben, festgestellt werden, ob die Anlasstat tatsächlich Rückschlüsse auf die Kraftfahreignung zulasse. Dabei könne es genügen, dass der Täter im Zusammenhang mit der Tat naheliegend mit einer Situation gerechnet habe oder habe rechnen müssen, in der es zu einer Gefährdung oder Beeinträchtigung des Verkehrs komme. Dies sei nicht der Fall. Die Anlasstat stehe auch nicht in Zusammenhang mit einem „Streit“ um einen Parkplatz. Die Antragstellerin sei lediglich ausgestiegen, um sich bei der Geschädigten darüber zu beschweren, dass diese ihr den Vogel gezeigt habe. Zur Eskalation sei es wegen der ausländerfeindlichen Beleidigung durch die Geschädigte gekommen. Diese sei in dem Verfahren durch die Vernehmung der Tochter der Antragstellerin unter Beweis gestellt worden. Unabhängig davon sei auch die Täterpersönlichkeit zu berücksichtigen. Die seit 28 Jahren verheiratete Antragstellerin habe zwei erwachsene studierende Kinder und sei niemals im Straßenverkehr auffällig geworden, obwohl sie seit 30 Jahren die Fahrerlaubnis besitze. In dem zugrunde gelegten Sachverhalt seien auch keine Anhaltspunkte für ein hohes Aggressionspotenzial zu erkennen. Die Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 7. August 2008 (11 CS 08.1854), auf die sich die Antragsgegnerin beziehe, habe mehrere Straftaten im fließenden Straßenverkehr und eine Verurteilung zum Gegenstand gehabt, die kurz vor der Eintragungsgrenze mit 90 Tagessätzen gelegen habe. Die Antragstellerin habe mangels körperlichen oder verbalen Widerstands der Geschädigten keine Kraft zur Überwindung eines Widerstands aufwenden müssen und ihr Handeln selbstständig ohne Einwirkung von außen beendet. Ob sie sich bei hypothetischem Widerstand der Geschädigten (latent) aggressiv verhalten und von der Tat Abstand genommen hätte, sei Spekulation. Aus einer singulär gebliebenen Tat ließen sich deshalb keine begründeten Zweifel in dem Sinne herleiten, dass die Antragstellerin im motorisierten Straßenverkehr die Rechte anderer Verkehrsteilnehmer nicht respektieren werde. Eine Neigung zu planvoller, bedenkenloser Durchsetzung eigener Anliegen ohne Rücksicht auf berechtigte Interessen anderer und eine Bereitschaft zu ausgeprägt impulsivem Verhalten sei nicht in einem fahrerlaubnisrechtlich relevanten Maß erkennbar. Auch lasse nicht jede grundsätzlich bestehende bzw. partiell vorhandene hohe Aggressionsbereitschaft Rückschlüsse auf die Fahreignung zu. Vielmehr müsse zu besorgen sein, der Betroffene handle auch bei konflikthaften Verkehrssituationen emotional impulsiv und erhöhe dadurch das Risiko einer gefährdenden Verkehrssituation sowie der aggressiven Durchsetzung eigener Bedürfnisse. Es liege fern, dass die Antragstellerin in Zukunft ihre eigenen Bedürfnisse im Straßenverkehr aggressiv durch nötigendes Auffahren oder Geschwindigkeitsüberschreitungen durchsetzen könnte. Sie sei nicht vorbestraft und noch niemals im Straßenverkehr negativ in Erscheinung getreten. Sie habe ihren Fehler eingeräumt. Eignungszweifel in charakterlicher Hinsicht lägen auch insofern fern. Darüber hinaus sei sie am 9. Oktober 2020 in München erneut durch eine massive ausländerfeindliche Beleidigung und Körperverletzung geschädigt geworden. Dabei sei sie sehr ruhig geblieben und habe sich zu keinen Gegenäußerungen und Handlungen hinreißen lassen. Dies beweise, dass der zugrunde liegende Vorfall ein einmaliges Ereignis gewesen sei und keine Eignungszweifel auszulösen vermöge. Eine auch nur im Ansatz den gesetzlichen Anforderungen genügende Ermessensausübung enthalte der Entziehungsbescheid weder im Hinblick auf die Anordnung der medizinischpsychologischen Untersuchung noch den Sofortvollzug. Die Antragsgegnerin habe sich nicht mit dem zu beurteilenden Einzelfall befasst, sondern stattdessen weitestgehend mit Textbausteinen gearbeitet oder den Fall mit einem anderen vermengt. So sei auf Seite 2 der Stellungnahme der Antragsgegnerin vom 4. September 2020 von „wiederholten Verstößen gegen verkehrsrechtliche Vorschriften“, von einem Bescheid „vom 23. Februar 2017“ und wiederholt von einem männlichen Antragsteller die Rede. In dem Entziehungsbescheid sei auf Seite 6 von „aggressiven Handlungen“ die Rede und davon, dass diese ein Verhaltensmuster offenbarten. Vollkommen außer Acht gelassen werde, dass die Antragstellerin von der Geschädigten massiv ausländerfeindlich beleidigt und provoziert worden sei. Die Fahrerlaubnisbehörde habe ihr Ermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt, nicht den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt und zulasten wie zugunsten der Antragstellerin sprechende Gesichtspunkte nicht ausreichend abgewogen. Zudem wäre zu berücksichtigen gewesen, dass die Antragstellerin erstmalig im Straßenverkehr auffällig geworden sei und es sich um einen Vorfall im ruhenden Straßenverkehr gehandelt habe, dass sie zuvor ausländerfeindlich beleidigt und anschließend durch Strafbefehl mit einer Geldstrafe und einem einmonatigen Fahrverbot belegt worden sei. Dadurch sei sie wiederholt nachträglich im Hinblick auf ihre Pflichten als Verkehrsteilnehmerin ermahnt worden, was die Ermessenserwägungen hätte einbezogen werden müssen.
Wegen des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
II.
Die Beschwerde, bei deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO auf die form- und fristgerecht vorgetragenen Gründe beschränkt ist, ist zulässig und begründet.
Der Widerspruch gegen den Entziehungsbescheid vom 30. Juli 2020 hat voraussichtlich Erfolg, was die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO gebietet.
Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes vom 5. März 2003 (StVG, BGBl I S. 310), zuletzt geändert durch Gesetz vom 3. Dezember 2020 (BGBl I S. 2667), und § 46 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 13. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV, BGBl I S. 1980), zuletzt geändert durch Verordnung vom 11. März 2019 (BGBl I S. 218), zum Teil in Kraft getreten zum 1. Januar 2021, hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich ihr Inhaber als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder bedingt geeignet ist, finden die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung (§ 3 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. § 2 Abs. 8 StVG, § 46 Abs. 3 FeV). Nach § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 FeV kann die Beibringung eines Gutachtens einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung (medizinischpsychologisches Gutachten) zur Klärung von Eignungszweifeln für die Zwecke nach § 11 Abs. 1 und 2 FeV angeordnet werden bei einer erheblichen Straftat, die im Zusammenhang mit der Fahreignung steht, insbesondere wenn Anhaltspunkte für ein hohes Aggressionspotenzial bestehen oder die erhebliche Straftat unter Nutzung eines Fahrzeugs begangen wurde. Weigert sich der Betroffene, sich untersuchen zu lassen, oder bringt er das geforderte Gutachten nicht fristgerecht bei, darf nach § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV auf die Nichteignung geschlossen werden. Der Schluss auf die Nichteignung ist allerdings nur zulässig, wenn die Anordnung der Begutachtung formell und materiell rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig ist (stRspr, vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2016 – 3 C 20.15 – BVerwGE 156, 293 = juris Rn. 19). Dies ist hier nicht der Fall, weil die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 FeV nicht erfüllt sind. Darauf, ob die Antragsgegnerin ihr Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt hat, kommt es demgemäß nicht mehr an.
Allerdings sind das Verwaltungsgericht und die Antragsgegnerin zutreffend davon ausgegangen, dass sich der Begriff „erheblich“ auf die Kraftfahreignung bezieht und nicht ohne weiteres mit „schwerwiegend“ gleichzusetzen ist (BT-Drs. 302/08, S. 61; Dauer in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl. 2021, § 11 FeV Rn. 30 m.w.N.); des Weiteren, dass Straftaten nach den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung vom 27. Januar 2014 (Vkbl S. 110) in der Fassung vom 28. Oktober 2019 (Vkbl S. 775) insbesondere dann auf ein hohes Aggressionspotenzial schließen lassen, wenn sie eine Bereitschaft zu ausgeprägt impulsivem Verhalten erkennen lassen und dabei Verhaltensmuster deutlich werden, die sich so negativ auf das Führen von Kraftfahrzeugen auswirken können, dass die Verkehrssicherheit gefährdet ist (BayVGH, B.v. 30.11.2020 – 11 CS 20.1781 – juris Rn. 16). Denn wer aufgrund des rücksichtslosen Durchsetzens eigener Interessen, aufgrund seines großen Aggressionspotenzials oder seiner nicht beherrschten Affekte und unkontrollierten Impulse in schwerwiegender Weise die Rechte anderer verletzt, lässt nicht erwarten, dass er im motorisierten Straßenverkehr die Rechte anderer Verkehrsteilnehmer – zumindest in den sehr häufigen Konfliktsituationen – respektieren wird (Nr. 3.16 der Begutachtungsleitlinien; BayVGH, B.v. 30.11.2020 a.a.O.; vgl. auch VGH BW, U.v. 27.7.2016 – 10 S 77/15 – VRS 130, 256 = juris Rn. 30; HessVGH, B.v. 13.2.2013 – 2 B 189/13 – NJW 2013, 3192 = juris Rn. 6; BayVGH, B.v. 5.7.2012 – 11 C 12.874 – juris Rn. 24; Dauer, a.a.O. § 11 FeV Rn. 35; Koehl, SVR 2013, 8). In Betracht kommen insoweit typischerweise solche Straftaten, die sich durch Aggression gegen Personen oder Sachen ausdrücken, wie etwa Körperverletzung, Raub, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Beleidigung, Nötigung und Sachbeschädigung (BayVGH, B.v. 30.11.2020 a.a.O.; HessVGH, a.a.O.; NdsOVG, U.v. 8.7.2014 – 12 LC 224/13 – NJW 2014, 3176 = juris Rn. 58; Tepe, NZV 2010, 64/66). Die Anhaltspunkte für ein hohes Aggressionspotenzial müssen hinreichend konkret sein und den entsprechenden Eignungsmangel des Fahrerlaubnisinhabers als naheliegend erscheinen lassen. Das eignungsausschließende Aggressionspotenzial muss aber nicht bereits als vorhanden festgestellt worden sein. Ob ein solcher Eignungsmangel vorliegt, soll vielmehr erst durch die medizinischpsychologische Begutachtung geklärt werden (BayVGH, B.v. 30.11.2020 a.a.O.; VGH BW, a.a.O; HessVGH, a.a.O.).
Andererseits ist der Systematik des § 11 Abs. 3 Satz 1 FeV zu entnehmen, dass nicht jede Straftat, die im Zusammenhang mit der Fahreignung steht und Anhaltspunkte für ein hohes Aggressionspotenzial bietet, zugleich eine erhebliche Straftat darstellt. Denn es ist nicht davon auszugehen, dass § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 FeV nach dem Willen des Verordnungsgebers keinen eigenständigen Anwendungsbereich haben und damit überflüssig sein sollte. Die tatbestandlichen Voraussetzungen von § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 1. Alt. und Nr. 7 FeV unterscheiden sich nur durch die notwendige Anzahl der Straftaten (eine bzw. mehr als eine) und den unbestimmten Rechtsbegriff der „erheblichen Straftat“. Dem liegt offensichtlich der Gedanke zugrunde, dass nicht jede Straftat im Zusammenhang mit der Fahreignung, selbst wenn sich in ihr ein hohes Aggressionspotenzial zeigt, schon die Annahme rechtfertigt, der betreffende Täter werde auch bei der Teilnahme am Straßenverkehr aggressiv agieren oder sich sonst verkehrsgefährdend verhalten (vgl. z.B. OVG NW, B.v. 10.9.2014 – 16 B 912/14 – juris Rn. 9 ff.). Der Zusammenhang zwischen aggressivem Verhalten außerhalb und innerhalb des Straßenverkehrs ist zwar empirisch nachgewiesen und kann auf einer grundsätzlichen Verhaltensdisposition beruhen (VGH BW, U.v. 27.7.2016 a.a.O. Rn. 30 m.w.N.; Hofmann/Petermann/Witthöft, SVR 2013, 12). Hieraus ergibt sich jedoch zugleich, dass dies nicht zwangsläufig so ist und es sich hierbei nicht um einen allgemeinen Erfahrungssatz handelt (vgl. zum allgemeinen Erfahrungssatz Kraft in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 137 Rn. 76; Eichberger/Buchheister in Schoch/Schneider, VwGO, Stand Juli 2020, § 137 Rn. 176; Dronkovic in Buschbell/Höke, MAH Straßenverkehrsrecht, 5. Auf. 2020, § 4 Rn. 62: eine allgemeine Erfahrungstatsache, dass negatives soziales Verhalten, das sich in einer Neigung zu Brutalität manifestiert, unteilbar ist und deshalb auch jederzeit im Straßenverkehr auftreten kann, gibt es nicht), sondern dass es insofern eines Anhalts von hinlänglicher Tragfähigkeit bedarf. Nur bei besonders aggressiven Straftätern kann ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass sie auch bei konflikthaften Verkehrssituationen, etwa bei Fahrfehlern anderer, emotional impulsiv handeln und dadurch das Risiko einer gefährlichen Verkehrssituation erhöhen sowie eigene Bedürfnisse aggressiv durchsetzen (vgl. Wagner/StrohbeckKühne/Koehl in Schubert/Huetten/Reimann/Graw, Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung, Komm., 3. Aufl. 2018, S. 349). Im Einzelfall kann es sich bei aggressivem Verhalten auch um ein isoliertes Fehlverhalten oder ein Augenblicksversagen handeln, das noch keine tragfähigen Rückschlüsse darauf zulässt, dass der Betroffene allgemein bereit ist, die Sicherheit des Straßenverkehrs seinen eigenen Interessen unterzuordnen. Dies ist anhand der konkreten Umstände, die sich aus der Tat unter Berücksichtigung der Täterpersönlichkeit ergeben, festzustellen (vgl. Wagner/Strohbeck-Kühner/Koehl, a.a.O. S. 349; BayVGH, B.v. 5.7.2012 – 11 C 12.874 – SVR 2012, 474 = juris Rn. 27; Wagner/Müller/Koehl/Rebler, Fahreignungszweifel bei Verkehrsdelinquenz, Aggressionspotenzial und Straftaten, Januar 2020, S. 93; vgl. auch BVerwG, U.v. 20.2.1987 – 7 C 87.84 – BVerwGE 77, 40 = juris Rn. 12 zu den insbesondere bei der Beurteilung der charakterlichen Eignung zu berücksichtigenden Umständen). Dabei kann auch nicht außer Betracht bleiben, wie es zu der Tat gekommen ist, weil sich hieraus durchaus Rückschlüsse auf eine Wiederholungsgefahr ergeben können.
Die hier vorliegenden Anhaltspunkte tragen nach Überzeugung des Senats die Annahme einer aggressiven Veranlagung der Antragstellerin bzw. einer generell geringen Hemmschwelle gegenüber der körperlichen Integrität anderer Menschen und damit die negative Prognose einer Wiederholungsgefahr nicht. Es handelt sich um einen Grenzfall, der einer sorgfältigen Betrachtung aller übrigen Umstände bedarf. Die Antragsgegnerin und das Verwaltungsgericht gehen zwar wie schon das Strafgericht zu Recht davon aus, dass der Übergang von einem verbalen Angriff zur Handgreiflichkeit, das Hineinlangen in ein fremdes Fahrzeug und das mehrmalige Hin- und Herziehen des Kopfes einer fremden Autofahrerin entgegen der Ansicht der Antragstellerin von erheblicher Aggressivität und mangelnder Impulskontrolle gekennzeichnet war und damit durchaus einen Zusammenhang mit der Kraftfahreignung haben kann. Auf die strafrechtliche Ahndung mit lediglich 20 Tagessätzen kommt es diesbezüglich nicht entscheidend an, auch wenn die strafgerichtliche Bewertung nicht völlig auszublenden ist. Einen Anhalt für aggressive Neigungen oder eine generell geringe Hemmschwelle gegenüber der körperlichen Integrität anderer bieten indes die Massivität der Gewaltanwendung oder die Gefahrgeneigtheit oder Verletzungseignung der Handlung (vgl. die den Entscheidungen des BayVGH, B.v. 27.11.2014 – 11 CS 14.2228 – juris; B.v. 24.11.2014 – 11 CS 14.2194 – juris; BayVGH, B.v. 14.8.2012 – 11 C 12.1746 – juris zugrunde liegenden Fälle: Faustschläge ins Gesicht, Schläge an die Schläfe, zum Teil unvermittelt und ohne Vorwarnung). Die Handlungsweise der Antragstellerin war zwar dazu geeignet, der Geschädigten nicht unerhebliche Schmerzen zuzufügen, letztlich aber nicht spezifisch geeignet, erhebliche Verletzungen hervorzurufen, die vorliegend auch nicht eingetreten sind. Ferner war nach den strafgerichtlichen Feststellungen nicht ausgeschlossen, dass besondere Umstände zu dem Kontrollverlust geführt haben, deren Wiederholung bei der Teilnahme am Straßenverkehr eher unwahrscheinlich ist. Die Auseinandersetzung drehte sich nicht um einen Parkplatz, sondern hatte mutmaßlich außerverkehrliche Gründe. Unklar und wohl nicht mehr aufklärbar ist, welche gegenseitigen verbalen Provokationen der Geschädigten und der Antragstellerin dem körperlichen Übergriff vorausgegangen sind. Insgesamt betrachtet hat die Tat noch keine hinreichende Aussagekraft hinsichtlich einer aggressiven Disposition, die sich – soweit ersichtlich – ansonsten noch nie manifestiert hat. Außer diesem einen Vorfall gibt es nicht den geringsten Anhalt für eine aggressive Neigung der mehr als 50jährigen Antragstellerin, obwohl sie seit Jahrzehnten am Straßenverkehr teilnimmt. Sie ist vor oder nach dem streitgegenständlichen Vorfall weder strafrechtlich noch außerstrafrechtlich oder im Straßenverkehr schon einmal aggressiv oder unbeherrscht in Erscheinung getreten. Von einem durch (mehrere) Tathandlungen belegten Verhaltensmuster kann daher nicht gesprochen werden. Im Ergebnis spricht daher mehr für ein einmaliges Fehlverhalten der Antragstellerin und die Annahme, dass sie sich die strafrechtliche Ahndung zur Warnung gereichen lassen wird.
Die Beschwerde war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nr. 1.5 Satz 1, Nr. 46.3 und 46.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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