Medizinrecht

Vielzahl von Medikamenten, die Leistungsfähigkeit einschränken könnten, Empfehlung des ärztlichen Gutachtens zur Anordnung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens, Nichteignungsvermutung aufgrund Nichtvorlage des Gutachtens

Aktenzeichen  M 19 S 21.6221

Datum:
10.1.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 1216
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
FeV § 11 Abs. 3 S. 1 Nr. 1
FeV Nr. 9.6.2. der Anlage 4
FeV § 11 Abs. 8

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 5.000 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Die 1950 geborene Antragstellerin wendet sich gegen die Entziehung ihrer Fahrerlaubnis der Klassen B, BE, C1, C1E, AM und L.
Die Polizeiinspektion Waldkraiburg informierte die Fahrerlaubnisbehörde darüber, dass es am … Mai 2020 gegen 17 Uhr zu einem Polizeieinsatz kam, da die Antragstellerin in der E.straße in W. ihr Auto ungefähr eine Stunde unabgeschlossen auf der rechten Fahrspur vor einer abgesenkten Zufahrt zu mehreren Garagen geparkt habe, sodass die Ein- und Ausfahrt zu den Garagen erschwert worden sei.
Unter Schilderung des vorgenannten Vorfalls informierte das Landratsamt die Antragstellerin mit Schreiben vom 31. Juli 2020 über die Prüfung ihrer Fahrtauglichkeit und bat um Vorlage einer Stellungnahme eines Allgemeinmediziners bis 20. August 2020. Dem von der Antragstellerin vorgelegten Attest vom 14. August 2020 des Allgemeinmediziners Dr. R. zufolge leide die Antragstellerin an verschiedenen internistischen Erkrankungen, u.a. Diabetes mellitus Typ 2, koronare Herzerkrankung, Hyperlipidämie, die jedoch nicht das verkehrswidrige Verhalten am … Mai 2020 verursacht hätten; eine Einschränkung der kognitiven Funktionen liege nicht vor.
Auf das daraufhin vom Landratsamt mit Schreiben vom 20. August 2020 auf der Grundlage von § 46 Abs. 3 i.V.m. § 11 Abs. 2 Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV) i.V.m. Nr. 4.6. und Nr. 5 der Anlage 4 zur FeV angeordnete Gutachten eines Arztes in einer Begutachtungsstelle für Fahreignung, legte die Antragstellerin ein ärztliches Gutachten vom 2. November 2020 des TÜV Nord vor, das auf einer Untersuchung vom 28. Oktober 2020 beruhte. Die Erkrankungen der Antragstellerin an arterieller Hypertonie (Nr. 4.2. der Anlage 4 FeV) und an Diabetes mellitus Typ 2 (Nr. 5.4. der Anlage 4 FeV) seien medikamentös ausreichend eingestellt. Die kardiale Situation sei nach dem 2016 erlittenen Herzinfarkt durch eine erfolgte Stentimplantation und eine Aortenstenose stabil. Die Antragstellerin nehme regelmäßig und gewissenhaft ihre Medikamente ein und werde den Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen gerecht. Hinsichtlich der Diabetes sei für die Gruppe 2 eine Nachuntersuchung nach drei Jahren notwendig. Beschränkungen seien nicht erforderlich. Die Vielzahl der von der Antragstellerin eingenommenen Medikamente könnten jedoch in der Kombination die Leistungsfähigkeit einschränken, sodass aus verkehrsmedizinischer Sicht die Überprüfung der Leistungsfähigkeit als notwendig erachtet werde.
Das Landratsamt ordnete mit Schreiben vom 12. November 2020, der Antragstellerin am 14. November 2020 zugestellt, die Vorlage eines medizinisch-psychologischen Gutachtens einer Begutachtungsstelle für Fahreignung bis zum 12. Januar 2021 an. Die Anordnung bezieht sich ausschließlich auf die wegen der Dauerbehandlung mit Arzneimitteln zu klärende Frage einer erforderlichen Leistungsfähigkeit zum sicheren Führen eines Kraftfahrzeugs. Sofern diese nicht bestünde, solle ergänzend das Kompensationsvermögen (u.a. in Form einer psychologischen Fahrverhaltensbeobachtung) überprüft werden. Aufgrund der vorliegenden Erkrankungen und deren Dauerbehandlung mit Arzneimitteln verstärkten sich die Fahreignungszweifel so erheblich, dass das der Fahrerlaubnisbehörde eingeräumte Ermessen auf nahezu Null reduziert sei. Die Anordnung nennt § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. Nr. 9.6 und den Nrn. 4.2, 4.4 und 5.4 der Anlage 4 zur FeV als Rechtsgrundlage.
Die Antragstellerin legte das nach Fristverlängerung bis 1. Juni 2021 verlangte Gutachten nicht vor. Der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin teilte dem Antragsgegner mit Schreiben vom 1. Juni 2021 mit, beim Hausarzt Dr. R. das Ergebnis der Neueinstellung der Medikamente angefragt zu haben. Mit Schreiben vom 19. Juli 2021 hörte der Antragsgegner die Antragstellerin zur beabsichtigten Entziehung der Fahrerlaubnis an.
Den zunächst erlassenen Entziehungsbescheid vom 9. September 2021 nahm der Antragsgegner mit Bescheid vom 28. Oktober 2021 zurück; ihm habe eine Rechtsgrundlage gefehlt. Die diesbezüglich geführten Verfahren in der Hauptsache und im einstweiligen Rechtsschutz wurden nach übereinstimmenden Erledigungserklärungen mit Beschlüssen des Verwaltungsgerichts München vom … November 2021 eingestellt (M 19 K … und M 19 S …) und vom Gericht zum streitgegenständlichen Verfahren beigezogen.
Mit Bescheid vom 28. Oktober 2021, dem Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin am 29. Oktober 2021 zugestellt, entzog der Antragsgegner der Antragstellerin die Fahrerlaubnis (Nr. 1), ordnete diesbezüglich die sofortige Vollziehung an (Nr. 3) und forderte sie auf, ihren Führerschein innerhalb einer Woche nach Zustellung des Bescheids abzugeben (Nr. 2). Der Führerschein liege dem Antragsgegner bereits vor. Nr. 4 enthält die Kostenentscheidung. Als Rechtsgrundlage für die Entziehung werden § 3 Abs. 1 Satz 1 Straßenverkehrsgesetz (StVG), § 46 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4 FeV und § 11 Abs. 8 FeV genannt.
Hiergegen erhob die Antragstellerin mit Schriftsatz vom 29. November 2021 beim Bayerischen Verwaltungsgericht München durch ihren Bevollmächtigten Klage und ließ darüber hinaus beantragen,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 28. Oktober 2021 wiederherzustellen und den Antragsgegner zur Rückgabe des Führerscheins an die Antragstellerin zu verpflichten.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen vorgebracht, dass sowohl die Aufforderungen zur Beibringung der Gutachten als auch die Entziehung der Fahrerlaubnis rechtswidrig gewesen seien. Es sei weit überzogen, aufgrund eines Falschparkens mit geringer Behinderung ein Gutachten zur Fahreignung zu verlangen. Die Antragstellerin habe ihr Fahrzeug am 11. Mai 2020 kurzfristig ungünstig geparkt, um einen Bekannten zu einer Geburtstagsfeier abzuholen. Hieraus lasse sich keinesfalls ein Mangel der „psycho-physischen Leistungsfähigkeit“ der Antragstellerin ableiten. Der Antragsgegner hätte in seine Ermessensausübung einstellen müssen, dass es sich um einen sehr gelinden Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung gehandelt habe. Des Weiteren wird auf ein nicht in der Behördenakte befindliches Schreiben des Prozessbevollmächtigten vom 3. August 2021 verwiesen, das auch nicht, wie in der Antragsschrift benannt, dem Gericht als Anlage K3 übersandt wurde. Hiernach habe die Antragstellerseite beim Landratsamt die Prüfung einer Umkreisbeschränkung erbeten. Die Antragstellerin habe monatlich ungefähr zehn Arzttermine und ein bis zwei Termine zur Fußpflege zu absolvieren. Außerdem benötige sie ihr Fahrzeug für den Lebensmitteleinkauf und den Besuch von Freunden, die in einer Entfernung von maximal 15 km von ihrer Wohnung entfernt lebten. Öffentlicher Nahverkehr sei in Waldkraiburg praktisch nicht vorhanden und auch auf Taxis müsse man stundenlang warten, sodass die Antragstellerin dringend auf die Benutzung ihres Fahrzeugs angewiesen sei. Zudem sei sie bislang im Verkehr noch nicht aufgefallen und fahre ohnehin nur noch sehr kurze Distanzen mit niedriger Geschwindigkeit.
Der Antragsgegner erwiderte mit nahezu inhaltsgleichen Schriftsätzen vom 9. Dezember 2021 und vom 3. Januar 2022 und beantragte,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung wurden im Wesentlichen die Bescheidsgründe wiederholt und darüber hinaus ausgeführt, dass das vom Prozessbevollmächtigten in Bezug genommene Schreiben vom 3. August 2021 dem Antragsgegner nicht vorliege. Im Übrigen liege eine Umkreisbeschränkung nicht im Ermessen der Fahrerlaubnisbehörde. Vielmehr sei hinsichtlich der Leistungsfähigkeit die Anordnung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens erforderlich gewesen, das jedoch nicht vorgelegt worden sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Behördenakte und die Gerichtsakten des vorliegenden und des Verfahrens mit den Aktenzeichen M 19 K … und M 19 S … Bezug genommen.
II.
Der Antrag nach § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) bleibt ohne Erfolg.
Nach Auslegung des gestellten Antrags (§§ 122 Abs. 1, 88 VwGO) ist davon auszugehen, dass die Antragstellerin die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO hinsichtlich der mit Nr. 3 des Bescheids des Landratsamts Mühldorf a. Inn vom 28. Oktober 2021 für sofort vollziehbar erklärten Entziehung der Fahrerlaubnis (Nr. 1 des Bescheids) begehrt. Die unter Nr. 2 des Bescheids angeordnete Abgabeverpflichtung wurde bereits nicht für sofort vollziehbar erklärt, da der Behörde das Führerscheindokument bereits vorlag. Dementsprechend wird ein Antrag auf Anordnung der Aufhebung der Vollziehung, sprich auf Herausgabe des bereits eingezogenen Führerscheins (§ 80 Abs. 5 Satz 2 VwGO) gestellt.
Der so verstandene Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist zulässig, aber unbegründet.
1. Die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung in Nr. 3 des Bescheids vom 28. Oktober 2021 genügt den formellen Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO. Nach dieser Vorschrift ist die Anordnung der sofortigen Vollziehung schriftlich zu begründen. Dabei hat die Behörde unter Würdigung des jeweiligen Einzelfalls darzulegen, warum sie abweichend vom Regelfall der aufschiebenden Wirkung, die Widerspruch und Klage grundsätzlich zukommt, die sofortige Vollziehbarkeit des Verwaltungsakts angeordnet hat. An den Inhalt der Begründung sind dabei keine zu hohen Anforderungen zu stellen (Schmidt in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 80 Rn. 43).
Dem genügt die ersichtlich auf den vorliegenden Einzelfall abstellende Begründung im streitgegenständlichen Bescheid. Die Fahrerlaubnisbehörde hat unter Bezugnahme auf das bis dato nicht vorgelegte medizinisch-psychologische Gutachten zur psycho-physischen Leistungsfähigkeit dargelegt, warum sie konkret im Fall der Antragstellerin im Interesse der Sicherheit des öffentlichen Straßenverkehrs die sofortige Vollziehung anordnet.
Im Übrigen ergibt sich im Bereich des Sicherheitsrechts das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung bereits aus den Gesichtspunkten, die für den Erlass des Verwaltungsakts maßgebend waren (BayVGH, B.v. 27.2.2019 – 10 CS 19.180 – juris Rn. 10 ff.).
2. Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung im Fall des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO ganz oder teilweise wiederherstellen. Das Gericht trifft dabei eine originäre Ermessensentscheidung. Es hat bei der Entscheidung über die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung abzuwägen zwischen dem von der Behörde geltend gemachten Interesse an der sofortigen Vollziehung ihres Bescheids und dem Interesse der Antragstellerin an der aufschiebenden Wirkung ihres Rechtsbehelfs. Bei dieser Abwägung sind auch die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO allein mögliche, aber auch ausreichende summarische Prüfung, dass der Rechtsbehelf offensichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse der Antragstellerin regelmäßig zurück. Erweist sich dagegen der angefochtene Bescheid schon bei summarischer Prüfung als offensichtlich rechtswidrig, besteht kein öffentliches Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens dagegen nicht hinreichend absehbar, verbleibt es bei einer Interessenabwägung.
Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt für die Anfechtungsklage gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung (stRspr, vgl. u.a. BVerwG, U.v. 23.10.2014 – 3 C 3.13 – juris Rn. 13), hier somit derjenige des Bescheidserlasses.
2.1. Rechtsgrundlage für die Entziehung der Fahrerlaubnis ist § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG, § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV, wonach die Fahrerlaubnisbehörde dem Inhaber einer Fahrerlaubnis, der sich als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist, die Fahrerlaubnis zu entziehen hat. Nach § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV gilt dies insbesondere dann, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 vorliegen oder erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen wurde. Im Fall einer Dauerbehandlung mit Arzneimitteln ist die Fahreignung u.a. dann nicht gegeben, wenn eine Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit zum Führen von Kraftfahrzeugen unter das erforderliche Maß besteht (Nr. 9.6.2 der Anlage 4 zur FeV). Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder bedingt geeignet ist, finden die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung (§ 3 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. § 2 Abs. 8 StVG, § 46 Abs. 3 FeV). Nach § 11 Abs. 2 Satz 1 FeV kann die Fahrerlaubnisbehörde die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens anordnen. Nach § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FeV kann die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens angeordnet werden, wenn nach Würdigung des ärztlichen Gutachtens gemäß § 11 Abs. 2 FeV ein medizinisch-psychologisches Gutachten zusätzlich erforderlich ist.
Weigert sich der Betroffene, sich untersuchen zu lassen, oder bringt er der Fahrerlaubnisbehörde das von ihr geforderte Gutachten nicht fristgerecht bei, darf diese bei ihrer Entscheidung auf die Nichteignung des Betroffenen schließen (§ 11 Abs. 8 Satz 1 FeV). So verhielt es sich hier. Der Antragsgegner durfte aus der Nichtbeibringung des von der Antragstellerin zu Recht geforderten medizinisch-psychologischen Gutachtens gemäß § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV auf ihre Nichteignung schließen.
2.1.1. Ein Schluss auf die Nichteignung ist jedoch nur zulässig, wenn die Anordnung des Gutachtens formell und materiell rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig ist (stRspr, vgl. nur BVerwG, U.v. 17.11.2016 – 3 C 20.15 – juris Rn. 19 m.w.N.). An die Rechtmäßigkeit der Gutachtensanordnung sind dabei grundsätzlich strenge Maßstäbe anzulegen, weil die Antragstellerin sie mangels Verwaltungsaktqualität nicht unmittelbar anfechten kann. Sie trägt das Risiko, dass ihr gegebenenfalls die Fahrerlaubnis bei einer Weigerung oder Nichtbeibringung entzogen wird. Der Gutachter ist an die Gutachtensanordnung und die dort formulierte Fragestellung gebunden (§ 11 Abs. 5 FeV i.V.m. Nr. 1 lit. a Satz 2 der Anlage 4a zur FeV). Es ist gemäß § 11 Abs. 6 FeV Aufgabe der Fahrerlaubnisbehörde, die Beurteilungsgrundlage und den Beurteilungsrahmen selbst klar festzulegen. Der Betroffene muss der Gutachtensaufforderung entnehmen können, was konkret ihr Anlass ist und ob das Verlautbarte die behördlichen Zweifel an seiner Fahreignung zu rechtfertigen vermag.
Gemessen an diesen Maßstäben begegnet die Gutachtensaufforderung des Antragsgegners vom 12. November 2020, wonach die Antragstellerin zur Abklärung ihrer Fahreignung ein medizinisch-psychologisches Gutachten einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung beizubringen hatte, keinen rechtlichen Bedenken.
(1) Sie genügt den formellen Voraussetzungen des § 11 Abs. 6 FeV. Die Fahrerlaubnisbehörde hat der Antragstellerin im Aufforderungsschreiben vom 12. November 2020 unter Nennung der zutreffenden Rechtsgrundlage des § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FeV die Gründe dargelegt, weshalb sie an ihrer Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen zweifelt. Insbesondere wird unter Bezugnahme auf das ärztliche Gutachten des TÜV Nord vom 2. November 2020 hinreichend deutlich, dass sich die medizinisch-psychologische Untersuchung (MPU) allein auf die Klärung der aufgrund der Mehrfachmedikation erforderlichen Leistungsfähigkeit beschränken soll. Die diesbezüglichen Fragestellungen waren nicht zu beanstanden. Sie verbinden richtigerweise eine etwaige abschlägige Beurteilung der Leistungsfähigkeit unmittelbar mit der daran anschließenden Klärung ihrer Kompensationsmöglichkeit. Denn die Verfügbarkeit der erforderlichen Leistungsfähigkeit ist keine stabile Größe, sodass bei der Beurteilung von festgestellten Eignungsmängeln die Frage ihrer möglichen Kompensierbarkeit von zentraler Bedeutung ist (vgl. Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung, Stand: 31.12.2019, 2.6 S. 13). Die Gutachtensaufforderung genügte auch den sonstigen, sich aus § 11 Abs. 6 FeV ergebenden formellen Anforderungen. Die Gutachtensaufforderung enthielt auch den erforderlichen Hinweis nach § 11 Abs. 8 Satz 2 FeV.
(2) Die materiellen Voraussetzungen zur Anforderung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FeV lagen im maßgeblichen Zeitpunkt der Begutachtungsanordnung (vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2016 – 3 C 20.15 – juris Rn. 14; BayVGH, B.v. 11.2.2019 – 11 CS 18.1808 – juris Rn. 18) ebenfalls vor. Es bestand Anlass für eine medizinisch-psychologische Begutachtung, weil nach Würdigung des ärztlichen Gutachtens vom 2. November 2020 ein zusätzliches medizinisch-psychologisches Gutachten erforderlich war i.S.d. § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FeV (zum Stufenverhältnis zwischen der ärztlichen und der – eingriffsintensiveren – medizinisch-psychologischen Begutachtung vgl. BayVGH, B.v. 30.3.2021 – 11 ZB 20.1138 – juris Rn. 17 m.w.N.).
Der hier zu prüfenden Anordnung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens ging eine Beibringungsanordnung des Antragsgegners vom 20. August 2020 hinsichtlich eines ärztlichen Gutachtens durch einen Arzt in einer Begutachtungsstelle auf der Grundlage von § 11 Abs. 2 FeV voraus. Da dieses Gutachten in Gestalt des ärztlichen Gutachtens des TÜV Nord vom 2. November 2020 beigebracht wurde, kommt es auf die Rechtmäßigkeit der ihm zugrundeliegenden Anordnung vom 20. August 2020 nicht mehr an (st. Rspr., vgl. etwa VG Köln, B.v. 28.5.2021 – 6 L 711/21 – juris Rn. 25; BayVGH, B.v. 28.10.2013 – 11 CS 13.1746 – juris). Das Ergebnis des Gutachtens schafft eine neue Tatsache, die selbständige Bedeutung hat (vgl. BVerwG, U.v. 28.4.2010 – 3 C 2.10 – juris Rn. 17 ff.; VG München, B.v. 5.5.2006 – M 6b S 06.1075 – juris Rn. 33). Der Einwand der Antragstellerseite, es handele sich vorliegend nur um einen untergeordneten Verkehrsverstoß, der eine Fahrerlaubnisentziehung keineswegs rechtfertigen würde, trägt damit nicht. Denn die Entziehung wird gerade nicht mit dieser Anlasstat oder den Erkrankungen der Antragstellerin begründet, sondern mit der Nichtbeibringung der auf Grundlage des ärztlichen Gutachtens vom 2. November 2020 angeordneten MPU.
Das Gutachten des TÜV Nord vom 2. November 2020 kommt zu dem Schluss, dass die einzelnen Erkrankungen der Antragstellerin für sich genommen medikamentös ausreichend eingestellt (arterielle Hypertonie und Diabetes mellitus Typ 2) oder durch operative Eingriffe stabilisiert sind (koronare Herzerkrankung) und die Antragstellerin auch die erforderliche Compliance aufgrund ihrer regelmäßigen und gewissenhaften Einnahme ihrer Medikamente besitzt. Es stellt damit die Fahreignung der Antragstellerin nicht in Frage. Allerdings trifft es darüber hinaus die unmissverständliche Aussage, dass die Vielzahl der von der Antragstellerin eingenommenen Medikamente in ihrer Kombination ihre Leistungsfähigkeit einschränken könnten. Es sieht daher aus verkehrsmedizinischer Sicht die Überprüfung ihrer Leistungsfähigkeit durch Anordnung einer MPU nach § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FeV als notwendig an.
Der Antragsgegner hat dieses Ergebnis bei seiner MPU-Anordnung ausreichend gewürdigt. Eine Würdigung i.S.d. § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FeV verlangt, dass sich die Fahrerlaubnisbehörde ein eigenes Urteil bildet (BayVGH, B.v. 30.3.2021 – 11 ZB 20.1138 – juris Rn. 17 m.w.N.). Empfiehlt das ärztliche Gutachten eine medizinisch-psychologische Begutachtung, hat sie dieses daher auf seine Nachvollziehbarkeit zu überprüfen (vgl. BayVGH, B.v. 11.3.2015 – 11 CS 15.82 – juris Rn. 15). Gleichwohl wird eine solche ärztliche Empfehlung in der Regel Zweifel begründen, denen die Fahrerlaubnisbehörde durch Anordnung einer zusätzlichen medizinisch-psychologischen Begutachtung nachgehen darf (vgl. dazu auch BR-Drs. 443/98, S. 256; Siegmund in Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., Stand 1.12.2021, § 11 FeV Rn. 69 f.).
Vorliegend hat der Antragsgegner die Nachvollziehbarkeit der ärztlichen Empfehlung zu Recht bejaht. Denn eine Dauerbehandlung mit Arzneimitteln findet in Nr. 9.6. der Anlage 4 zur FeV ihren Niederschlag. Hiernach geht der Verordnungsgeber im Falle einer Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit zum Führen von Kraftfahrzeugen unter das erforderliche Maß bezüglich beider Gruppen (d.h. aller Fahrerlaubnisklassen) von der Regelvermutung einer fehlenden Eignung aus (Nr. 9.6.2. der Anlage 4 zur FeV). Hierauf verweist der Antragsgegner in der gegenständlichen MPU-Anordnung und macht u.a. auch ergänzend auf mögliche Wechselwirkungen der einzelnen Medikamente aufmerksam. Die Anordnungsbegründung zeigt damit eine ausführliche Auseinandersetzung mit der ärztlichen Empfehlung des Gutachtens vom 2. November 2020.
Für die Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit der MPU-Anordnung ist es unschädlich, dass die ordnungsgemäß genannte Anordnungsgrundlage nach § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FeV i.V.m. Nr. 9.6. der Anlage 4 zur FeV ergänzend mit den Nrn. 4.2, 4.4 und 5.4 der Anlage 4 zur FeV verbunden wurde. Denn in der Anordnung wurde zutreffend die grundlegende Anordnungsbefugnis nach § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FeV und Nr. 9.6. der Anlage 4 zur FeV genannt und auch in der Begründung klar zum Ausdruck gebracht, dass die Leistungsfähigkeit auf Grundlage der Dauermedikation (Nr. 9.6. der Anlage 4 zur FeV) Gegenstand der Gutachtensklärung sein soll.
Dementsprechend ist auch nicht die in der MPU-Anordnung vom 12. November 2020 getroffene Aussage bezüglich eines nahezu auf Null reduzierten Ermessens zu beanstanden. Entscheidend ist vielmehr, dass die Behörde ihr Ermessen erkannt, das Gutachten auf seine Nachvollziehbarkeit überprüft und eine Abwägung zwischen den persönlichen Belangen der Antragstellerin und dem öffentlichen Interesse der Verkehrssicherheit durchgeführt hat. Sie bringt damit lediglich zum Ausdruck, dass für sie angesichts der klaren Aussage des nachvollziehbaren ärztlichen Gutachtens eine andere Entscheidung nicht denkbar gewesen wäre.
2.1.2. Bezüglich der Nichteignungsvermutung des § 11 Abs. 8 FeV stand dem Antragsgegner kein Ermessenspielraum zu. Bei Nichtvorlage eines zu Recht geforderten Fahreignungsgutachtens ist die Entziehung der Fahrerlaubnis zwingend (BayVGH, B.v. 30.3.2021 – 11 ZB 20.1138 – juris Rn. 14).
Daher konnten etwaige Folgen der Fahrerlaubnisentziehung für die Lebensführung der Antragstellerin, insbesondere die vorgetragenen unzureichenden alternativen Fortbewegungsmöglichkeiten von ihrem Wohnort, nicht berücksichtigt werden. Unabhängig davon rechtfertigen auch nicht Mobilitätseinschränkungen, aufgrund derer der Fahrer auf die Fahrerlaubnis privat angewiesen ist, vom Entzug der Fahrerlaubnis abzusehen. Ebenso kann und darf eine unbeanstandete Teilnahme am Straßenverkehr für die aktuelle, rein präventive Bewertung einer vom Betroffenen ausgehenden Gefährdung der Verkehrssicherheit keine Rolle spielen (VG München, B.v. 17.3.2017 – M 26 S 17.536 – juris Rn. 28).
Ebenso stand es im Rahmen der gebundenen Entscheidung des § 11 Abs. 8 FeV nicht im Ermessen der Behörde, die von der Antragstellerin angebotene Umkreisbeschränkung oder eine Einschränkung auf eine geringere Geschwindigkeit zu überprüfen. Derartige Auflagen und Beschränkungen kommen nur in Betracht, wenn eine bedingte Eignung festgestellt wurde (vgl. dazu Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung, Stand: 31.12.2019, 2.5 S. 12; VG Augsburg, U.v. 28.8.2009 – Au 7 K 08.1574 – juris Rn. 27); dies war angesichts des hier fehlenden medizinisch-psychologischen Gutachtens nicht der Fall.
2.2. Da somit die sofortige Vollziehung der Entziehung der Fahrerlaubnis der summarischen gerichtlichen Überprüfung standhält, verbleibt es auch bei der zur Entziehung akzessorischen (§ 3 Abs. 2 Satz 3 StVG, § 47 Abs. 1 FeV) Ablieferungspflicht in Nr. 2 sowie der Kostenentscheidung in Nr. 4 des Bescheids.
3. Der Antrag war nach alldem mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen. Die Festsetzung des Streitwerts ergibt sich aus §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz (GKG) i.V.m. den Empfehlungen in Nrn. 1.5 Satz 1 und 46.3 und 46.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.


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