Medizinrecht

Voraussetzungen zur Annahme von Vorsatz im Rahmen einer Betriebsprüfung

Aktenzeichen  L 16 BA 124/18

Datum:
10.6.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 52688
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB IV § 14 Abs. 2 S. 2, § 24  Abs. 2, § 28p Abs. 1 S. 5

 

Leitsatz

1. Bedingter Vorsatz iSd § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV und iSd § 24 Abs. 2 SGB IV setzt voraus, dass der Arbeitgeber in einer zumindest laienhaften Bewertung erkannt hat, dass er selbst möglicherweise Arbeitgeber ist, dass eine Abführungspflicht existiert und dass er durch die fehlende Anmeldung oder unvollständige oder unrichtige Angaben die Heranziehung zum Abführen von Sozialversicherungsbeiträgen ganz oder teilweise vermeiden könnte. (Rn. 36)
2. Ob bedingter Vorsatz oder bewusste Fahrlässigkeit vorliegt, ist durch eine umfassende Würdigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls anhand der konkreten Tatumstände festzustellen. Es kommt darauf an, aus welchen objektiven, äußerlich erkenn- und nachweisbaren Umständen der zulässige Rückschluss auf den subjektiven Tatbestand gezogen werden kann. (Rn. 37)
3. Bei der Beweiswürdigung kann von Relevanz sein, ob und inwiefern der Arbeitgeber im Geschäftsverkehr erfahren ist. Dabei kann es vorwerfbar sein, wenn ein Arbeitgeber bei Unklarheiten hinsichtlich der versicherungs- und beitragsrechtlichen Beurteilung einer Erwerbstätigkeit darauf verzichtet, die Entscheidung einer fachkundigen Stelle herbeizuführen oder Rechtsrat einzuholen. Jedenfalls bei Kaufleuten, die Arbeitgeber sind, sind auch die im Zusammenhang mit ihrem Gewerbe bestehenden Erkundigungspflichten in Bezug auf die arbeits- und sozialrechtliche Situation in den Blick zu nehmen. (Rn. 38)
4. Die objektive Beweislast für die unverschuldete Unkenntnis von der Zahlungspflicht iSd § 24 Abs. 2 SGB IV trägt derjenige, der sich darauf beruft. Die Feststellungslast für den subjektiven Tatbestand im Rahmen des § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV trifft im Zweifel den Versicherungsträger, der sich auf die Anwendung der Nettolohnhochrechnung beruft. (Rn. 40)

Verfahrensgang

S 10 R 8077/16 2018-05-02 Urt SGREGENSBURG SG Regensburg

Tenor

I.     Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 2. Mai 2018 aufgehoben und die Klage gegen den Bescheid vom 06.07.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.09.2016 abgewiesen.
II.    Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
III.    Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die zulässige Berufung der Beklagten ist in der Sache begründet.
Die nach § 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht erhobene Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 02.05.2018 ist zulässig. Streitgegenständlich ist ein Betrag in Höhe von 12.816,23 Euro (Säumniszuschläge 6.337,50 Euro, Wert der Nettolohnhochrechnung 6.478,73 Euro), so dass der Beschwerdewert in Höhe von 750,- Euro nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG überschritten wird.
In der Sache führt die Berufung zum Erfolg, da das Sozialgericht zu Unrecht den Bescheid vom 06.07.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.09.2016 insoweit aufgehoben hat, als die Nettolohnhochrechnung vorgenommen wurde und Säumniszuschläge erhoben wurden. Das Urteil des Sozialgerichts war daher aufzuheben und die Klage gegen die angefochtenen Bescheide abzuweisen, da der Bescheid vom 06.07.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.09.2016 rechtmäßig ist und die Klägerin nicht in ihren Rechten verletzt. Dieser ist bedingt vorsätzliches Verhalten vorzuwerfen, so dass sowohl die Nettolohnhochrechnung als auch die Erhebung von Säumniszuschlägen rechtmäßig erfolgten.
Streitgegenstand des Verfahrens ist nicht mehr die Nachforderung der Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von 6.434,03 Euro für die Tätigkeit des Beigeladenen an sich. Bereits im erstinstanzlichen Verfahren beantragte die Klägerin nur noch, die angefochtenen Bescheide insoweit aufzuheben, als die streitgegenständliche Beitragsforderung im Wege der Nettolohnhochrechnung erhöht wurde und soweit Säumniszuschläge festgesetzt wurden. Der Bescheid vom 06.07.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.09.2016 ist insoweit bestandskräftig geworden (vgl. auch BSG, Urteil vom 09.11.2011 – B 12 R 18/09 R, Rdnr. 12 juris).
Für den Erlass des die Beitragsfestsetzung regelnden Verwaltungsakts war die beklagte Deutsche Rentenversicherung (DRV) Bund sachlich zuständig. Nach § 28p Abs. 1 Satz 1 und 5 SGB IV (hier idF vom 15.04.2015) prüfen die Träger der Rentenversicherung bei den Arbeitgebern, ob diese ihre Meldepflichten und ihre sonstigen Pflichten nach dem SGB IV, die im Zusammenhang mit dem Gesamtsozialversicherungsbeitrag stehen, ordnungsgemäß erfüllen, insbesondere die Richtigkeit der Beitragszahlungen und der Meldungen (§ 28a SGB IV) mindestens alle vier Jahre. Sie erlassen im Rahmen der Prüfung Verwaltungsakte zur Versicherungspflicht und Beitragshöhe in der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung einschließlich der Widerspruchsbescheide gegenüber den Arbeitgebern, wobei § 28h Abs. 2 SGB IV sowie § 93 iVm § 89 Abs. 5 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) nicht gelten.
Zu Recht hat die Beklagte in ihrem Bescheid vom 06.07.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.09.2016 eine Nettolohnhochrechnung vorgenommen und Säumniszuschläge in Höhe von 6.337,50 Euro gefordert. Der Einwand der Klägerin gegen den Vorwurf des mindestens bedingten Vorsatzes und damit einhergehend gegen die Festsetzung der Säumniszuschläge (§ 24 SGB IV) und gegen die Anwendung der Nettolohnhochrechnung (§ 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV) greift nicht durch. Nach Überzeugung des Senats, die dieser auf den Inhalt der Akten sowie die Einlassungen der Beteiligten im Verwaltungs-, Widerspruchs- und Klageverfahren und den persönlichen Eindruck des Senats von dem damaligen Inhaber der Klägerin, G, und der Zeugin B2 in der mündlichen Verhandlung stützt, ist der Klägerin jedenfalls bedingter Vorsatz vorzuwerfen.
Ausgangspunkt und Rechtsgrundlage für die Beitragsberechnung der Beklagten ist § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV. Danach gilt ein Nettoarbeitsentgelt als vereinbart, wenn bei illegalen Beschäftigungsverhältnissen Steuern und Beiträge zur Sozialversicherung und zur Arbeitsförderung nicht gezahlt worden sind. Daraus folgt, dass auch in solchen Fällen – wie nach § 14 Abs. 2 Satz 1 SGB IV bei einer (legalen) Nettoarbeitsentgeltvereinbarung – die Gesamtsozialversicherungsbeiträge nach dem sog. Abtastverfahren zu ermitteln sind. Als beitragspflichtiges Arbeitsentgelt gelten danach die Einnahmen des Beschäftigten iSd § 14 Abs. 1 SGB IV zuzüglich der auf sie entfallenden (direkten) Steuern und des gesetzlichen Arbeitnehmeranteils an den Beiträgen zur Sozialversicherung und zur Arbeitsförderung. Der Begriff der illegalen Beschäftigung ist im Gesetz nicht näher und nicht allgemein definiert. Die Begriffsmerkmale korrespondieren inhaltlich mit § 1 Abs. 2 Nr. 1 Gesetz zur Bekämpfung der Schwarzarbeit und illegalen Beschäftigung – Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz (SchwarzArbG) und § 1 Abs. 2 Nr. 2 SchwarzArbG. Dem Begriff der illegalen Beschäftigung liegt – wie schon dem Begriff der abhängigen Beschäftigung in § 7 SGB IV – eine typologische Betrachtungsweise der unterschiedlichsten Erscheinungsformen von „Schwarzarbeit“ durch den Gesetzgeber zugrunde, die im Kontext des § 14 SGB IV von den herkömmlichen („legalen“) Beschäftigungsverhältnissen nach sozialversicherungsrechtlichen Merkmalen abzugrenzen ist. Unter illegalen Beschäftigungen im Sinne des § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV müssen alle Formen bewusster Zuwiderhandlungen des Arbeitgebers verstanden werden, bei denen der Verpflichtung nicht nachgekommen wird, Meldungen zu erstatten (§ 28a Abs. 1 SGB IV, § 111 Abs. 1 Nr. 2 SGB IV) und Beiträge für die Beschäftigten zu zahlen (§ 28e Abs. 1 SGB IV, § 266a StGB). Die Illegalität der Beschäftigung folgt nicht etwa aus Verstößen gegen Arbeitserlaubnisvorschriften zur Regulierung des Arbeitsmarkts, sondern aus der rechtswidrigen Abwicklung des Beschäftigungsverhältnisses unter Verstoß gegen die Melde- und Beitragszahlungspflichten zur Sozialversicherung (§§ 28a, 28e, 28f SGB IV). Die Rechtsprechung des BSG verlangt hier die Missachtung zentraler, arbeitgeberbezogener Pflichten des Sozialversicherungsrechts. Zusätzlich muss – als Korrektiv im Sinne eines ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals im Wege einer teleologischen Reduktion des § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV – mindestens bedingter Vorsatz zu dem Pflichtenverstoß festgestellt werden. Dabei ist an die für die Verjährung vorenthaltener Sozialversicherungsbeiträge geltende Regelung des § 25 Abs. 1 Satz 2 SGB IV (Verlängerung der Verjährungsfrist von vier auf dreißig Jahre) anzuknüpfen (vgl. BSG, Urteil vom 09.11.2011 – B 12 R 18/09 R, Rdnr. 20 f., 25, 28 juris). Das subjektive Element dient dabei der Ausklammerung von schlichten Berechnungsfehlern, versicherungsrechtlichen und beitragsrechtlichen Fehlbeurteilungen, die ebenfalls zu fehlenden Meldungen und Beitragszahlungen führen können, von der illegalen Beschäftigung jedoch unterschieden werden müssen (vgl. Werner in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IV, 3. Aufl. 2016, § 14 Rdnr. 324; BSG, Urteil vom 09.11.2011 – B 12 R 18/09 R, Rdnr. 23, 27 juris).
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze lagen die objektiven Voraussetzungen des § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV vor. Die Klägerin hat – weil sie den Beigeladenen zu Unrecht als Selbstständigen behandelt hat – insgesamt weder Steuern noch Beiträge zur Sozialversicherung und zur Arbeitsförderung abgeführt und damit gegen die gesetzlichen Pflichten zur Beitragszahlung (§ 28d und e SGB IV) und die vorausgehenden Melde-, Aufzeichnungs- und Nachweispflichten (§ 28a und § 28f SGB IV) als zentrale arbeitgeberbezogene Pflichten des Sozialversicherungsrechts verstoßen. Dass der Beigeladene bei der Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum beschäftigt war und deshalb Versicherungspflicht bestand, hat die Beklagte mit dem Bescheid vom 06.07.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.09.2016 bestandskräftig festgestellt.
Nach § 24 Abs. 1 Satz 1 SGB IV (hier idF vom 12.11.2009 und vom 15.07.2013) ist für Beiträge und Beitragsvorschüsse, die der Zahlungspflichtige nicht bis zum Ablauf des Fälligkeitstages gezahlt hat, für jeden angefangenen Monat der Säumnis ein Säumniszuschlag von eins vom Hundert des rückständigen, auf 50 Euro nach unten abgerundeten Betrages zu zahlen. Die objektiven Voraussetzungen für die Erhebung von Säumniszuschlägen sind hier erfüllt. Die Klägerin hat die von ihr geschuldeten Beiträge nicht rechtzeitig gezahlt.
Wird eine Beitragsforderung durch Bescheid mit Wirkung für die Vergangenheit festgestellt, ist ein darauf entfallender Säumniszuschlag nicht zu erheben, soweit der Beitragsschuldner glaubhaft macht, dass er unverschuldet keine Kenntnis von der Zahlungspflicht hatte (§ 24 Abs. 2 SGB IV). Unverschuldete Unkenntnis liegt nur vor, wenn der Beitragsschuldner 1. keine Kenntnis von seiner Zahlungspflicht hat, 2. die Unkenntnis nicht verschuldet ist, 3. ihm auch Kenntnis oder Verschulden einer anderen Person nicht zurechenbar ist und 4. die unverschuldete Unkenntnis ununterbrochen bis zur Festsetzung der Säumniszuschläge durch Bescheid bestanden hat (vgl. BSG, Urteil vom 12.12.2018 – B 12 R 15/18 R -, BSGE 127, 125-132, SozR 4-2400 § 24 Nr. 8, Rdnr. 11).
Die subjektiven Tatbestandsvoraussetzungen für die Erhebung der Säumniszuschläge (§ 24 Abs. 1, 2 SGB IV) und die Anwendung der Nettolohnhochrechnung (§ 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV) liegen ebenfalls vor. Für die Bestimmung des Verschuldensmaßstabs in § 14 Abs. 2 Satz 2 IV und § 24 Abs. 2 SGB IV ist auf bedingten Vorsatz abzustellen (vgl. Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 12.12.2018 – B 12 R 15/18 R, Rdnr. 16 juris und BSG, Urteil vom 09.11.2011 – B 12 R 18/09 R, Rdnr. 23, 27 juris).
Der bedingte Vorsatz ist von der groben Fahrlässigkeit abzugrenzen, die im Rahmen der § 24 Abs. 2 SGB IV, § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV nicht ausreicht. Bedingter Vorsatz setzt voraus, dass der Handelnde die relevanten Umstände jedenfalls für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen hat (Bundesgerichtshof (BGH), BGHZ 7, 313; BGH NJW 1963, 380; 1984, 801; 1986, 180, 182; BGHZ 117, 368; Köln NJW 1976, 297). Er muss in einer zumindest laienhaften Bewertung erkannt haben, dass er selbst möglicherweise Arbeitgeber ist, dass eine Abführungspflicht existiert und er durch die fehlende Anmeldung oder unvollständige oder unrichtige Angaben die Heranziehung zum Abführen von Sozialabgaben ganz oder teilweise vermeiden könnte. Bedingter Vorsatz liegt vor, wenn der Arbeitgeber die seine Beitragsschuld begründenden Tatsachen kennt, weil er zumindest als Parallelwertung in der Laiensphäre nachvollzieht, dass Beschäftigung vorliegt, die Beitragspflicht nach sich zieht. Eine sichere Kenntnis der Beitragspflicht ist nicht notwendig (BGH, Urteil vom 08.09.2011 – 1 StR 38/11-, Rdnr. 21 f., juris, zum vergleichbaren Tatbestand der Steuerhinterziehung). Grob fahrlässig handelt, wer die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt, d.h. wenn die relevanten Tatumstände objektiv erkennbar sind und der Handelnde sie hätte kennen können oder kennen müssen (BGH, Urteil vom 20.12.2011, VI ZR 309/10, NJW-RR 2012, 404, Rdnr. 10). Bewusste Fahrlässigkeit liegt dann vor, wenn der Handelnde davon ausgeht, dass die Beitragspflicht – die er lediglich für möglich hält – nicht eintreten wird. Für einen unverschuldeten Rechtsirrtum hat der Arbeitgeber nicht einzustehen.
Ob ein Arbeitgeber das Bestehen einer Beitragspflicht für möglich gehalten hat, muss im Rahmen der Beweiswürdigung geklärt werden. Ob bedingter Vorsatz oder lediglich bewusste Fahrlässigkeit vorliegt, ist durch eine umfassende Würdigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls anhand der konkreten Tatumstände festzustellen, d.h. anhand der konkreten Umstände des Einzelfalles und bezogen auf den betreffenden Beitragsschuldner durch Sachverhaltsaufklärung individuell zu ermitteln. Es kommt darauf an, aus welchen objektiven, äußerlich erkenn- und nachweisbaren Umständen der zulässige Rückschluss auf den subjektiven Tatbestand gezogen werden kann. Bloße Behauptungen zur inneren Tatseite müssen nicht als unwiderlegbar angesehen werden, wenn dafür im Übrigen keine Anhaltspunkte vorliegen (BGH, Beschluss vom 24.09.2019 – 1 StR 346/18 -, BGHSt 64, 195-209, Rdnr. 30). Allgemein geltende Aussagen zum Vorliegen eines subjektiven Tatbestandes sind ausgeschlossen. Regelmäßig liegt jedoch Vorsatz vor, wenn für das gesamte typische Arbeitsentgelt (z. B. bei „Schwarzarbeit“) keine Beiträge entrichtet werden (BSG, Urteil vom 30.03.2000, B 12 KR 14/99 R, Rdnr. 25 juris).
Bei der Beweiswürdigung kann zunächst Bedeutung erlangen, wie eindeutig die Indizien sind, die für das Vorliegen einer Arbeitgeberstellung sprechen. Zudem kann von Relevanz sein, ob und inwiefern der Arbeitgeber im Geschäftsverkehr erfahren ist oder nicht und ob das Thema „illegale Beschäftigung“ in der jeweiligen Branche im gegebenen zeitlichen Kontext vermehrt Gegenstand des öffentlichen Diskurses war. Ein gewichtiges Indiz kann auch sein, ob das gewählte Geschäftsmodell von vornherein auf Verschleierung oder eine Umgehung von sozialversicherungsrechtlichen Verpflichtungen ausgerichtet ist. Es kann dabei vorwerfbar sein, wenn ein Arbeitgeber bei Unklarheiten hinsichtlich der versicherungs- und beitragsrechtlichen Beurteilung einer Erwerbstätigkeit darauf verzichtet, die Entscheidung einer fachkundigen Stelle herbeizuführen (vgl. BSG, Urteil vom 09.11.2011 – B 12 R 18/09 R, Rdnr. 33 juris; BSG, Urteil vom 24.03.2016 – B 12 KR 20/14 R, Rdnr. 35 juris). Jedenfalls bei Kaufleuten, die als Arbeitgeber zu qualifizieren sind, sind auch die im Zusammenhang mit ihrem Gewerbe bestehenden Erkundigungspflichten in Bezug auf die arbeits- und sozialrechtliche Situation in den Blick zu nehmen, weil eine Verletzung einer Erkundigungspflicht auf die Gleichgültigkeit des Verpflichteten hinsichtlich der Erfüllung dieser Pflicht hindeuten kann (BGH, Beschluss vom 24.09.2019 – 1 StR 346/18 -, BGHSt 64, 195-209, Rdnr. 25-26). Dasselbe gilt, wenn er es unterlässt, in Zweifelsfällen Rechtsrat einzuholen (BGH, Urteil vom 08.09.2011 – 1 StR 38/11 -, Rdnr. 26 f. juris zur Steuerhinterziehung).
Ist eine juristische Person Beitragsschuldnerin, kommt es zunächst auf die Kenntnis oder unverschuldete Unkenntnis zumindest eines Mitglieds eines Organs von der Beitragspflicht an. Wissen und Verschulden eines vertretungsberechtigten Organmitglieds ist als dasjenige des Organs anzusehen und damit auch der juristischen Person zuzurechnen (vgl. BSG, Urteil vom 16.12.2015 – B 12 R 11/14 R, Rdnr. 66 juris mwN).
Hinsichtlich der Beweislast bestehen Unterschiede. Die objektive Beweislast für die unverschuldete Unkenntnis von der Zahlungspflicht trägt derjenige, der sich darauf beruft; gemäß § 24 Abs. 2 SGB IV reicht die Glaubhaftmachung aus (BSG, Urteil vom 12.12.2018 – B 12 R 15/18 R, Rdnr. 25 juris; Scheer in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IV, § 28p Rdnr. 216.1). Die Feststellungslast (Beweislast) für den subjektiven Tatbestand im Rahmen des § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV trifft im Zweifel den Versicherungsträger, der sich auf die Anwendung der Nettolohnhochrechnung beruft.
Nach diesen Grundsätzen ist der Klägerin im Rahmen des § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV und des § 24 Abs. 2 SGB IV der Vorwurf des bedingten Vorsatzes zu machen. Die Klägerin muss sich dabei das Wissen und Verschulden ihres damaligen Inhabers, G, zurechnen lassen, der nach der Überzeugung des Senats in Bezug auf die Arbeitgeberstellung der Klägerin hinsichtlich der Tätigkeit des Beigeladenen und auf die Nichterfüllung der damit zusammenhängenden Melde- und Beitragspflicht in der Sozialversicherung bedingt vorsätzlich gehandelt hat. Der Senat schließt dies aus den objektiven, erkennbaren äußeren Umständen, wie sie sich aus dem Inhalt der Akten sowie den Einlassungen des G und der Zeugin B2. ergeben. Die Indizien für das Vorliegen der Arbeitgeberstellung der Klägerin sind eindeutig. Der Beigeladene verrichtete als Fahrer und K. die gleichen Tätigkeiten wie die bei der Klägerin angestellten Fahrer, ohne in dieser Tätigkeit einem eigenen Unternehmerrisiko ausgesetzt gewesen zu sein. Er benutzte dabei – wie sich auch aus seinen Rechnungen ergibt, in denen die entsprechende Position nicht aufgeführt ist – keinen eigenen Lkw. Noch ein Jahr zuvor, im Jahr 2009, hatte der Beigeladene dieselbe Tätigkeit bei der Klägerin im Rahmen eines Leiharbeitnehmerverhältnisses mit der Fa. R ausgeübt. Weiter konnte sich der Senat in der mündlichen Verhandlung selbst davon überzeugen, dass es sich bei dem Inhaber der Klägerin, G, um einen erfahrenen und intelligenten Geschäftsmann handelt, dem das (Familien-)Unternehmen der Klägerin von klein auf vertraut ist und der im streitgegenständlichen Zeitraum im Jahr 2010 bereits seit 30 Jahren Inhaber der Klägerin war. G war, wovon der Senat aufgrund der glaubhaften Aussage der Zeugin B2 überzeugt ist, das Thema der „Scheinselbstständigkeit“ seit langem bekannt. Dies belegt seine Aussage gegenüber der Zeugin im Rahmen der Betriebsprüfung aus dem Jahr 1998, mit der er bestätigte, dass ihm bewusst sei, dass ein Fahrer ohne eigenen Lkw nicht als Selbstständiger behandelt werden könne. Der Senat hält die Zeugin auch für glaubwürdig. Diese konnte sich noch genau an die Umstände der damaligen Betriebsprüfung im Jahr 1998 erinnern, was auch deshalb überzeugend ist, weil es sich um eine der ersten Betriebsprüfungen der Zeugin nach deren Ausbildung handelte und ihr damaliger Vorgesetzter sie anlässlich der Zeitungsannonce insbesondere mit der Prüfung von „selbstständigen“ Lkw-Fahrern betraut hatte. Es ist kein Interesse der Zeugin erkennbar, der Klägerin zu schaden. Vielmehr ist die Klägerin der Zeugin seit vielen Jahren aus ihrer fortlaufenden Betriebsprüfungstätigkeit bekannt; die Zeugin hat auch angegeben, dass es im Hinblick auf die Fahrer bei der Klägerin ansonsten keine Beanstandungen gegeben habe und daher die Beauftragung des Beigeladenen als selbstständiger Fahrer sehr ungewöhnlich gewesen sei. Die Zeugin hat ausgesagt, G als intelligenten, erfahrenen Geschäftsmann sehr zu schätzen. G bestätigte gegenüber dem Senat, ihm sei die Problematik Scheinselbstständiger aus der Fachpresse bekannt und dass die Einordnung mit Schwierigkeiten verbunden sei. Tatsächlich war die Thematik der Scheinselbstständigkeit im Transport- und Fuhrbereich im Jahr 2010 auch bereits seit längerem Gegenstand des öffentlichen Diskurses, der Fachpresse und obergerichtlicher Entscheidungen (vgl. BSG, Urteil vom 22.06.2005 – B 12 KR 28/03 R: Transportfahrer; BSG, Urteil vom 19.08.2003 – B 2 U 38/02 R: Fahrer zur Auslieferung von Menüs; LSG Hessen, Urteil vom 19.10.2006 – L 8/14 KR 1188/03: Fahrer eines Paketdienstes; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 13.09.2007 – L 5 R 5/06: Kurierfahrer; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 21.11.2008 – L 4 KR 4098/06 – Lkw-Fahrer; LSG Hessen, Urteil vom 24.02.2009 – L 1 KR 249/08 und Urteil vom 17.12.2009 – L 8 KR 245/07: Lkw-Fahrer). Als erfahrenem Geschäftsmann hätte es G daher oblegen, sich in Bezug auf die Tätigkeit des Beigeladenen bei der Einzugsstelle, der Clearingstelle der Beklagten oder anderen fachkundigen Personen, etwa dem Steuerberater der Klägerin, zu erkundigen. Angesichts der genannten äußeren Umstände ist diese fehlende Erkundigung vorliegend im Sinne eines bedingten Vorsatzes vorwerfbar. Auch die vom Beigeladenen vorgelegten Rechnungen boten Anlass dazu, weitere Nachfragen zu stellen und Rechtsrat einzuholen. So fällt die Diskrepanz zwischen der Rechnungstellung (durch einen vermeintlich Selbstständigen, der „Beifahrertätigkeiten“ abrechnete) einerseits und dem jeweiligen handschriftlichen Vermerk des D auf den Rechnungen „Lohnkosten – Leergut Kom.“ bzw. „Lohnkosten – Leergut-Sortierung“ auf, der eine abhängige Beschäftigung nahelegt. Insgesamt werfen die Rechnungen die Frage auf, welche Tätigkeit konkret der Beigeladene verrichtete. Auch musste sich angesichts der in Rechnung gestellten „Beifahrertätigkeiten“ und der fehlenden Position zur Nutzung eines eigenen Lkw in der Rechnung der Verdacht aufdrängen, dass hier eine abhängige Beschäftigung vorliegen könnte. Zuzugeben ist, dass im Briefkopf der Firmenname „H . L-T-D“ durch den Zusatz „Lieferungen, Transporte, Dienstleistungen“ erklärt wird und eine solche Logistikfirma üblicherweise über eigene Fahrzeuge verfügt. Auch hatte D G gegenüber auf dessen Nachfrage geäußert, der Beigeladene verfüge als Kleinunternehmer über einen eigenen Kleintransporter. Allerdings hätte sich wegen der Überschrift der Rechnungen „Beifahrertätigkeiten in Ihrem Hause“, die gerade nicht den Einsatz eines eigenen Lkw nahelegt, G nicht mit der Auskunft von D begnügen dürfen, er habe dies geprüft und es sei in Ordnung. Die Klägerin selbst hatte darauf hingewiesen, dass D mit Fragen der Scheinselbstständigkeit nicht vertraut gewesen sei, so dass es angezeigt gewesen wäre, sich bei einer fachkundigen Stelle Rat zu holen und sich nicht auf die Aussage des zwar stets zuverlässigen, in dieser Frage jedoch nicht kundigen V. zu verlassen, zu dessen Aufgaben die Einstellung abhängig Beschäftigter gerade nicht gehörte. Auch die Tatsache, dass die Rechnungen, die G ausweislich seines Namenskürzels oben rechts auf jeder Rechnung sämtlich vorgelegt wurden, keine MwSt. bzw. USt. auswiesen, gleichzeitig aber auch der Hinweis auf die Anwendung der sog. Kleinunternehmerregelung (§ 19 UStG) entsprechend § 14 Abs. 4 Nr. 4 und 8 UStG fehlte, musste Anlass für Zweifel an der sozialversicherungsrechtlichen Einordnung der Tätigkeit des Beigeladenen geben. Für nicht nachvollziehbar hält der Senat, dass nach der Einlassung des G bei der Klägerin offenbar auch die Buchhaltung nicht überprüft, ob Rechnungen selbstständiger Vertragspartner die USt./MwSt. ausweisen. Der Senat hat G in der mündlichen Verhandlung als intelligenten, gut informierten und sehr strukturierten Unternehmensinhaber erlebt, so dass nicht überzeugend ist, dass G angesichts der geschilderten Umstände keine Zweifel in Bezug auf die Einordnung der Tätigkeit als selbstständige Tätigkeit gekommen sein sollen. G waren auch die Rechnungen der Fa. R für den Einsatz der Leiharbeitnehmer bekannt, die sich von den Rechnungen des Beigeladenen deutlich unterschieden, so dass er nicht davon ausgehen konnte, der Beigeladene sei wie eine andere Leiharbeitsfirma beauftragt worden. Der Senat kann zwar die geschilderte schwierige Situation der Klägerin im Jahr 2010 aufgrund des Krankenstandes verbunden mit einer hohen Auftragslage nachvollziehen. Die Klägerin war daran interessiert, weiter mit dem Beigeladenen, der ihr aufgrund seiner vorherigen Tätigkeit als Leiharbeitnehmer als zuverlässiger Arbeiter bekannt war, zusammenzuarbeiten. Die Tatsache jedoch, dass trotz der Ungereimtheiten in seinen Rechnungen und der Umstände, die eine abhängige Beschäftigung eindeutig nahelegten, keine weiteren Nachfragen getätigt wurden und nicht der Rat einer fachkundigen Person oder Stelle eingeholt wurde, stellt für den Senat gerade vor dem Hintergrund der geschilderten Personalengpässe im Jahr 2010 bedingt vorsätzliches Handeln dar. Der Senat ist davon überzeugt, dass der Inhaber der Klägerin deren Arbeitgeberstellung in Bezug auf die Tätigkeit des Beigeladenen jedenfalls für möglich hielt, durch das Unterlassen der Einholung von Rechtsrat zur sozialversicherungsrechtlichen Einordnung der Tätigkeit im Hinblick auf die kritische Situation im Betrieb und die Notlage der Klägerin aber billigend in Kauf nahm, die damit zusammenhängende Melde- und Beitragspflicht nicht zu erfüllen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG iVm § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht ersichtlich (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG).


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