Medizinrecht

Vorläufige Inhobhutnahme minderjähriger Flüchtlinge

Aktenzeichen  M 18 E 16.4362

Datum:
17.10.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VIII SGB VIII § 42a Abs. 1 S. 1, § 42f
VwGO VwGO § 123

 

Leitsatz

1 Durch die qualifizierte Inaugenscheinnahme nach § 42f Abs. 1 S. 1 Alt. 1 SGB VIII wird lediglich das Aussortieren ganz offensichtlicher Fälle der Volljährigkeit bezweckt (ebenso VGH BeckRS München 2016, 51383). (redaktioneller Leitsatz)
2 Ist die Volljährigkeit nicht offensichtlich (Zweifelsfall), ist eine ärztliche Untersuchung gemäß § 42f Abs. 2 S. 1 SGB VIII durchzuführen, bevor eine vorläufige Inobhutnahme (§ 42a Abs. 1 S. 1 SGB VIII) abgelehnt werden kann. (redaktioneller Leitsatz)
3 Angesichts der erheblichen Schwankungsbreiten medizinischer Untersuchungsmethoden von bis zu fünf Jahren bedarf es darüber hinaus eines „Sicherheitszuschlages“ von weiteren zwei bis drei Jahren (ebenso VGH München BeckRS 2016, 51383). (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die Antragsgegnerin wird einstweilen verpflichtet, den Antragssteller vorläufig in Obhut zu nehmen und in einer geeigneten Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung unterzubringen.
II.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Gründe

I.
Der Antragsteller ist nach eigenen Angaben afghanischer Staatsangehöriger und am … … 2001 geboren.
Am 2. September 2016 wurde der Antragsteller von der Polizeiinspektion … am Hauptbahnhof München erkennungsdienstlich behandelt und aufgrund seiner Angabe, am … … 2001 geboren zu sein, in die Aufnahmeeinrichtung … … … in München verbracht. Am 5. September 2016 fand ein Alterseinschätzungsgespräch bei der Antragsgegnerin statt. Als Ergebnis wurde festgehalten, dass der Antragsteller volljährig sei. Mit Bescheid vom gleichen Tag wurde das Geburtsdatum auf den … … 1998 festgesetzt und eine Inobhutnahme gemäß § 42a Abs. 1 SGB VIII abgelehnt. Als Begründung wurde angegeben, dass der Antragsteller keine beweiskräftigen Ausweispapiere oder sonstige Papiere vorgelegt habe und seine Minderjährigkeit auch nicht durch eine schlüssige mündliche Sachverhaltsdarstellung begründen habe können. Der Bescheid wurde dem Antragsteller ausgehändigt. Daraufhin wurde der Antragsteller in die Gemeinschaftsunterkunft Bayernkaserne in der Heidemannstrasse in München verlegt.
Am 26. September 2016 erhob der Antragssteller zur Niederschrift Klage (M 18 K 16.4361) gegen die Landeshauptstadt München.
Am gleichen Tag stellte der Antragsteller zur Niederschrift folgenden Antrag:
Die Beklagte wird im Wege einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO verpflichtet, mich umgehend in Obhut zu nehmen.
Als Begründung gab der Antragsteller an, dass die Ablehnung der Inobhutnahme mit Bescheid vom 5. September 2016 falsch sei. Er sei tatsächlich noch minderjährig und am … … 2001 geboren. Das festgesetzte Datum … … 1998 sei unzutreffend. Des Weiteren verweise er auf die in Kopie beigefügten Unterlagen.
Die Antragsgegnerin beantragte mit Schriftsatz vom 11.10.2016
den Antrag abzulehnen.
Der Antrag des Antragstellers müsse dahingehend ausgelegt werden, dass dieser die vorläufige Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII begehre. Ein Anordnungsanspruch sei jedoch nicht glaubhaft gemacht worden. Die Volljährigkeit des Antragsstellers sei in einem 60-minütigem Altersfeststellungsgespräch durch zwei erfahrene Mitarbeiter festgestellt worden. Die Handlungsempfehlungen der von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter zum Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen seien dabei beachtet worden.
Die Entscheidung des BayVGH (Az. 12 CE 14.1833) führe zu keinem anderen Ergebnis, da hier keine Alterseinschätzung allein aufgrund bestimmter äußerlicher Merkmale vorgenommen worden sei. Stattdessen seien im Verlauf des Altersfeststellungsgesprächs Fragen zur Person, zu den Eltern, zur Familie, zum eigenen Lebenslauf, zur Angabe des Fluchwegs und zur individuellen Situation des Befragten geklärt worden. Auch das Verhalten des Befragten werde auf Anzeichen für Minderjährigkeit oder Volljährigkeit für die Bewertung herangezogen, so dass eine verlässliche Alterseinschätzung erfolgt sei. Ein Zweifelsfall im Sinne des § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII liege daher nicht vor.
Zu weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichts- und der vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
Der Antrag des Antragstellers ist zulässig und begründet.
1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig.
Der Antrag des Antragstellers ist gemäß § 88 VwGO dahingehend auszulegen, dass er mit der einstweiligen Anordnung eine vorläufige Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII erreichen will. Ein Anspruch auf eine endgültige Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII scheidet offensichtlich aus. Die §§ 42a ff SGB VIII begründen ein chronologisch gestuftes System, das zunächst nur eine vorläufige Inobhutnahme zulässt. Eine endgültige Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII kommt nur in Betracht, wenn die Zuweisung oder der Ausschluss aus dem Verteilungsverfahren nach § 42b SGB VIII bereits stattgefunden hat.
2. Der Antrag ist auch begründet.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen zu Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheinen. Voraussetzung ist, dass der Antragsteller das von ihm behauptete streitige Recht (den Anordnungsanspruch) und die drohenden Gefahr seiner Beeinträchtigung (den Anordnungsgrund) glaubhaft macht, § 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO. Maßgebend sind dabei die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
2.1. Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.
Nach § 42a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ist das Jugendamt berechtigt und verpflichtet, ein ausländisches Kind oder einen ausländischen Jugendlichen vorläufig in Obhut zu nehmen, sobald dessen unbegleitete Einreise nach Deutschland festgestellt wird. Nach § 42a Abs.1 Satz 2, 42 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII umfasst die Inobhutnahme die Befugnis, ein Kind oder einen Jugendlichen bei einer geeigneten Person, in einer geeigneten Einrichtung oder in einer sonstigen Wohnform vorläufig unterzubringen.
Anspruchsberechtigt nach den vorgenannten Normen sind ausschließlich Kinder und Jugendliche. Nach § 7 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII ist im Sinne des SGB VIII Jugendlicher, wer 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist. Volljährige dürfen dagegen nicht in Obhut genommen werden.
Die Ablehnung der vorläufigen Inobhutnahme durch die Antragsgegnerin aufgrund der von ihr festgestellten Volljährigkeit ist rechtswidrig, da sie das gesetzlich vorgeschriebene Verfahren zur Feststellung der Minderjährigkeit nach § 42f SGB VIII nicht vollständig durchgeführt hat. Nach § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII hat das Jugendamt im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme gemäß § 42a SGB VIII die Minderjährigkeit durch Einsichtnahme in deren Ausweispapiere festzustellen oder hilfsweise mittels einer qualifizierten Inaugenscheinnahme einzuschätzen. Eine solche qualifizierte Inaugenscheinnahme nach § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII fand am 5. September 2016 statt. Das Ergebnis dieser Inaugenscheinnahme war, dass die Antragsgegnerin den Antragsteller als volljährig ansah und daher eine vorläufige Inobhutnahme mit Bescheid vom 05. September 2016 ablehnte.
Die Antragsgegnerin hat jedoch von Amts wegen des Vorliegens eines Zweifelsfalles angesichts der nicht offensichtlichen Volljährigkeit des Antragstellers eine ärztliche Untersuchung gemäß § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII durchzuführen, bevor sie eine vorläufige Inobhutnahme wegen Volljährigkeit des Antragstellers ausschließen kann. Nach § 42f Abs. 2 Satz 1 hat auf Antrag des Betroffenen oder seines Vertreters oder von Amts wegen in Zweifelsfällen eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung durch das Jugendamt stattzufinden. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Beschluss vom 16.8.2016 (Az. 12 CS 16.1550) und vom 18.8.2016 (12 CE 16.1570) das Tatbestandsmerkmal des Zweifelsfalles in § 42f Abs. 2 Satz 1 ausgelegt. Dementsprechend liegen Zweifel bei der Feststellung des Alters vor, wenn nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass ein fachärztliches Gutachten zu dem Ergebnis kommen wird, der Betroffene sei noch minderjährig. Eine qualifizierte Inaugenscheinnahme durch Mitarbeiter eines Jugendamtes kann allenfalls dann als zur Altersfeststellung geeignet angesehen werden, wenn es darum geht, für jedermann ohne Weiteres erkennbare (offensichtliche), gleichsam auf der Hand liegende, über jeden vernünftigen Zweifel erhabene Fälle eindeutiger Volljährigkeit auszuscheiden, in welchen ein sich Berufen des Betroffenen auf den Status der Minderjährigkeit selbst vor dem Hintergrund möglicher eigenen Unkenntnis von seinem genauem Geburtsdatum als evident rechtsmissbräuchlich erscheinen muss (BayVGH B.v. 16.8.2016 Az. 12 CS 16.1550, juris, Rn. 23 und BayVGH B.v. 18.8.2016 12 CS 1570, juris, Rn. 19). In allen anderen Fällen ist vom Vorliegen eines Zweifelsfalls auszugehen, so dass das Jugendamt eine ärztliche Untersuchung gemäß § 42f Abs. 2 Satz 1 veranlassen muss. Angesichts der erheblichen Schwankungsbreiten medizinischer Untersuchungsmethoden von bis zu 5 Jahren, wird es darüber hinaus eines „Sicherheitszuschlages“ von weiteren 2 bis 3 Jahren bedürfen, um dem Kindeswohl angemessen Rechnung zu tragen und jeder vermeidbaren Fehlbeurteilung entgegenzuwirken (vgl. BayVGH B.v. 16.8.2016 Az. 12 CS 16.1550, Rn. 24 und BayVGH B.v. 18.8.2016 Az. 12 CE 16.1570 Rn. 20).
Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes ist im vorliegenden Fall ein ärztliches Gutachten gem. § 42f Abs. 2 Satz 1 von der Antragsgegnerin zu veranlassen. Hierbei kommt es entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin nicht darauf an, ob lediglich die körperlichen Merkmale des Antragstellers in Augenschein genommen wurden oder sein Verhalten und seine Aussagen auch miteinbezogen wurden, da nach Ansicht des BayVGH lediglich das Aussortieren von ganz offensichtlichen Fällen der Volljährigkeit durch die qualifizierte Inaugenscheinnahme nach § 42f Abs. 1 SGB VIII bezweckt wird (BayVGH B.v. 16.8.2016 Az. 12 CS 16.1550, Rn. 24 und BayVGH B.v. 18.8.2016 Az. 12 CE 16.1570 Rn. 20).
Es erscheint angesichts der in der Akte vorliegenden Fotos nicht in jeglicher Hinsicht ausgeschlossen, dass der Kläger minderjährig sein könnte. Die Beklagte selbst hatte als Geburtsdatum den … … 1998 festgesetzt. Sie ist daher von einem erst seit einem halben Jahr volljährig gewordenen Kläger ausgegangen. Dies liegt innerhalb des oben erwähnten Sicherheitszuschlages, in dem auf jeden Fall medizinische Untersuchungen durchgeführt werden müssen, um Fehlbeurteilungen zulasten von Minderjährigen zu vermeiden.
2.2 Der Antragsteller konnte auch einen Anordnungsgrund glaubhaft machen.
Der Antragsteller kann nicht darauf verwiesen werden, bis zur ordnungsgemäß durchgeführten Alterseinschätzung einstweilen in einer Asylbewerberunterkunft für Erwachsene zu verbleiben, da eine Unterbringung dort und eine solche in einer Jugendhilfeeinrichtung oder einer Pflegefamilie nicht annähernd gleichwertig sind (BayVGH v. 23.9.2014 Az. 12 CE 14. 1833 – juris Rn.26).
3. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO i. V. m. § 188 Satz 2 VwGO.


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