Medizinrecht

Vorläufige Zuweisung einer Obdachlosenunterkunft

Aktenzeichen  M 22 E 17.3974

Datum:
26.10.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
LStVG LStVG Art. 6, Art. 7 Abs. 2 Nr. 3
BayVwVfG BayVwVfG Art. 3 Abs. 1 Nr. 4

 

Leitsatz

1. Für ein sicherheitsrechtliches Einschreiten zur Beseitigung einer unfreiwilligen Obdachlosigkeit ist regelmäßig die Gemeine örtlich zuständig, in der die aktuelle Obdachlosigkeit entstanden ist oder unmittelbar droht; dafür ist es nicht maßgeblich, wo der Betroffene gemeldet ist oder war bzw. wo er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder zuletzt hatte (Fortführung von BayVGH BeckRS 2017, 107825 Rn. 5). (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
2. Unregelmäßige und tageweise Schlafmöglichkeiten bei (verschiedenen) Bekannten führen nicht zu einer die Obdachlosigkeit (immer wieder) beseitigenden Wohnmöglichkeit. (Rn. 18 – 20) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin zur Behebung ihrer Obdachlosigkeit eine Notunterkunft zuzuweisen und vorrübergehend bis einschließlich 30. November 2017 zur Verfügung zu stellen.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 2.500 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragstellerin war seit 22. Juni 2016 durch die Antragsgegnerin obdachlosenrechtlich in einem Obdachlosenheim für Frauen untergebracht. Die Unterbringung war auf ein Jahr befristet und endete am 22. Juni 2017. Die Antragstellerin sprach noch am selben Tag sowie in der Folgezeit noch weitere Male bei der Antragsgegnerin wegen einer erneuten Zurverfügungstellung einer Unterkunft vor, wobei die Antragsgegnerin dies bislang ablehnte.
Die Antragstellerin beantragte zur Niederschrift des Bayerischen Verwaltungsgerichts München am 23. August 2017,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO zu verpflichten, ihr eine Unterkunft zuzuweisen.
Zur Begründung führt die Antragstellerin aus, sie sei im Jahr 2011 nach München gekommen und seither immer wieder obdachlos gewesen. Die von der Antragsgegnerin geforderten Auflistungen bzw. Bestätigungsschreiben von Personen, bei denen sie kurzfristig habe übernachten können, könne sie nicht beibringen, da diese Personen keine Weitergabe ihrer Daten wollten. Die Obdachlosigkeit und derzeitige Aussichtlosigkeit würde ihr seelisch und nervlich zusetzen. Wenn sie nicht das Glück habe, bei anderen Menschen schlafen zu dürfen, müsse sie die Nacht im Freien oder an Bahnhöfen verbringen.
Die Antragstellerin legte als Nachweis ihrer derzeitigen Wohnsituation ein Schreiben des Caritasverbandes – Fachbereich Migration – vom 17. August 2017 vor.
Die Antragsgegnerin beantragte mit Schriftsatz vom 25. August 2017, den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung trägt sie im Wesentlichen vor, sie könne nicht prüfen, ob die Antragstellerin ihrer Obliegenheit zur vorrangingen Selbsthilfe entsprochen habe, da sie sich bisher weigere darzulegen, bei welchen Personen sie nach ihrem Auszug aus dem Obdachlosenheim private Notquartiere gefunden habe und warum diese keinen Bestand haben könnten. Ohne diese Angaben bestehe von vornherein kein Anspruch auf Unterbringung durch die Antragsgegnerin als Obdachlosenbehörde.
Mit Schreiben des Gerichts vom 24. August 2017 und 30. August 2017 wurde die Antragsgegnerin aufgefordert, insbesondere Angaben über ihre Aufenthaltsorte nach dem Verlassen der vormaligen Obdachlosenunterkunft sowie über ihre finanziellen Möglichkeiten nachzureichen.
Bei einer persönlichen Vorsprache der Antragstellerin in der Rechtsantragstelle des Gerichts am 10. Oktober 2017 übergab die Antragstellerin Kontoauszüge für den Monat August 2017. Sie gab weiter an, dass sie derzeit arbeitssuchend sei und Arbeitslosengeld II in Höhe von 409,00 Euro monatlich erhalte. Seit ihrem Auszug aus der Obdachlosenunterkunft habe sie keine feste Wohnung und übernachte teilweise bei Bekannten, müsse aber auch teilweise im Freien schlafen. Sie habe tageweise bei Bekannten vor allem in Puchheim und in Frankfurt unterkommen können. Seit einem Tag halte sie sich vorübergehend in Puchheim auf.
Mit Schriftsatz vom 11. Oktober 2017 erwiderte die Antragsgegnerin, sie sei unter den von der Antragstellerin genannten Umständen örtlich nicht mehr zuständig. Die Gefahr für Leib und Leben trete – auch wenn die Antragstellerin dort nur wenige Nächte verbracht haben möge – bei Verlassen der Wohnung der Bekannten in Puchheim ein. Zudem sei die Antragsgegnerin in der Lage, sich mit Unterstützung des Sozialleistungsträgers selbst eine auch nur vorübergehende Unterkunft zu verschaffen. Es fehlten jegliche konkrete Nachweise darüber, dass sich die Antragstellerin selber um eine entsprechende Unterkunft bemüht habe bzw. warum diese Bemühungen keinen Erfolg gehabt haben sollten.
Nach einer weiteren Aufforderung des Gerichts mit Schreiben vom 13. Oktober 2017 reichte die Antragstellerin am 20. Oktober 2017 weitere Nachweise bezüglich ihrer finanziellen Lage ein.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte sowie die vorgelegte Behördenakte verwiesen.
II.
Der Antrag ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.
1. Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn diese Regelung um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus sonstigen Gründen nötig erscheint. Dabei hat der Antragsteller sowohl den (aus dem streitigen Rechtsverhältnis abgeleiteten) Anspruch, bezüglich dessen die vorläufige Regelung getroffen werden soll (Anordnungsanspruch), wie auch die Dringlichkeit einer vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) gemäß § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 Zivilprozessordnung (ZPO) glaubhaft zu machen. Maßgeblich für die Beurteilung sind dabei die rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts.
2. Die Voraussetzungen für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung liegen hier vor.
2.1 Die Antragsgegnerin hat als Sicherheitsbehörde die Aufgabe der Gefahrenabwehr. Hierzu zählt auch die Beseitigung einer – unfreiwilligen – Obdachlosigkeit (vgl. BayVGH, B.v. 26.4.1995 – 4 CE 95.1023 – BayVBl 1995, 729), wobei ein Tätigwerden nicht den Eintritt der Obdachlosigkeit voraussetzt, sondern schon im Vorfeld, wenn eine solche unmittelbar bevorsteht, veranlasst ist. Aus dieser gesetzlichen Verpflichtung ergibt sich ein Anspruch des Betroffenen (zumindest) auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Unterbringung durch die Behörde. Ein solcher Anspruch kann allerdings nur dann angenommen werden, soweit und solange der Betroffene die Gefahr nicht selbst aus eigenen Kräften oder mit Hilfe der Sozialleistungsträger beheben kann (vgl. BayVGH, B.v. 21.9.2006 – 4 CE 06.2465 – BayVBl 2007, 439).
Gemessen an diesen Vorgaben hat die Antragstellerin vorliegend sowohl einen Anordnungsanspruch wie auch einen Anordnungsgrund hinreichend glaubhaft gemacht.
2.2 Die Antragsgegnerin ist insbesondere die örtlich zuständige Sicherheitsbehörde nach Art. 6 LStVG. Die örtliche Zuständigkeit für eine sicherheitsrechtliche Anordnung zur Behebung von Obdachlosigkeit auf der Grundlage von Art. 7 Abs. 2 Nr. 3 LStVG richtet sich gemäß Art. 3 Abs. 1 Nr. 4 BayVwVfG danach, wo der entscheidende Anlass für die Amtshandlung hervortritt. Zuständig für ein sicherheitsrechtliches Einschreiten zur Beseitigung der mit der Obdachlosigkeit einhergehenden Gefahr ist daher regelmäßig die Gemeinde, in der die aktuelle (streitgegenständliche) Obdachlosigkeit entstanden ist oder unmittelbar droht. Maßgeblich ist insoweit nicht, wo die Antragstellerin gemeldet ist oder war, bzw. wo sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat oder zuletzt hatte, sondern wo sie aktuell obdachlos geworden ist (BayVGH, B.v. 26.4.1995 – 4 CE 95.1023 – BayVBl. 1995, 729; BayVGH, B.v. 4.4.2017 – 4 CE 17.615 – juris Rn. 5).
Dies zugrunde gelegt ist die aktuelle Obdachlosigkeit der Antragstellerin im Zuständigkeitsbereich der Antragsgegnerin eingetreten. Durch den Auszug aus der Obdachlosenunterkunft der Antragsgegnerin am 22. Juni 2017 wurde die Antragstellerin obdachlos. Diese Obdachlosigkeit dauert seither fort und wurde entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin nicht dadurch beseitigt, dass sich die Antragstellerin ihren eigenen Angaben nach seit dem Verlassen der Unterkunft bei verschiedenen Bekannten – auch außerhalb des Stadtgebiets der Beklagten – jeweils kurzfristig aufhalten konnte. Dass die Antragstellerin versucht, an verschiedenen Orten Möglichkeiten zu finden, die Nacht verbringen zu können um diese nicht im Freien verbringen zu müssen, berührt die Zuständigkeit der Antragsgegnerin zur obdachlosenrechtlichen Unterbringung nicht. Das unregelmäßige und tageweise Unterkommen bei Bekannten führt nicht dazu, dass die Obdachlosigkeit immer wieder beendet wird und neu entsteht. Die Antragstellerin ist fortwährend zumindest von Obdachlosigkeit bedroht, da durch die kurzzeitigen Schlafmöglichkeiten bei Bekannten eine die Obdachlosigkeit beseitigende Wohnmöglichkeit nicht angenommen werden kann.
2.3 Des Weiteren dürfte es der Antragstellerin nach summarischer Prüfung insbesondere nicht möglich sein, die Obdachlosigkeit aus eigener Kraft bzw. mit eigenen Mittel zu beheben.
Zwar würde die Bereitschaft von Angehörigen oder etwa Bekannten, einen Obdachlosen aufzunehmen, grundsätzlich dazu führen, dass ein behördliches Tätigwerden zur Gefahrenabwehr entbehrlich wird und der Betroffene regelmäßig im Rahmen der Selbsthilfeverpflichtung darauf verwiesen werden kann, ein entsprechendes Angebot anzunehmen, wenn dieses nach den Umständen zumutbar ist (vgl. VG München, B.v. 23.8.2017 – M 22 E 17.3770 – juris Rn. 17). Nach den insoweit glaubhaften Angaben der Antragstellerin ist jedoch nichts dahingehend ersichtlich, dass die Bereitschaft eines Bekannten bestünde, die Antragstellerin auch nur vorübergehend derart bei sich aufzunehmen, dass die sich aus der Obdachlosigkeit ergebenden Gefahren für Leben und Gesundheit beseitigt würden. Das lediglich unregelmäßige Übernachten bei verschiedenen Bekannten führt nicht zu einer Behebung der Obdachlosigkeit, da die Antragstellerin in diesem Fall zumindest unmittelbar von Obdachlosigkeit bedroht ist, was für die Pflicht der Antragsgegnerin zum Tätigwerden ausreicht. Für ein konkretes Wohnangebot eines Bekannten an die Antragstellerin ist insoweit nichts ersichtlich. Dabei sind entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin die Angaben der Antragstellerin zu ihren Aufenthaltsorten seit ihrem Auszug aus der Obdachlosenunterkunft zur Glaubhaftmachung ihres Anspruchs auf obdachlosenrechtliche Unterbringung vorliegend auch ausreichend. Der konkreten Nennung der Personen, bei denen die Antragstellerin zwischenzeitlich gelegentlich untergekommen ist, bedarf es nach den Umständen des Falles zur Klärung der für die Entscheidung relevanten Umstände nicht. Die Antragstellerin hat in der Niederschrift vom 23. August 2017, dem vorgelegten Schreiben des Caritasverbandes vom 17. August 2017 sowie der persönlichen Vorsprache am 10. Oktober 2017 hinreichend dargelegt, dass sie derzeit ohne Obdach ist und ein die Obdachlosigkeit beseitigendes Unterkommen bei Bekannten nicht möglich erscheint.
Schließlich ist nicht erkennbar, dass der Antragstellerin die Behebung der Obdachlosigkeit aus eigenen finanziellen Mitteln, etwa durch vorübergehende Anmietung eines Pensionszimmers, möglich wäre. Die Antragstellerin bezog bis einschließlich 18. August 2017 Arbeitslosengeld Iin Höhe von monatlich 967,50 Euro. Seither erhält sie Arbeitslosengeld II in Höhe von monatlich 409,00 Euro. Weitere Einkünfte ergeben sich weder aus den von der Antragstellerin vollständig vorgelegten Kontoauszügen noch aus der Behördenakte.
2.4 Der Anordnungsgrund ist in der aufgrund der bestehenden Obdachlosigkeit gegebenen Eilbedürftigkeit zu sehen.
3. Im Hinblick darauf, dass es im vorliegenden Verfahren nur um eine vorläufige Rechtschutzgewährung geht, wird die Anordnung befristet. Es wird auch darauf hingewiesen, dass die obdachlosenrechtliche Unterbringung nicht als Dauerlösung angesehen werden darf, sondern lediglich Überbrückungscharakter hat. Der Antragstellerin obliegt es daher gleichwohl, sich – gegebenenfalls mit Unterstützung des zuständigen Sozialleistungsträgers – im Rahmen der durch das SGB geschaffenen Möglichkeiten alsbald selbst eine geeignete Wohnmöglichkeit zu verschaffen. Bei Ablauf der Frist ist von der Antragsgegnerin erneut zu prüfen, ob dem Antragsteller weiterhin Obdachlosigkeit droht und eine Verlängerung der Unterbringung veranlasst ist.
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung aus § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG i.V.m. Ziffer 1.5 sowie Ziffer 35.3 des Streitwertkatalogs 2013 für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.


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