Medizinrecht

Wesentlicher Mangel – Recht auf Anhörung eines Arztes wurde nicht gewahrt

Aktenzeichen  L 17 U 400/16

Datum:
10.8.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 124370
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGG § 109 Abs. 1 u Abs. 2

 

Leitsatz

Eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme, die zu einer Zurückverweisung nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG führen kann, ist auch bei der Erfordernis einer Anhörung eines Arztes nach § 109 SGG gegeben. (Rn. 28)

Verfahrensgang

S 13 U 72/15 2016-10-20 GeB SGWUERZBURG SG Würzburg

Tenor

I. Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Würzburg vom 20.10.2016 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht Würzburg zurückverwiesen.
II. Die Entscheidung über die Kosten bleibt der endgültigen Entscheidung in der Hauptsache vorbehalten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Der Senat konnte nach § 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, da die Beteiligten mit Schriftsätzen vom 25.04.2017 bzw. vom 26.04.2017 ihr Einverständnis hierzu erteilt haben.
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist auch im Übrigen zulässig (§§ 143, 144, 151 SGG).
Die Berufung ist im Sinne einer Aufhebung des angegriffenen Gerichtsbescheids vom 20.10.2016 und einer Zurückverweisung der Sache an das SG auch begründet.
Gegenstand des vorliegenden Verfahrens sind die Bescheide vom 21.11.2014 und vom 05.03.2015 (Widerspruchsbescheid), mit denen die Beklagte die Gewährung einer Verletztenrente wegen des Arbeitsunfalls des Klägers vom 01.11.2011 abgelehnt hat.
Rechtsgrundlage für die Entscheidung, das Urteil des SG aufzuheben und zurückzuverweisen, ist § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG. Hiernach kann das Landessozialgericht die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet und aufgrund dieses Mangels eine umfassende und aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist.
Das Verfahren vor dem SG leidet an einem wesentlichen Mangel, denn das SG hat das Recht des Klägers auf gutachtliche Anhörung eines bestimmten Arztes nach § 109 SGG (zu § 109 SGG als Sonderregelung zu § 103 S. 2 SGG für das Recht der Beweiserhebung durch Sachverständige siehe BSG, Urteil vom 20.04.2010 – B 1/3 KR 22/08 R, juris Rn. 16; Urteil vom 14.03.1956 – 9 RV 226/54, juris Rn. 10 f.) nicht beachtet. Der Kläger hat erstinstanzlich mit Fax vom 14.07.2016 die Anhörung des Arztes Dr. K., Klinik für Schulterchirurgie an der Klinik M. vom Roten Kreuz, F-Stadt beantragt. Dem Antrag hat das SG zu Unrecht nicht entsprochen.
Nach § 109 Abs. 1 S. 1 SGG muss auf Antrag des Versicherten, des behinderten Menschen, des Versorgungsberechtigten oder Hinterbliebenen ein bestimmter Arzt gutachtlich gehört werden. Die Anhörung kann davon abhängig gemacht werden, dass der Antragsteller die Kosten vorschießt und vorbehaltlich einer anderen Entscheidung des Gerichts endgültig trägt (S. 2).
Der Kläger hat als Versicherter mit Fax vom 14.07.2016 die gutachtliche Anhörung des Arztes Dr. K. beantragt. Der geforderte Kostenvorschuss war bereits eingezahlt.
Ein Grund für die Ablehnung des Antrags nach § 109 Abs. 2 SGG lag nicht vor. Danach kann das Gericht einen Antrag ablehnen, wenn durch die Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits verzögert werden würde und der Antrag nach der freien Überzeugung des Gerichts in der Absicht, das Verfahren zu verschleppen, oder aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden ist.
Es ist schon nicht erkennbar, dass die Zulassung des am 14.07.2016 gestellten Antrags nach § 109 SGG auf Anhörung des Dr. K. – insbesondere bei bereits eingezahltem Kostenvorschuss – zu einer Verzögerung des Verfahrens geführt hätte. Zum Zeitpunkt des Antrags war weder durch das SG eine Terminierung des Rechtsstreits zur Verfahrensbeendigung erfolgt noch ins Auge gefasst. Eine Terminierung des Rechtsstreits erfolgte erst am 22.09.2016 und somit mehr als 2 Monate nach Antragstellung. Zudem hatte das SG dem Kläger mit der Weiterleitung des Schreibens des zunächst als Gutachter nach § 109 SGG benannten Arztes Professor Dr. H. vom 13.06.2016 zur Kenntnis und Stellungnahme binnen 2 Wochen sein Einverständnis mit der in dem Schreiben vorgeschlagenen Vorgehensweise signalisiert. Auch bei einer Zustimmung des Klägers zur Abänderung der Beweisanordnung nach § 109 SGG durch Ernennung des Oberarztes Dr. N. zum ärztlichen Sachverständigen anstelle des Professor Dr. H. wäre aber allenfalls bis Ende des Jahres mit einem Eingang des Gutachtens zu rechnen gewesen, wie aus dem Schreiben vom 13.06.2016 hervorgeht. Damit konnte das SG nach dem von ihm ins Auge gefassten weiteren Verfahrensverlauf nicht von einer Terminierung des Verfahrens vor Februar 2017 ausgehen. Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass es dem vom Kläger benannten Dr. K. nicht ebenfalls möglich gewesen wäre, innerhalb – gerechnet ab dem Eingang der Äußerung des Klägers am 14.07.2016 – von fünfeinhalb Monaten das Gutachten nach § 109 SGG zu erstellen. Damit wäre aber auch im Fall der Ernennung des Dr. K. zum ärztlichen Sachverständigen eine Terminierung des Rechtsstreits ab Februar 2017 möglich gewesen.
Im Übrigen hat der Kläger seinen Antrag auf Anhörung des Dr. K. nach § 109 SGG auch nicht aus grober Nachlässigkeit, also unter Außerachtlassung jeglicher für die Prozessführung erforderlichen Sorgfalt (vgl. BSG v. 10.06.1958 – 9 RV 836/55, juris Rn. 16; v. 10.12.1971 – 11 RA 56/71, juris Rn. 13), nicht früher vorgebracht. Zwar hat der Kläger den Antrag erst am 14.07.2016 und somit außerhalb der vom SG ursprünglich bis zum 10.11.2015 gewährten Frist zur Benennung eines nach § 109 SGG anzuhörenden Arztes gestellt. Allerdings erfolgte die nicht fristgerechte Benennung von Dr. K. in Reaktion auf die Mitteilung des Professor Dr. H. vom 13.06.2016, dass es ihm nicht möglich sei, das Sachverständigengutachten persönlich zu erstatten. Diese Mitteilung wurde dem Kläger am 15.06.2016 zugeleitet. Die Benennung des anstelle von Professor Dr. H. nach § 109 SGG gutachtlich zu hörenden Arztes erfolgte dann innerhalb angemessener Monatsfrist. Eine verspätete Antragstellung aus grober Nachlässigkeit ist damit nicht zu erkennen.
Entgegen der Auffassung des SG kann ein grob nachlässiges Verhalten des Klägers auch nicht darin gesehen werden, dass dieser vor der Benennung des Professor Dr. H. als nach § 109 SGG gutachtlich zu hörenden Arzt nicht ausreichend geklärt habe, ob Professor Dr. H. zur Gutachtenserstattung bereit und in der Lage sei. Denn mit seiner Annahme setzt sich das SG über den ausdrücklichen Vortrag des Klägers hinweg, dass ihm Professor Dr. H. vorab zugesichert habe, das Gutachten fristgerecht zu erstellen, ohne anzugeben, weshalb dieser Vortrag unzutreffend sein soll.
Für das Vorliegen einer Verschleppungsabsicht im Sinne des § 109 Abs. 2 SGG fehlen jegliche Anhaltspunkte.
Der beschriebene Verfahrensmangel ist auch wesentlich, weil die Entscheidung des SG auf ihm beruhen kann (zur Wesentlichkeit des Mangels siehe Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 159 Rn. 3a; zur unberechtigten Ablehnung eines Antrags nach § 109 SGG als wesentlichem Verfahrensmangel siehe u.a. BSG v. 21.01.1960 – 8 RV 1277/58, juris). Hätte das SG dem Antrag des Klägers entsprochen, hätte es entgegen seiner getroffenen Entscheidung im Wege der Beweiswürdigung zu dem Ergebnis kommen können, dass unfallbedingte Gesundheitseinschränkungen des Klägers die Gewährung einer Verletztenrente begründen. Der Kläger hat die Nichtbeachtung seines Rechts nach § 109 SGG auch ausdrücklich gerügt.
Es ist beim gegenwärtigen Sachstand davon auszugehen, dass der vorliegende Verfahrensmangel eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme erforderlich macht. Denn die Frage, ob der Kläger einen Anspruch auf Bewilligung einer Verletztenrente hat, kann nicht ohne weitere Sachverhaltsaufklärung entschieden werden. Das SG hat durch Einholung aktueller Befunde der behandelnden Ärzte des Klägers und eines Gutachtens nach § 109 SGG weiteren Beweis zu erheben. Dabei stellt schon allein die Einholung eines weiteren Gutachtens eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme dar, da sie einen erheblichen Einsatz von personellen und sächlichen Mitteln erfordert (vgl. u.a. LSG Berlin-Brandenburg v. 09.03.2017 – L 13 SB 273/16, juris Rn. 21, u. v. 14.01.2016 – L 27 R 824/15, juris Rn. 14; Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern v. 27.08.2014 – L 5 U 6/14, juris Rn. 82; a.A. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 159 Rn. 3a). Zudem zieht ein solches Gutachten erfahrungsgemäß weitere Stellungnahmen der Beteiligten nach sich und macht häufig auch eine ergänzende gutachtliche Stellungnahme des zunächst von Amts wegen gehörten ärztlichen Sachverständigen erforderlich.
Bei seiner Zurückverweisung nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG hat der Senat sein Ermessen dahingehend auszuüben, ob er die Sache selbst entscheiden oder zurückverweisen will. Die Zurückverweisung soll zwar in der Regel vermieden werden (Keller a.a.O. Rn. 5a). In Abwägung zwischen den Interessen der Beteiligten an einer möglichst schnellen Sachentscheidung und dem Grundsatz der Prozessökonomie einerseits sowie dem Verlust einer Instanz andererseits hält es der Senat jedoch vorliegend für angezeigt, den Rechtsstreit an das SG zurückzuverweisen. Dabei berücksichtigt der Senat, dass die Berufung des Klägers erst seit 17.11.2016 und somit seit relativ kurzer Zeit in der Berufungsinstanz anhängig ist. Dem Kläger entsteht durch die Zurückverweisung somit kein wesentlicher zeitlicher Nachteil. Auch ist der Rechtsstreit aus den genannten Gründen nicht entscheidungsreif. Vielmehr ist zunächst der medizinische Sachverhalt von Amts wegen umfassend aufzuklären, um abschließend prüfen zu können, ob (nunmehr) die Voraussetzungen für die Gewährung einer Verletztenrente beim Kläger vorliegen. Zudem kann nicht außer Acht bleiben, dass der Kläger bereits erstinstanzlich die Nichtbeachtung seines Rechts nach § 109 SGG gerügt und sich das SG über seinen Vortrag zur nicht gegebenen Nachlässigkeit ohne Angabe von Gründen hinweggesetzt hat. Die hierzu angehörten Beteiligten haben im Übrigen gegen eine Zurückverweisung keine Einwendungen erhoben.
Nach alledem fällt für den Senat der Umstand, dass dem Kläger durch eine Zurückverweisung an das SG eine Instanz zurückgegeben wird, wesentlich stärker ins Gewicht als die durch die Zurückverweisung eintretende kurze zeitliche Verzögerung im gerichtlichen Verfahren.
Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 u. 2 SGG), sind nicht ersichtlich.


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