Miet- und Wohnungseigentumsrecht

Bedarfe für Unterkunft und Heizung

Aktenzeichen  L 11 AS 882/15 B ER

Datum:
27.1.2016
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB II SGB II § 7 Abs. 1 S.1,§ 22Abs. 1 S.1
SGG SGG § 86b Abs. 2 S. 2
WoGG WoGG § 12

 

Leitsatz

1. Kein Anordnungsgrund für Berücksichtigung der tatsächlichen, unangemessenen Bedarfe für Unterkunft und Heizung. (amtlicher Leitsatz)
2 Ein Anordnungsgrund für Zeiträume vor einer gerichtlichen Entscheidung im Verfahren des einsteiligen Rechtsschutzes ist nur ausnahmsweise anzunehmen, wenn ein noch gegenwärtig schwerer, irreparabler und unzumutbarer Nachteil glaubhaft gemacht wird und ein besonderer Nachholbedarf durch die Verweigerung der Leistungen in der Vergangenheit auch in der Zukunft noch fortwirkt oder ein Anspruch eindeutig besteht. (red. LS Andreas Hofmann)
3 Wenngleich nicht ohne weiteres angenommen werden kann, dass sich ein Leistungsträger von vorneherein ohne ein Bemühen, ein schlüssiges Konzept zu erstellen, auf die Wohngeldtabelle und einen Sicherheitszuschlag zurückziehen kann, bieten die Werte jedenfalls im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes einen Anhaltspunkt für eine abstrakte Angemessenheitsgrenze. (red. LS Andreas Hofmann)

Tenor

I.
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Nürnberg vom 01.12.2015 wird zurückgewiesen.
II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

I. Streitig ist die Gewährung von Leistungen für Bedarfe für Unterkunft und Heizung.
Der Antragsteller (ASt), geboren 1957, bewohnt eine 72,49 qm große Drei-Zimmer-Wohnung, für die er nach einer Mieterhöhung seit 01.06.2014 monatlich 398,70 € (zuvor 371 €) für die Kaltmiete und 138 € für eine Betriebskostenvorauszahlung (80 € Heizkosten und 58 € Nebenkosten) zu zahlen hat. Für einen Tiefgaragenstellplatz fallen monatlich weitere 40 € (zuvor 33 €) an. Seit 2010 bezieht er vom Antragsgegner (Ag) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes (Arbeitslosengeld II -Alg II-) nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Nachdem zunächst – mit Ausnahme der Miete für den Tiefgaragenstellplatz – der tatsächliche Bedarf für Unterkunft und Heizung (abzüglich der Kosten für die Erzeugung von Warmwasser) im Rahmen der Leistungsgewährung berücksichtigt wurde, begrenzte der Ag nach einer entsprechenden Kostensenkungsaufforderung – der ASt hatte hierzu vorgebracht, er benötige im Hinblick auf einen möglichen Eintritt einer Pflegebedürftigkeit seiner Mutter eine größere Wohnung mit einem eigenem Schlafzimmer für sie – die Leistungen für Bedarfe der Unterkunft und Heizung ab 01.03.2012 auf eine Mietobergrenze von zuletzt 443 €, ausgehend vom Tabellenwert in § 12 Wohngeldgesetz (WoGG) in der bis 31.12.2015 geltenden Fassung bei Mietstufe III und einem Ein-Personen-Haushalt zuzüglich eines Sicherheitszuschlages von 10%.
Mit Bescheid vom 07.10.2015 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 21.10.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.10.2015 (über die dagegen zum Sozialgericht Nürnberg – SG – erhobene Klage S 6 AS 1230/15 ist nach Aktenlage bislang nicht entschieden) in der Fassung des Änderungsbescheides vom 29.11.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.01.2016 bewilligte der Ag zuletzt Alg II iHv monatlich 842 € (399 € Regelbedarf und 443 € Bedarfe für Unterkunft und Heizung) für die Zeit vom 01.11.2015 bis 31.12.2015 und monatlich 847 € (404 € Regelbedarf und 443 € Bedarfe für Unterkunft und Heizung) für die Zeit vom 01.01.2016 bis 30.04.2016. Weitere Leistungen für Unterkunft und Heizung könnten wegen des Überschreitens der Mietobergrenze – auch darlehensweise – nicht erbracht werden. Dagegen legte der ASt Widerspruch ein und trug u. a. vor, die Mietkosten seien in voller Höhe zu berücksichtigen, da der Ag die Übernahme von Umzugskosten in eine kleinere Wohnung verweigere. Ein Umzug sei wegen seiner schweren Depression unzumutbar. Der Fehlbetrag von 136,30 € monatlich müsse aus dem Regelsatz und durch Darlehen finanziert werden. Am 15.10.2015 beantragte der ASt zudem auch die volle Mietzahlung rückwirkend seit September 2010.
Am 16.10.2015 hat der ASt beim SG einen „Eilantrag“ gestellt und die vollständige Übernahme der Mietkosten durch den Ag rückwirkend seit Entstehung seiner Krankheit ab September 2010 beantragt. Den Antrag hat das SG mit Beschluss vom 01.12.2015 abgelehnt. Im Hinblick auf bereits abgelaufene Zeiträume fehle es an einem Anordnungsgrund, da ein noch gegenwärtig schwerer, irreparabler und unzumutbarere Nachteil, ein besonderer Nachholbedarf oder das eindeutige Bestehen des geltend gemachten Anspruchs nicht glaubhaft gemacht worden bzw. erkennbar sei. Auch für den aktuellen Bewilligungszeitraum fehle es an einer existenziellen Notlage. Der Umstand, dass bereits in der Vergangenheit die Mietkosten nicht vollständig übernommenen worden sind, habe bisher nicht zu einem Wohnungsverlust geführt. Anstrengungen zur Senkung der Unterkunftskosten durch Untervermietung oder zur Erlangung günstigeren Wohnraums seien vom ASt nicht unternommen worden. Schließlich sei weder eine Räumungsklage erhoben noch eine Kündigung ausgesprochen worden.
Dagegen hat der ASt Beschwerde zum Bayer. Landessozialgericht eingelegt. Seine Untätigkeit sei seinem Gesundheitszustand geschuldet und eine Wohnungssuche sei nicht zumutbar. Zur Bestreitung des Fehlbetrages bei den Unterkunftskosten habe er sich Fremdmittel von Freunden und Bekannten leihen müssen.
Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten des Ag sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
II. Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz -SGG-), aber nicht begründet. Das SG hat den Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Recht abgelehnt.
Rechtsgrundlage für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes stellt § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG dar, da der geltend gemachte Rechtsanspruch in der Hauptsache mittels einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage geltend zu machen ist. Insoweit ist eine Regelung zulässig, wenn sie zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Das ist etwa dann der Fall, wenn der ASt ohne eine solche Anordnung schwere und unzumutbare, nicht anders abwendbare Nachteile entstehen, zu deren Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (so BVerfG vom 25.10.1998 – BVerfGE 79, 69 (74); vom 19.10.1997 – BVerfGE 46, 166 (179) und vom 22.11.2002 – NJW 2003, 1236; Niesel/Herold-Tews, Der Sozialgerichtsprozess, 5. Aufl, Rn. 652). Die Regelungsanordnung setzt das Vorliegen eines Anordnungsgrundes – das ist in der Regel die Eilbedürftigkeit – und das Vorliegen eines Anordnungsanspruches – das ist der materiell-rechtliche Anspruch, auf den der ASt sein Begehren stützt – voraus. Die Angaben hierzu hat der ASt glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 2 und 4 SGG i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Auflage, § 86b Rn. 41).
Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht dabei eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des Anordnungsgrundes sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und Rechtslage im vom BVerfG vorgegebenen Umfang (BVerfG vom 12.05.2005 – Breithaupt 2005, 803 = NVwZ 2005, 927, NDV-RD 2005, 59) das Obsiegen in der Hauptsache sehr wahrscheinlich ist. Ist bzw. wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruches der Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.
Sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu. Soweit existenzsichernde Leistungen in Frage stehen, sind die Anforderungen an den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch weniger streng zu beurteilen. In diesem Fall ist ggf. auch anhand einer Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des ASt zu entscheiden (vgl. BVerfG vom 12.05.2005 – Breithaupt 2005, 803 = NVwZ 2005, 927, NDV-RD 2005, 59 und vom 22.11.2002 NJW 2003, 1236; BVerfG vom 15.01.2007 – 1 BvR 2971/06; weniger eindeutig BVerfG, Beschluss vom 04.08.2014 – 1 BvR 1453/12).
Unter Beachtung dieser Überlegungen ist dem ASt einstweiliger Rechtsschutz nicht zu gewähren.
Soweit der ASt mit seinem Antrag die Übernahme bereits in der Vergangenheit (seit September 2010) fälliger Mietzinsforderungen, welche offensichtlich nicht ungedeckt geblieben sind, begehrt, fehlt es an einem Anordnungsgrund. Im Rahmen einer hier begehrten Regelungsanordnung ist der Anordnungsgrund die Notwendigkeit, wesentliche Nachteile abzuwenden, um zu vermeiden, dass der ASt vor vollendete Tatsachen gestellt wird, ehe er wirksamen Rechtsschutz erlangen kann (vgl. Keller a. a. O. § 86b Rn. 27a). Charakteristisch ist daher für den Anordnungsgrund die Dringlichkeit der Angelegenheit, die in aller Regel nur in die Zukunft wirkt. Es ist rechtlich zwar nicht auszuschließen, dass auch für vergangene Zeiträume diese Dringlichkeit angenommen werden kann; diese überholt sich jedoch regelmäßig durch Zeitablauf. Ein Anordnungsgrund für Zeiträume vor einer gerichtlichen Entscheidung ist daher nur ausnahmsweise anzunehmen, wenn ein noch gegenwärtig schwerer, irreparabler und unzumutbarer Nachteil glaubhaft gemacht wird, und ein besonderer Nachholbedarf durch die Verweigerung der Leistungen in der Vergangenheit auch in der Zukunft noch fortwirkt oder ein Anspruch eindeutig besteht (vgl. Beschluss des Senates vom 12.04.2010 – L 11 AS 18/10 B ER). Ein solcher besonderer Nachholbedarf ist nicht glaubhaft dargestellt worden. Ebenso kann nicht von einem eindeutig bestehendem Anspruch ausgegangen werden (siehe dazu sogleich).
Soweit noch der laufende, ungedeckte Bedarf für die Unterkunft begehrt wird, ist ein Anordnungsanspruch nicht gegeben. Zwar erfüllt der ASt die Anspruchsvoraussetzungen nach § 7 Abs. 1 SGB II, der Ag leistet entsprechend auch Alg II. Ein Anspruch auf Berücksichtigung des tatsächlichen Bedarfs für Unterkunft ist jedoch nicht glaubhaft gemacht. Bedarfe für Unterkunft und Heizung werden in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind (§ 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II). Von einer Angemessenheit der Unterkunftskosten des ASt kann nicht ausgegangen werden.
Der Begriff der „Angemessenheit“ unterliegt als unbestimmter Rechtsbegriff der uneingeschränkten richterlichen Kontrolle. Zur Festlegung der abstrakt angemessenen Leistungen für die Unterkunft ist zunächst die angemessene Wohnungsgröße und der maßgebliche örtliche Vergleichsraum zu ermitteln. Angemessen ist eine Wohnung nur dann, wenn sie nach Ausstattung, Lage und Bausubstanz einfachen und grundlegenden Bedürfnissen entspricht und keinen gehobenen Wohnstandard aufweist, wobei es genügt, dass das Produkt aus Wohnfläche und Standard, das sich in der Wohnungsmiete niederschlägt, angemessen ist (BSG, Urteil vom 16.06.2015 – B 4 AS 44/14 R – SozR 4-4200 § 22 Nr. 85 mit Verweis auf BSG Urteil vom 7.11.2006 – B 7b AS 10/06 R – BSGE 97, 231; Urteil vom 17.12.2009 – B 4 AS 27/09 R – SozR 4-4200 § 22 Nr. 27 R; Urteil vom 10.09.2013 – B 4 AS 77/12 R – SozR 4-4200 § 22 Nr. 70; Urteil vom 18.11.2014 – B 4 AS 9/14 R – SozR 4-4200 § 22 Nr. 81). Ein entsprechendes Konzept zur Bestimmung der abstrakt angemessenen Miete hat der Ag nicht erstellt. Vielmehr hat er zur Ermittlung des angemessenen Unterkunftsbedarfs auf die Tabellenwerte des § 12 WoGG zzgl eines „Sicherheitszuschlags“ zurückgegriffen (vgl. dazu auch BSG, Urteil vom 16.06.2015 – B 4 AS 44/14 R – SozR 4-4200 § 22 Nr. 85). Wenngleich nicht ohne weiteres angenommen werden kann, dass sich ein Leistungsträger von vorneherein ohne ein Bemühen, ein schlüssiges Konzept zu erstellen, auf die Wohngeldtabelle und einen Sicherheitszuschlag zurückziehen kann, bieten die Werte jedenfalls im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes einen Anhaltspunkt für eine abstrakte Angemessenheitsgrenze. Demnach liegt die Kaltmiete des ASt zuzüglich der kalten Nebenkosten in Höhe von 456,70 € deutlich über dem Wert von 386,10 €, der sich aus der aktuellen Tabelle zu § 12 WoGG (ab 01.01.2016) bei einem Ein-Personen-Haushalt für die Mietstufe II – für die Stadt A-Stadt folgt aus der Anlage zu § 1 Abs. 3 WoGG eine solche Mietstufe – ergibt. Die konkrete Angemessenheitsgrenze im Falle des ASt ist auch nicht im Hinblick auf seine psychische Erkrankung oder die Möglichkeit des Eintritts der Pflegebedürftigkeit seiner Mutter zu erhöhen. So fehlt es bereits an einem Nachweis, dass ihm eine Untervermietung eines Zimmers nicht zumutbar ist. In diesem Fall wäre die Senkung der Unterkunftskosten auch ohne Umzug möglich. Die Möglichkeit, dass die Mutter des ASt gegebenenfalls irgendwann einmal pflegebedürftig wird, ist völlig abstrakt und rechtfertigt nicht die Übernahme von einer abstrakten Angemessenheitsgrenze abweichender Unterkunftskosten. Ein Nachweis, dass die psychische Erkrankung einem Umzug tatsächlich entgegensteht, ist ebenfalls nicht vorgelegt worden. Dass Wohnungen mit einer Kaltmiete von bis zu 386,10 € nicht im Bereich des Ag anzumieten sind, ist weder vorgebracht noch erkennbar.
Sofern die derzeit vom Ag übernommenen Unterkunftskosten einschließlich der Heizkosten unter dem Produkt der angemessenen Unterkunfts- und Heizkosten (unter Berücksichtigung der Werte der Wohngeldtabelle zuzüglich eines 10%igen Sicherheitszuschlages nebst Heizkosten) liegen – berücksichtigt wurden aktuell 443 € gegenüber angemessener Kosten von 466,10 € (386,10 € zzgl. 80 € Bedarf für Heizung) -, fehlt es jedenfalls an einem Anordnungsgrund für die Übernahme der Differenz von 23,10 €. Es ist nicht ersichtlich, dass es dem ASt nicht möglich und zumutbar sein soll diesen Betrag bis März 2016 aus seinem Regelbedarf vorläufig aufzuwenden. Der Ag hat insofern mit Schriftsatz vom 19.01.2016 erklärt, der Ausschuss für Soziales werde eine entsprechende Anpassung am 07.03.2016 beschließen.
Der Erlass einer einstweiligen Anordnung war somit abzulehnen, die Beschwerde folglich zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf der analogen Anwendung des § 193 SGG.
Der Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).


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