Sozialrecht

Anspruch auf Blindengeld

Aktenzeichen  L 15 BL 17/12

Datum:
5.7.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
BayBlindG BayBlindG Art. 1 Abs. 2 S. 1,  S. 2 Nr. 2
SGG SGG § 106

 

Leitsatz

Für den Anspruch auf Blindengeld ist allein entscheidend, ob es insgesamt an der Möglichkeit zur Sinneswahrnehmung „Sehen” (optische Reizaufnahme und deren weitere Verarbeitung im Bewusstsein des Menschen) fehlt, ob der behinderte Mensch blind ist. Die bestehende Unsicherheit hinsichtlich des Vorliegens einer spezifischen Sehstörung hindert die Annahme eines Blindengeldanspruchs also nicht.    (redaktioneller Leitsatz)
Eine fehlende oder nicht adäquate Reaktion auf optische Reize kann nur dann als Beleg für Blindheit gewertet werden, wenn bei erhaltener – teilweiser – Untersuchbarkeit eine zuverlässige reproduzierbare Kommunikation mit dem sehbehinderten Menschen möglich ist. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 28. November 2012 wird zurückgewiesen.
II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III.
Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die Berufung ist zulässig (Art. 7 Abs. 3 BayBlindG i. V. m. §§ 143, 151 SGG), jedoch nicht begründet. Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger blind im Sinne des BayBlindG ist und ihm deshalb ab dem Monat der Antragstellung Blindengeld zusteht. Dies hat das SG zu Recht verneint. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Blindengeld. Der streitgegenständliche Bescheid des Beklagten vom 24.06.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.09.2009 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Gemäß Art. 1 Abs. 1 BayBlindG in der hier maßgeblichen Fassung des Gesetzes zur Änderung des BayBlindG v. 24.07.2013 (GVBl. S. 464) erhalten blinde Menschen, soweit sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Bayern haben oder soweit die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl L 166 S. 1, ber. ABl L 200 S. 1, 2007 ABl L 204 S. 30) in der jeweils geltenden Fassung dies vorsieht, zum Ausgleich der blindheitsbedingten Mehraufwendungen auf Antrag ein monatliches Blindengeld. Dabei beinhaltet nach der Rechtsprechung des BSG, an die sich der Senat gebunden fühlt, die Formulierung „zum Ausgleich der blindheitsbedingten Mehraufwendungen“ keine eigenständige Anspruchsvoraussetzung, sondern umschreibt lediglich die allgemeine Zielsetzung der gesetzlichen Regelung (Urteil vom 26.10.2004, Az.: B 7 SF 2/03 R).
Blind ist, wem das Augenlicht vollständig fehlt (Art. 1 Abs. 2 Satz 1 BayBlindG). Als blind gelten gemäß Art. 1 Abs. 2 Satz 2 BayBlindG auch Personen, 1. deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50 beträgt, 2. bei denen durch Nr. 1 nicht erfasste Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad bestehen, dass sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr. 1 gleichzuachten sind.
Vorübergehende Sehstörungen sind nicht zu berücksichtigen. Als vorübergehend gilt ein Zeitraum bis zu sechs Monaten. Eine der Herabsetzung der Sehschärfe auf 1/50 (0,02) oder weniger gleichzusetzende Sehstörung im Sinn des Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BayBlindG liegt, den Richtlinien der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG) folgend, bei folgenden Fallgruppen vor (siehe Teil A Nr. 6 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze – VG, Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung):
aa) bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,033 (1/30) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfelds in keiner Richtung mehr als 30° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,
bb) bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,05 (1/20) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfeldes in keiner Richtung mehr als 15° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,
cc) bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,1 (1/10) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfelds in keiner Richtung mehr als 7,5° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,
dd) bei einer Einengung des Gesichtsfelds, auch bei normaler Sehschärfe, wenn die Grenze der Gesichtsfeldinsel in keiner Richtung mehr als 5° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,
ee) bei großen Skotomen im zentralen Gesichtsfeldbereich, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und im 50°-Gesichtsfeld unterhalb des horizontalen Meridians mehr als die Hälfte ausgefallen ist,
ff) bei homonymen Hemianopsien, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und das erhaltene Gesichtsfeld in der Horizontalen nicht mehr als 30° Durchmesser besitzt,
gg) bei bitemporalen oder binasalen Hemianopsien, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und kein Binokularsehen besteht.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Blindengeld. Zwar steht die Tatsache, dass bei ihm zerebrale Schäden vorliegen, der Annahme von Blindheit nicht grundsätzlich entgegen. Auch steht dem nicht im Wege, dass eine spezifische Störung des Sehvermögens im Hinblick auf andere Sinnesmodalitäten fraglich ist. Doch sind die vorstehend genannten Voraussetzungen des Art. 1 Abs. 2 BayBlindG nicht zur Überzeugung des Senats nachgewiesen.
1. Beim Kläger liegt nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme eine Einschränkung aller Sinnesfunktionen aufgrund zerebraler Beeinträchtigung vor. Nach der Rechtsprechung des BSG (Entscheidungen vom 31.01.1995, Az.: 1 RS 1/93, 26.10.2004, Az.: B 7 SF 2/03 R, 20.07.2005, Az.: B 9a BL 1/05 R, und 11.08.2015, Az.: B 9 BL 1/14 R) stehen auch zerebrale Schäden, die – für sich allein oder im Zusammenwirken mit Beeinträchtigungen des Sehorgans – zu einer Beeinträchtigung des Sehvermögens führen, der Annahme von Blindheit nicht grundsätzlich entgegen. Diese Festlegung wird in der Literatur begrüßt (vgl. Braun/Zihl, Der Blindheitsnachweis bei zerebralen Funktionsstörungen, in: MedSach 2015, S. 81, 82), wenngleich auch – zu Recht – auf sich hierdurch ergebende gravierende Schwierigkeiten in der Praxis bzgl. des Blindheitsnachweises aufmerksam gemacht wird (a. a. O.).
2. Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens besteht beim Kläger eine hochgradige Einschränkung aller Sinnesfunktionen (vgl. das o.g. Gutachten von Prof. Dr. G.). Unklar bleibt, ob und inwieweit das visuelle System stärker betroffen ist als die anderen Sinnesmodalitäten. Hierauf kommt es jedoch nicht (mehr) an. Soweit das BSG in seiner bisherigen Rechtsprechung für den Blindengeldanspruch verlangt hatte, dass bei zerebralen Schäden eine spezifische Störung des Sehvermögens vorliegt, hat es im Urteil vom 11.08.2015 (a. a. O.) hieran nicht mehr festgehalten. Zur Aufgabe dieser Rechtsprechung hat sich das BSG aufgrund von Erkenntnisschwierigkeiten sowie unter dem Aspekt der Gleichbehandlung veranlasst gesehen (vgl. näher a. a. O.). Ebenfalls aufgegeben in der genannten Entscheidung hat das BSG die in der früheren Rechtsprechung getroffene Unterscheidung zwischen dem „Erkennen“ und dem „Benennen“ als so verstandene Teilaspekte bzw. Teilphasen des Sehvorgangs, da die Differenzierung gerade bei zerebral geschädigten Menschen vielfach medizinisch kaum nachvollzogen, d. h. die Ursache der Beeinträchtigung des Sehvermögens nicht genau bestimmt werden kann. Nach der Rechtsprechung des BSG ist für den Anspruch auf Blindengeld vielmehr allein entscheidend, ob es insgesamt an der Möglichkeit zur Sinneswahrnehmung „Sehen (optische Reizaufnahme und deren weitere Verarbeitung im Bewusstsein des Menschen) fehlt, ob der behinderte Mensch blind ist“.
Der Senat fühlt sich an diese (neue) Rechtsprechung des BSG gebunden.
Die bestehende Unsicherheit hinsichtlich des Vorliegens einer spezifischen Sehstörung hindert vorliegend die Annahme eines Blindengeldanspruchs also nicht.
3. Beim Kläger ist Blindheit jedoch nicht nachgewiesen.
Es liegt weder Lichtlosigkeit gemäß Art. 1 Abs. 2 Satz 1 BayBlindG vor noch sind die Voraussetzungen des Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nrn. 1 und 2 BayBlindG erfüllt. Es ist nicht zur Gewissheit des Senats dargelegt, dass der Kläger das Augenlicht vollständig verloren hätte oder dass die Sehschärfe des Klägers entsprechend der gesetzlichen Vorgabe auf 1/50 (0,02) oder weniger herabgesunken wäre (Nr. 1 der genannten Vorschrift). Gleiches gilt für eine der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr. 1 gleichzuachtende Sehstörung (Nr. 2).
Wie der Senat wiederholt (vgl. z. B. Urteil vom 20.01.2015, Az.: L 15 BL 16/12) unterstrichen hat, sind nach den Grundsätzen im sozialgerichtlichen Verfahren die einen Anspruch begründenden Tatsachen grundsätzlich im Vollbeweis, d. h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachzuweisen (vgl. BSG, Urteil vom 15.12.1999, Az.: B 9 VS 2/98 R). Für diesen Beweisgrad ist es zwar nicht notwendig, dass die erforderlichen Tatsachen mit absoluter Gewissheit feststehen. Ausreichend, aber auch erforderlich ist indessen ein so hoher Grad der Wahrscheinlichkeit, dass bei Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch mehr am Vorliegen der Tatsachen zweifelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000, Az.: B 9 VG 3/99 R), d. h. dass die Wahrscheinlichkeit an Sicherheit grenzt (vgl. BSG, Urteil vom 05.05.1993, Az.: 9/9a RV 1/92).
Wie der Beklagte zutreffend annimmt, hat sich durch die neue Rechtsprechung des BSG (a. a. O.) an der Erforderlichkeit der Prüfung, ob die visuellen Fähigkeiten des Betroffenen (nun: optische Reizaufnahme und Verarbeitung etc.) unterhalb der vom BayBlindG vorgegebenen Blindheitsschwelle liegen, nichts geändert. Nach der Rechtsprechung des Senats kam es schon bisher in den Fällen umfangreicher zerebraler Schäden auf das Erfordernis einer spezifischen Störung des Sehvermögens nicht (mehr) an, wenn bereits Zweifel am Vorliegen von Blindheit bestanden (Urteil vom 27.11.2013, Az.: L 15 BL 4/11). Der Blindheitsnachweis muss somit auch weiterhin erbracht werden (vgl. Braun, Neue Regeln für den Blindheitsnachweis bei zerebralen Funktionsstörungen, in: MedSach 2016, S. 134, 135: keine allgemeine „Entwarnung“).
a) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze kann der Kläger den Nachweis nicht führen, dass sein Sehvermögen unterhalb der gesetzlichen Blindheitsschwelle liegt. Dies ergibt sich bereits ohne Weiteres aus dem – mit Ausnahme der vom Sachverständigen getroffenen „persönlichen Einschätzung“ plausiblen – Gutachten vom Prof. Dr. G. vom 11.07.2012. Der Senat macht sich die getroffenen sachverständigen Feststellungen (mit der genannten Ausnahme) zu eigen. Entsprechend den nachvollziehbaren Darlegungen von Prof. Dr. G. hat der Kläger das Augenlicht nicht vollständig verloren, was sich bereits aus Untersuchungen mit dem Bonnoskop ergeben hat. Nach den plausiblen Darlegungen des Sachverständigen kann nicht zweifelsfrei geklärt werden, ob die Beeinträchtigungen des Klägers so groß sind, dass sie selektiv das Sehvermögen so weit herabsetzen, dass dieses einem Visus von 1/50 oder weniger entspricht. Wie Prof. Dr. G. im Einzelnen dargelegt hat, ist die Angabe einer Sehschärfe des Klägers – auch eines Näherungswertes – und somit eine Einschätzung des Sehvermögens nicht sicher möglich. Die eingeschränkte Pupillenmotorik des Klägers legt eine hochgradige Sehbeeinträchtigung nahe; allerdings ist entsprechend den Feststellungen des Gutachters der Sehnerv auf beiden Augen vital und zeigt keinerlei Zeichen einer Atrophie. Eine direkte Läsion des Sehnervs oder eine solche der hinteren Sehbahn als alleinige Ursache für eine Visusherabsetzung ist sehr unwahrscheinlich, weil eine Läsion dort, wie Prof. Dr. G. plausibel dargestellt hat, durch eine sogenannte transsynaptische Degeneration zu einer Aufhellung des Sehnervs führen würde, die beim Kläger aber nicht zu erkennen ist. Wegen der aufgehobenen bzw. stark beeinträchtigten Kooperationsbereitschaft des Klägers ist eine Klärung des Sehvermögens durch den Einsatz von Messverfahren nicht möglich. Somit beruht die Einschätzung des Sehvermögens ausschließlich auf Reaktionen des Klägers auf angegebene Optotypen oder Lichtreize. Dies ist jedoch nicht ausreichend, um mit Sicherheit sagen zu können, ob das Sehvermögen 1/50 oder weniger oder vielleicht auch ein 1/20 oder weniger beträgt, wie der Sachverständige ausdrücklich klargestellt hat. Somit kann der Blindheitsnachweis nicht geführt werden, da eine Quantifizierung und Qualifizierung des Sehvermögens an den allgemeinen Beeinträchtigungen des Klägers und auch an den weiteren vorliegenden medizinischen Besonderheiten scheitert.
Hinzu kommt, dass, wie aufgrund des Gesamtergebnisses der Beweisaufnahme feststeht, kein objektiver Strukturbefund gegeben ist, der die massive Sehstörung bzw. eine mögliche Blindheit des Klägers erklären könnte. Wie der Beklagte zudem zutreffend darauf hingewiesen hat, gilt Entsprechendes auch für eine plausible Grunderkrankung, die zu einer Aufhebung des Sehvermögens führen würde.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den vom Kläger gezeigten Sehleistungen. Der Klägerseite ist durchaus zuzugestehen, dass vorliegend lediglich Untersuchungsergebnisse gegeben sind, die im Wesentlichen nur basale Reaktionen im Bereich des Sehens beschreiben. Der Rückschluss der Klägerseite hieraus, der Kläger könne auch nur noch diese basalen Reaktionen zeigen, weil er zu weiteren visuellen Leistungen nicht (mehr) in der Lage sei, ist jedoch unzulässig. Denn, worauf auch der Beklagte zu Recht hingewiesen hat, „eine fehlende oder nicht adäquate Reaktion auf optische Reize“ kann „nur dann als Beleg für Blindheit gewertet werden, wenn bei erhaltener – teilweiser – Untersuchbarkeit eine zuverlässige reproduzierbare Kommunikation mit dem sehbehinderten Menschen möglich ist“ (vgl. Braun, a. a. O., S. 134). Für den Senat bleibt letztlich nicht aufklärbar, auf welchen Ursachen die sehr eingeschränkten Reaktionen im Bereich des Sehens beruhen; auf den fehlenden morphologischen Befund ist bereits hingewiesen worden.
Der Blindheitsnachweis ist im Übrigen auch keineswegs durch die abschließende Äußerung des Sachverständigen in seinem Gutachten geführt, er persönlich gewichte die Sehstörung des Klägers als so komplex und ausgeprägt, dass er sie mit einer faktischen Erblindung vergleichen würde. Diese „persönliche Einschätzung“, die bereits per se unzulässig ist, beruht nämlich auf der falschen, ausdrücklich geäußerten Annahme, die Frage nach einer Erblindung sei eine „reine Ermessensfrage“. Auch wenn dies sicherlich nicht im juristischen Sinn gemeint gewesen sein dürfte, so geht sie doch von der falschen Grundannahme aus, dass das Herabsinken des Sehvermögens unter die gesetzlich normierte Blindheitsschwelle des Art. 1 Abs. 2 BayBlindG auch anhand sonstiger, nicht genau definierter Kriterien bestimmt bzw. angenommen werden könne. Dies ist unzutreffend.
Zwar hat der Senat in seinem Urteil vom 31.01.2013 (Az.: L 15 BL 6/07) im Einzelnen dargelegt, dass in besonderen Ausnahmefällen spezieller Krankheitsbilder die Annahme von Blindheit auch außerhalb der normierten Fallgruppen der VG (bzw. der Richtlinien der DOG) nicht von vornherein ausgeschlossen ist. Damit bedarf es in speziellen, seltenen Ausnahmefällen durchaus einer gewissen Wertung des medizinischen Sachverständigen, ob trotz der noch besseren Sehschärfe- und Gesichtsfeldwerte wegen zusätzlicher Einschränkungen der Sehleistung – also wegen der (nahezu) zwingenden Vergleichbarkeit des gemäß den gesetzlichen Vorgaben weitgehend eingeschränkten Visus/Gesichtsfelds einerseits mit der Situation von geringeren Einschränkungen (die jedoch immer noch erheblich sind) zuzüglich weiterer massiver Einschränkungen andererseits – der Fall des Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Ziff. 2 BayBlindG gegeben ist.
Ein solcher Fall liegt hier aber gerade nicht vor. Denn die Voraussetzungen für die Annahme von Blindheit ausnahmsweise außerhalb der normierten Fallgruppen der VG bzw. DOG sind vorliegend nicht gegeben. Sie bestehen nämlich vor allem darin, dass die (Nicht-)Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen des Art. 1 Abs. 2 Satz 1 und 2 BayBlindG geklärt ist, dass also feststeht, ob das Sehvermögen unter die normierten Werte herabgesunken ist bzw. welche Werte im Einzelnen erreicht werden. So liegt es vorliegend jedoch gerade nicht, da, wie oben im Näheren dargelegt, nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, welches Sehvermögen der Kläger überhaupt hat. Es genügt jedoch nicht, dass nur feststeht, dass der Kläger ein sehr schlechtes Sehvermögen hat. Dies würde den vom bayerischen Gesetzgeber gemachten und von den VG bzw. den sachverständigen Festlegungen der DOG konkretisierten Vorgaben (s.o.) widersprechen. Der Gesetzgeber hat gerade keine hochgradige Sehbehinderung mit Werten unterhalb der hier maßgeblichen Grenze ausreichen lassen (kein Blindengeld für „beinahe blinde Menschen“). Die Wertung des Sachverständigen betrifft vorliegend also gar nicht die zusätzliche Berücksichtigung spezieller, weiterer Sehbeeinträchtigungen, sondern die Visus- und Gesichtsfeldwerte selbst. Dies ist nach der o.g. Rechtsprechung des Senats aber nicht zulässig.
Im Übrigen widerspricht die persönliche Gewichtung von Prof. Dr. G. – unabhängig von den eben aufgezeigten Aspekten bezüglich der Senatsrechtsprechung vom 31.01.2013 (a. a. O.) – seiner eigenen unmissverständlichen Feststellung, dass das Ausmaß der Sehbeeinträchtigung des Klägers eben nicht genau festgestellt werden kann.
b. Auch eine visuelle Verarbeitungsstörung ist nicht zur Überzeugung des Senats nachgewiesen. Im Hinblick auf die Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 11.08.2015, a. a. O.) ist jedenfalls in den Fällen zerebraler Schäden ferner auch zu prüfen, ob die Fähigkeit zur „Verarbeitung im Bewusstsein“ des sehbehinderten Menschen beeinträchtigt bzw. aufgehoben ist. Ein solcher Nachweis kann vorliegend ebenfalls nicht geführt werden. Auch insoweit fehlt das morphologische Korrelat. Zudem ergibt auch das klinische Bild des Klägers vorliegend keine Belege und vor allem keinen sicheren Nachweis dafür, dass das Vermögen des nicht bewusstlosen Klägers, visuelle Reize zu verarbeiten, aufgehoben wäre. Insbesondere kann nicht sicher geklärt werden, weshalb der Kläger nur auf Lichtreize (schwach) reagiert. Neben einer visuellen Verarbeitungsstörung können auch sonstige Ursachen hierfür maßgeblich sein. Für den Senat liegen insoweit eine mangelnde Kooperationsbereitschaft (Motivationsstörung), worauf der Sachverständige hingewiesen hat, bzw. Defizite in den kognitiven Bereichen der Aufmerksamkeit (Wachsamkeit und Konzentration) und Gedächtnis als Ursachen sehr nahe (vgl. Braun/Zihl, a. a. O.).
Somit sind keine sicheren Anhaltspunkte für eine Verarbeitungsstörung gegeben, was im Hinblick auf die (weitgehend) unklare Grundproblematik der schweren Gesundheitsstörungen des Klägers nicht überrascht.
Aus Sicht des Senats ist es zwar nicht auszuschließen, dass der Kläger die Blindheitsschwelle des Art. 1 Abs. 2 BayBlindG unterschritten hat. Dafür fehlt es aber jedenfalls am notwendigen Beweis. Kann das Gericht bestimmte Tatsachen trotz Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten nicht feststellen (non liquet), so gilt – wie oben bereits erwähnt – der Grundsatz, dass jeder die Beweislast für die Tatsachen trägt, die den von ihm geltend gemachten Anspruch begründen (vgl. z. B. Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/ders., SGG, 11. Aufl., § 103, Rdnr. 19a, mit Nachweisen der höchstrichterlichen Rspr.). Der Kläger muss daher nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast die Folgen tragen, dass eine (große) Ungewissheit bezüglich der für ihn – rechtlich, d. h. für den geltend gemachten Anspruch – günstigen Tatsachen verblieben ist. Denn für das Vorliegen der Voraussetzungen der Blindheit gemäß Art. 1 Abs. 2 BayBlindG trägt der sehbehinderte Mensch die objektive Beweislast. Beweiserleichterungen gelten vorliegend nicht (vgl. Urteil des BSG vom 11.08.2015, a. a. O.; ständige Rechtsprechung des Senats; vgl. auch Braun, a. a. O.).
Der Senat hat alle Ermittlungsmöglichkeiten ausgeschöpft. Gesichtspunkte, die zu weiteren Ermittlungen hätten veranlassen müssen, sind nicht erkennbar. Auch die Klägerseite hat die Auffassung vertreten, dass offenkundig keine weiteren Aufklärungsmöglichkeiten bestehen (Schriftsatz vom 20.07.2012).
Diesem vorliegend gefundenen Ergebnis steht auch nicht die frühere Rechtsprechung des Senats (Urteil vom 27.11.1997, Az.: L 15 BL 10/96) entgegen. Damals hat der Senat einem Kleinkind, bei dem naturgemäß eine genaue Untersuchung nicht möglich war und das später eine Sehschärfe von 0,3 erreicht hat, Blindengeld zugesprochen. Er hat in der Begründung ausgeführt, dass die fehlenden Möglichkeiten apparativer Untersuchung einen gerichtlichen Sachverständigen nicht daran hindern können, seine ärztliche Erfahrung in die Beurteilung einzubringen und in Verbindung mit den vorliegenden Befunden daraus zu schließen, dass die Anspruchsvoraussetzungen für einen gewissen Zeitraum gegeben sind. Daraus ist abgeleitet worden, dass die Funktionsbestimmung gerade im Kindes- und Kleinkindalter unsicher sein könne und dass am besten entsprechende Nachuntersuchungen erfolgen sollten (z. B. Rohrschneider, Augenärztliche Begutachtung im sozialen Entschädigungs- und Schwerbehindertenrecht und bei Blindheit, in: MedSach, 1/2012, S. 9). Bereits hieraus wird aber deutlich, dass die Sachlagen nicht vergleichbar sind. Zwar ist auch vorliegend eine genauere Untersuchung nicht möglich. Der Senat hat jedoch in der damaligen Entscheidung auf eine rückschauende Beurteilung und die später gewonnenen Erkenntnisse, d. h. die später erhobenen genaueren Befunde abgestellt. Solche liegen im streitgegenständlichen Fall aber gerade nicht vor.
Die Berufung ist daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.


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