Sozialrecht

Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung

Aktenzeichen  L 19 R 66/15

Datum:
15.11.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 136585
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VI § 43

 

Leitsatz

Zu den Voraussetzungen einer Rente wegen Erwerbsminderung.

Verfahrensgang

S 4 R 375/14 2014-12-18 GeB SGWUERZBURG SG Würzburg

Tenor

I. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Würzburg vom 18.12.2014 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG) ist zulässig, aber nicht begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.
Gemäß § 43 Abs. 2 Satz 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie 1. voll erwerbsgemindert sind, 2. in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Tätigkeit oder Beschäftigung haben und 3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen, die in gleicher Weise für eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung gelten, hat die Klägerin bei Rentenantragstellung erfüllt gehabt. Sie kann aus ihren Beschäftigungen und mit Kindererziehungszeiten die erforderliche Mindestanzahl an Pflichtbeitragszeiten, die sog. allgemeine Wartezeit von 5 Jahren d.h. 60 Beitragsmonaten nach § 50 Abs. 1 SGB VI, vorweisen bzw. überschreiten. Dies ist allerdings erst ab September 2000 der Fall gewesen, d.h. dass für den von der Klägerin auch vorgebrachten Zeitpunkt der gesundheitlichen Einschränkungen ab 1998 diese Voraussetzung nicht erfüllt gewesen wäre. Soweit die Klägerin an anderer Stelle davon spricht, dass sie bereits als Jugendliche entsprechende Einschränkungen gehabt hätte, wären diese in das Erwerbsleben mit eingebracht und würden von vornherein keine Rente wegen Erwerbsminderung zulassen, da die Voraussetzungen des § 43 Abs. 6 SGB VI offensichtlich nicht erfüllt sind.
In dem nach § 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB VI zu prüfenden Fünfjahreszeitraum, der bei einem mit der Rentenantragstellung angenommenen Leistungsfall von November 2008 bis November 2013 laufen würde, hat die Klägerin zwar nur 26 Kalendermonate Pflichtbeitragszeiten zurückgelegt. Der Zeitraum verlängert sich nach § 43 Abs. 4 Nr. 6 SGB VI jedoch um Anrechnungszeiten wegen Bezugs von SGB II-Leistungen um 35 Monate, so dass im verlängerten Zeitraum 61 Monate Pflichtbeitragszeiten vorliegen und die erforderliche Zahl an Beitragsmonaten damit überschritten ist.
Allerdings bezieht die Klägerin aktuell nach ihren Angaben keine Leistungen nach dem SGB II mehr und hat solche auch im Zeitraum von Januar 2014 bis Februar 2015 nicht bezogen. In dieser Zeit ist sie auch nicht arbeitsuchend ohne Leistungsbezug gemeldet gewesen und es hat auch sonst keine Anrechnungszeit vorgelegen. Zwar sind die erneuten Zeiten des Bezuges von SGB II-Leistungen nach § 58 Abs. 1 Nr. 6 SGB VI unabhängig von einer vorherigen Unterbrechung wieder Anrechnungszeiten. Im Anschluss daran sind aber erneut Zeiten vorhanden, die weder Anrechnungszeiten sind, noch nach § 43 Abs. 4 SGB VI berücksichtigt werden können. Für eventuelle medizinische Leistungsfälle, die nach Juli 2017 eingetreten wären, wären von der Klägerin somit bereits die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht mehr erfüllt.
Voll erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Ergänzend führt § 43 Abs. 3 SGB VI aus, dass nicht erwerbsgemindert ist, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig sein kann, wobei die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen ist.
Eine derartige zeitliche Einschränkung des Leistungsvermögens aufgrund von dauerhaften Gesundheitsstörungen ist bei der Klägerin nicht nachgewiesen. Dies ergibt sich für den Senat aus den übereinstimmenden Äußerungen sämtlicher Gutachter. Danach sind bei der Klägerin rein somatische Erkrankungen von absolut untergeordneter Bedeutung. Die psychisch bedingten Schmerzen und die psychisch bedingte Ermüdung lassen sich zwar eindeutig feststellen. Sie liegen auch bereits seit langem vor und sind chronifiziert. In ihrem Schweregrad führen sie aber weder allein noch in Kombination dazu, dass eine zeitliche Einschränkung des Einsatzvermögens der Klägerin an geeigneten Arbeitsplätzen des allgemeinen Arbeitsmarktes vorliegen würde.
Für den Senat ergibt sich für die Klägerin auf Grund der gutachterlichen Feststellungen seit der Rentenantragstellung bis heute folgendes unverändertes Leistungsbild: Die Klägerin kann auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bei Beachtung der entsprechenden Arbeitsbedingungen täglich 6 Stunden oder mehr leichte körperliche Arbeit im Sitzen oder im Wechselrhythmus mit zeitweise bis zu mittelschweren Belastungsanteilen verrichten. Ausgeschlossen sind besondere Schichtformen, besondere Stressbelastung, ungünstige äußere Arbeitsbedingungen, besondere Unfallgefährdung sowie wegen der Schmerzneigung generell auch besondere Belastungen des Bewegungs- und Stützsystems.
Im aktuellen Gutachten des Dr. C. wird näher beschrieben, dass rezidivierende depressive Störungen affektive Erkrankungen sind, die von episodenhaften depressiven Verstimmungen durchaus unterschiedlichen Schweregrades bestimmt sind und in Remissionsphasen bzw. kompensiert durch eine geeignete Behandlung erscheinungsfrei sind. Bei der Klägerin hätten sich solche in Bezug auf das Vorliegen einer Depression unauffälligen Befunde bei seiner eigenen Untersuchung und bei der Untersuchung durch Dr. B. gefunden. Episoden der depressiven Verstimmung würden vorübergehende Phasen der Arbeitsunfähigkeit und noch keine dauerhafte Erwerbsminderung darstellen. Eine dauerhafte zeitliche Einschränkung hat sich aber – unabhängig davon, ob entsprechend der Annahme des Sachverständigen Besserungsaussichten bestehen oder nicht – bisher nicht nachweisen lassen. Die Ausführungen der Dr. A. und der Dr. H. stützen sich zentral auf Angaben der Klägerin, ohne dass ein Objektivieren der Befunde gelungen wäre. Dr. C. legt zwar weiter dar, dass die Verknüpfung von somatoformer Schmerzstörung und chronischem Müdigkeitssyndrom bei der Klägerin sich darin zeige, dass sie auf Stress mit depressiven Verstimmungen, organmedizinisch nicht begründbaren Schmerzen und in letzter Zeit mit Müdigkeit reagiere. Im Extremfall könne dies zwar zu einem aufgehobenen Anpassungs- und Umstellungsvermögen führen. Ein solcher Schweregrad sei aber weder in der eigenen Untersuchung, noch in den testpsychologischen Erhebungen ersichtlich gewesen. Die medizinischen Voraussetzungen einer vollen Erwerbsminderung sind nicht nachgewiesen.
Zusätzlich kommt hinzu, dass die Sachverständigen noch ein Behandlungspotential erkennen. Sie räumen zwar ein, dass die Therapie durch das verfestigte Krankheitsverständnis der Klägerin, in dem psychische Ursachen keinen Raum haben, erschwert ist. Ein der Behandlung nicht mehr zugänglicher Endzustand wird aber noch nicht gesehen. Für die Frage einer Rentengewährung ist allgemein zu beachten, dass nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts psychische Erkrankungen erst dann rentenrechtlich relevant werden, wenn trotz adäquater Behandlung (medikamentös, therapeutisch, ambulant und stationär) davon auszugehen ist, dass ein Versicherter die psychischen Einschränkungen dauerhaft nicht überwinden kann – weder aus eigener Kraft, noch mit ärztlicher oder therapeutischer Hilfe (BSG Urteil vom 12.09.1990 – 5 RJ 88/89; BSG Urteil vom 29.02.2006 – B 13 RJ 31/05 R – jeweils zitiert nach juris; BayLSG Urteil vom 21.03.2012 – L 19 R 35/08). Trotz erfolgter ambulanter Psychotherapieansätze ist es aus Sicht des Senates zumindest höchst fraglich, ob man von einer Ausschöpfung der Behandlungsoptionen auf psychischem Gebiet ausgehen kann. Die Gutachter sehen eine leitliniengerechte Behandlung hier noch nicht durchgeführt. Soweit die behandelnden Ärzte die Prognosen für einen Behandlungserfolg negativer einschätzen, vermag dies mangels vertiefter Begründung nicht zu überzeugen. Für die Frage des Rentenanspruchs kann dies aber dahingestellt bleiben, da bereits das aktuelle Leistungsbild einer zeitlichen Einschränkung des Leistungsvermögens der Klägerin an geeigneten Arbeitsplätzen des allgemeinen Arbeitsmarktes entgegensteht.
Auch wenn in bestimmten Ausnahmefällen eine Rentengewährung wegen voller Erwerbsminderung auch dann erfolgen kann, wenn die in § 43 Abs. 2 SGB VI geforderte quantitative Einschränkung nicht besteht, führt dies bei der Klägerin nicht zur Rentengewährung, da kein derartiger Ausnahmefall vorliegt. Die Voraussetzungen für einen von der Rechtsprechung des BSG entwickelten sog. Katalogfall sind nicht erfüllt. Für die Prüfung ist nach dem BSG (Urt. v. 09.05.2012, B 5 R 68/11 R – zitiert nach juris) mehrschrittig vorzugehen. Zunächst ist festzustellen, ob mit dem Restleistungsvermögen Verrichtungen erfolgen können, die bei ungelernten Tätigkeiten üblicherweise gefordert werden, wie Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Maschinenbedienung, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen. Wenn sich solche abstrakten Handlungsfelder nicht oder nur unzureichend beschreiben lassen und ernste Zweifel an der tatsächlichen Einsatzfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter dessen üblichen Bedingungen kommen, stellt sich im zweiten Schritt die Frage nach der besonderen spezifischen Leistungsbehinderung oder der Summierung ungewöhnlicher Einschränkungen und, falls eine solche Kategorie als vorliegend angesehen wird, wäre im dritten Schritt von der Beklagten eine Verweisungstätigkeit konkret zu benennen und die Einsatzfähigkeit dann hinsichtlich dieser Tätigkeit abzuklären (vgl. Gürtner in: Kasseler Kommentar, Stand August 2012, § 43 SGB VI Rn 37 mwN).
Für den Senat ergeben sich bereits keine ernsthaften Zweifel an der Einsatzfähigkeit der Klägerin auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, da fast alle Arbeitsfelder als grundsätzlich geeignet anzuführen wären. Zwar kommen zu den Einschränkungen der psychischen Leistungskapazität noch Beschränkungen einiger körperlicher Funktionen hinzu. Aber selbst wenn man zur Annahme von ernstlichen Zweifeln gelangen würde, so stellen jedenfalls die bei der Klägerin vorliegenden Gesundheitsstörungen sich nicht als schwere spezifische Behinderung wie etwa eine – ggf. funktionale – Einarmigkeit und auch nicht als Summierung von ungewöhnlichen Einschränkungen dar. Eine solche Summierung würde voraussetzen, dass zu den Einschränkungen der Belastbarkeit, wie sie üblicherweise bei physisch und teilweise psychisch geschwächten Erwerbsfähigen zu beobachten sind, besondere weiter reichende Einschränkungen hinzutreten. Die bei der Klägerin festgestellten Einschränkungen waren dagegen gerade nicht so weitgehend, insbesondere sind die Einschränkungen der Sinneswahrnehmung moderat gewesen. Der ärztliche Sachverständige Dr. C. geht ausführlich darauf ein, dass die Erkrankung der Klägerin nicht den erforderlichen Schweregrad aufweist, um das Anpassungs- und Umstellungsvermögen im Sinne einer schweren spezifischen Behinderung aufzuheben.
Bei der Klägerin ist zur Überzeugung des Senats auch das Vorliegen der hilfsweise geltend gemachten teilweisen Erwerbsminderung nicht nachgewiesen. Die medizinischen Anspruchsvoraussetzungen für eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 1 SGB VI erfordern, dass ein Versicherter nicht mindestens 6 Stunden täglich einsatzfähig ist. Ein solches Leistungsbild wird für den genannten Zeitraum ebenfalls von keinem der Gutachter als vorliegend angenommen. Das Vorliegen einer quantitativen Einschränkung des Einsatzvermögens ist wie bereits beschrieben bei der Klägerin nicht nachgewiesen.
Eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit nach § 240 SGB VI ist nicht geltend gemacht worden. Die Klägerin hätte auch keinen Anspruch darauf, da sie auf Grund ihres Geburtsjahrganges nicht zu dem von dieser Vorschrift grundsätzlich erfassten Personenkreis gehört.
Nach alledem war die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Würzburg vom 18.12.2014 als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.


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