Sozialrecht

Anspruch auf Neufsstellung des Grads der Behinderung

Aktenzeichen  S 11 SB 64/16

Datum:
15.3.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 157699
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB IX § 69 Abs. 1 S. 1, Abs. 4
SGB X § 48 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

1. I. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 30.07.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.01.2016 verurteilt, bei dem Kläger ab dem 10.11.2015 einen Grad der Behinderung von 70 und ab dem 19.05.2016 einen Grad der Behinderung von 80 festzustellen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. (Rn. 15)
2. II. Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu 75 Prozent zu erstatten. (Rn. 28)

Tenor

I. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 30.07.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.01.2016 verurteilt, bei dem Kläger ab dem 10.11.2015 einen Grad der Behinderung von 70 und ab dem 19.05.2016 einen Grad der Behinderung von 80 festzustellen.

Gründe

Die zum sachlich (§ 51 SGG) und örtlich (§ 57 SGG) zuständigen Sozialgericht Würzburg erhobene Klage ist hinsichtlich des Antrages zu 2. unzulässig, im Übrigen zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.
Das Gericht konnte gem. § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten wurden angehört.
1. Die Klage ist hinsichtlich des Antrages zu 2. unzulässig.
Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 07.09.2016 vorgetragen, dass er ausdrücklich die Feststellung begehrt, dass die Schwerhörigkeit des Klägers bereits im Jahre 1999 bestanden hat und sich ab dem gewalttätigen Übergriff des Schülers vom 08.03.2001 auf einen Einzel-GdB von 30 verschlimmert hat. Damit begehrt der Kläger die Feststellung eines Einzel-GdB, sowie dessen Verschlimmerung. Hierfür fehlt das notwendige Feststellungsinteresse gem. § 55 SGG. Festgestellt wird nach § 69 Abs. 1 SGB IX der Grad des (Gesamt -) GdB, nicht jedoch der jeweilige Einzel-GdB. Sowohl die Bezeichnung der Funktionsstörungen als auch der Einzel-GdB dienen lediglich der Begründung des Feststellungsbescheides und können nicht einzeln Gegenstand eines Klageverfahrens sein (vgl. Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 27.05.2010, L 15 SB 3/10, juris m.w.N.).
2. Die Klage ist hinsichtlich des Antrages zu 1. zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.
a) Die Klage ist insoweit zulässig. Streitgegenstand ist ein Anspruch des Klägers auf Feststellung eines GdB von mindestens 70 ab Antragstellung über den der Beklagte mit Bescheid vom 30.07.2015 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 13.01.2016 entschieden hat.
b) Der Antrag zu 1. ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Der Bescheid vom 14.10.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.01.2015 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat einen Anspruch auf Feststellung eines Gesamt-GdB von 70 ab dem 10.11.2015 bis zum 18.05.2016 und von 80 ab dem 19.05.2016.
aa) Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Sind neben dem Vorliegen der Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen, treffen sie gemäß § 69 Abs. 4 SGB IX die erforderlichen Feststellungen im Verfahren nach § 69 Abs. 1 SGB IX. Die materiell-rechtlichen Maßstäbe dafür ergeben sich aus den zum 01.01.2009 in Kraft getretenen Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VG), die als Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10.12.2008 (BGBl I S. 2412) Rechtsnormcharakter haben. Sie haben die bis dahin der Rechtsanwendung zugrunde liegenden Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP) ersetzt (Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 20.05.2014, L 15 SB 166/12, juris).
Da der Beklagte bereits mit bestandskräftigem Bescheid vom 22.01.2003 eine Entscheidung über den GdB des Klägers getroffen hat, ist § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X die Rechtsgrundlage des Anspruchs des Klägers auf Neufeststellung. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Eine wesentliche Änderung ist dann anzunehmen, wenn sich durch eine Verschlechterung (oder Besserung) der Verhältnisse, die der festgestellten Behinderung zugrunde liegen, eine Erhöhung (oder Herabsetzung) des GdB um wenigstens 10 ergibt (Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 02.07.2013, L 15 SB 119/10, juris; Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 13.07.2015, L 15 SB 16/14, juris). Der bestandskräftige Feststellungsbescheid des Beklagten vom 22.01.2003, ist ein solcher Verwaltungsakt mit Dauerwirkung im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. bb) Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht es zur Überzeugung des Gerichts fest, dass im Gesundheitszustand des Klägers im Vergleich zu den gesundheitlichen Verhältnissen, wie sie dem bestandskräftigen Bescheid vom 22.01.2003 zugrunde gelegen haben, zwei Mal eine wesentliche Änderung im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X eingetreten ist, die einen GdB von 70 ab dem 10.11.2015 bis zum 18.05.2016 und von 80 ab dem 19.05.2016 begründen.
(1) Der Gesamt-GdB des Klägers ist für den Zeitraum ab dem 10.11.2015 bis zum 18.05.2016 mit 70 zu bewerten. Diese Einschätzung stützt das Gericht auf das Ergebnis der Beweisaufnahme, insbesondere auf das überzeugende und nachvollziehbar begründete Gutachten der ärztlichen Sachverständigen Dr. med. C. unter Berücksichtigung der ärztlichen Stellungnahme des Beklagten vom 22.06.2016, sowie der vorliegenden ärztlichen Unterlagen. Der Kläger leidet nach Auffassung des Gerichts im Zeitraum ab dem 10.11.2015 bis zum 18.05.2016 an den folgenden Gesundheitsstörungen:
1. Seelische Störung (Einzel-GdB: 70)
2. Funktionsbehinderung von rechtem Arm und rechter Hand durch Nervenschaden (Einzel-GdB: 20)
Insbesondere ist das Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ mit einem Einzel-GdB von 70 zu bewerten.
Gemäß Teil B Ziffer 3.7 (Neurosen, Persönlichkeitsstörungen, Folgen psychischer Traumen) sind schwere Störungen (z.B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten mit einem Einzel-GdB zwischen 50 und 70 zu bemessen. Die Kammer geht nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme davon aus, dass der GdB des Klägers im Bereich des Funktionssystems „Gehirn einschließlich Psyche“ grundsätzlich durch diesen Rahmen vorgegeben ist. Auf das Ergebnis würde es keinen Einfluss haben, wenn die seelische Störung des Klägers nach Teil B Ziffer 3.6 (Schizophrene und affektive Psychosen) zu bewerten wäre. Denn in beiden Fällen ist für die Einschätzung des GdB im Wesentlichen das Maß der sozialen Anpassungsschwierigkeiten entscheidend. Daher kommt es auch nicht primär darauf an, mit welcher Diagnose nach der ICD-10-Klassifikation die seelische Erkrankung des Klägers zu klassifizieren ist.
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme liegt bei dem Kläger eine schwere seelische Störung mit erheblicher Wesensänderung und mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten vor, die mit einem Einzel-GdB von 70 zu bewerten ist. Insoweit folgt das Gericht dem überzeugenden Gutachten der ärztlichen Sachverständigen Dr. med. C.. Mit der notwendigen Sicherheit kann die diesen Einzel-GdB begründende Verschlechterung jedoch erst für den Zeitraum ab dem 10.11.2015 feststellen werden. An diesem Tag hat Dr. med. K. die seelische Störung als so schwerwiegend eingeschätzt, dass er eine stationäre psychiatrische Behandlung empfohlen hat. Für den Zeitraum davor ist insbesondere die Notwendigkeit einer antidepressiven Medikation und einer engmaschigen Therapie nicht in ausreichendem Maße dokumentiert. Der Aussage von Frau Dr. med. C., dass die Verschlechterung ab dem 01.01.2010 eingetreten ist, kann das Gericht nicht folgen. Dabei handelt es sich – wie Frau Dr. med. C. schreibt – lediglich um einen „Schätzwert“. Dass bereits damals eine Verschlechterung in dem nunmehr festgestellten Umfang eingetreten ist, erweist sich als möglich, konnte jedoch nicht mit der notwendigen Sicherheit festgestellt werden.
Auf der Grundlage der genannten Einzel-GdB-Werte ist der Gesamt-GdB des Klägers nach § 69 Abs. 3 SGB IX in Verbindung mit Teil A Ziffer 3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze im Zeitraum ab dem 10.11.2015 bis zum 18.05.2016 mit 70 zu bewerten. Nach Teil A Ziffer 3 der VG sind zur Ermittlung des Gesamtgrades der Behinderung rechnerische Methoden, insbesondere eine Addition der Einzelgrade der Behinderung, nicht zulässig. Vielmehr ist für die Beurteilung des Gesamt-GdB von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Teil-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Von Ausnahmefällen abgesehen führen leichte Gesundheitsstörungen mit einem Teil-GdB von lediglich 10 nicht zu einer wesentlichen Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, und zwar auch dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen (vgl. BSG SozR 3-3100 § 30 Nr. 24 sowie Teil A Nr. 3 VG). Schließlich sind bei der Festlegung des Gesamt-GdB zudem die Auswirkungen im konkreten Fall mit denjenigen zu vergleichen, für die in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen feste GdB-Werte angegeben sind (BSG Urteil vom 02.12.2010 -B 9 SB 4/10 R = juris Rn. 25; vgl. auch Teil A Ziffer 3 lit. b) der VG). Unter Berücksichtigung dessen war von einem Gesamt-GdB von 70 auszugehen.
(2) Der Gesamt-GdB des Klägers ist für den Zeitraum ab dem 19.05.2016 mit 80 zu bewerten. Diese Einschätzung stützt das Gericht auf das Ergebnis der Beweisaufnahme. Ab dem 19.05.2016 ist zusätzlich zu den bisher festgestellten das Vorliegen der folgenden Gesundheitsstörung als erwiesen anzusehen:
3. Schwerhörigkeit beidseits, Ohrengeräusche (Einzel-GdB: 30)
Dabei stützt sich das Gericht auf die übereinstimmenden Feststellungen der ärztlichen Sachverständigen Dr. med. C. in ihrem Gutachten und der Ärztin Rita Bender in der sozialmedizinischen Stellungnahme vom 22.06.2016. Die Schwerhörigkeit lässt sich erst durch das Tonaudiogramm vom 19.05.2016 (Blatt 39 der Verfahrensakte) mit der notwendigen Sicherheit feststellen. Unabhängig davon stand einer Berücksichtigung der Behinderung ab dem Jahr 1999 ohnehin der bestandskräftige Bescheid des Beklagten vom 22.01.2003 entgegen. Dieser kann in dem hiesigen Verfahren, in dem über einen Antrag nach § 48 SGB X entschieden wurde, nicht geändert werden (vgl. Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 27.11.2013, L 15 SB 64/08, juris).
Die Berücksichtigung dieser zusätzlichen Behinderung führt zu einem Gesamt-GdB von 80. Insoweit folgt das Gericht der Einschätzung der ärztlichen Sachverständigen Dr. med. C. in ihrer ergänzenden Stellungnahme.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.


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