Aktenzeichen L 19 R 165/17
SGB VI § 43 Abs. 2
Leitsatz
Zu den Voraussetzungen einer Rente wegen Erwerbsminderung.
Verfahrensgang
S 3 R 529/16 2017-02-14 Urt SGNUERNBERG SG Nürnberg
Tenor
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 14.02.2017 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG -). Sie ist jedoch unbegründet. Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente nach § 43 SGB VI. Eine rentenrechtlich relevante zeitliche Einschränkung des Leistungsvermögens auf unter 6 Stunden täglich ist nicht nachgewiesen.
Gemäß § 43 Abs. 1 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie
1.teilweise erwerbsgemindert sind,
2.in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Tätigkeit oder Beschäftigung haben und
3.vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Teilweise erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes für mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
Einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung haben nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
Ausweislich des vorliegenden Versicherungsverlaufs vom 22.05.2018 erfüllt der Kläger aktuell die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Erwerbsminderungsrente. Nach Pflichtbeitragszeiten bis Oktober 2012 (trotz nur geringfügiger Beschäftigung) steht er seitdem im durchgehenden Bezug von Arbeitslosengeld II. Zusätzlich ist noch eine Pflichtversicherung wegen Pflegetätigkeit von 02 bis 04/2016 vermerkt.
Der Kläger erfüllt jedoch nicht die medizinischen Voraussetzungen für die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente. Ein zeitlich auf unter 6 Stunden täglich abgesunkenes Leistungsvermögen des Klägers ist nicht nachgewiesen.
Zur Überzeugung des Senats steht fest, dass der Kläger trotz der bei ihm bestehenden gesundheitlichen Einschränkungen noch in der Lage ist, Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes im Umfang von mindestens 6 Stunden täglich unter Beachtung qualitativer Leistungseinschränkungen zu verrichten. Es muss sich hierbei um leichte, gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten im Wechselrhythmus ohne Zwangshaltungen, ohne besondere Kraftanstrengung des linken Schulter-Arm-Systems, ohne häufige und länger dauernde Überkopfarbeiten und ohne Witterungseinflüsse ohne besonderen Bekleidungsschutz handeln. Der Kläger kann auch Tätigkeiten mit besonderer nervlicher Belastung (Schicht/hoher Zeitdruck) nicht verrichten. Aufgrund der Cannabis-Behandlung ist das Reaktionsvermögen des Klägers zusätzlich gegenwärtig eingeschränkt.
Der Senat stützt seine Überzeugung auf die im Verfahren eingeholten Gutachten, insbesondere auf die Gutachten von Dr. G. und Dr. H. im Berufungsverfahren. Alle im Verfahren eingeholten Sachverständigengutachten kommen zu einem mindestens 6stündigen Leistungsvermögen des Klägers, beginnend mit Dr. T. im sozialmedizinischen Gutachten vom 11.02.2016, Dr. S. im orthopädischen Gutachten vom 14.02.2017 im sozialgerichtlichen Verfahren und jetzt Dr. G. und Dr. H. im Berufungsverfahren. Zudem hatten auch im Rahmen des vorhergehenden Antrags auf Zuerkennung einer Erwerbsminderungsrente vom 08.03.2013 nur negative Gutachten vorgelegen (Dr. G., Dr. B. und Dr. C.).
Die gesundheitlichen Einschränkungen des Klägers liegen in erster Linie auf orthopädischem Fachgebiet, daneben auf psychiatrischem und schmerztherapeutischem Gebiet.
Auf orthopädischem Fachgebiet kommen alle eingeholten Sachverständigengutachten nur zu dem Ergebnis, dass an verschiedenen Stellen des Bewegungsapparates, insbesondere an der linken Schulter und am rechten Knie, zwar Abnutzungserscheinungen vorhanden sind, diese aber lediglich zu qualitativen Einschränkungen hinsichtlich der Schwere der Tätigkeit und der Haltungsanforderungen führen. Die behandelnden Orthopäden beschreiben ebenfalls keine weitergehenden Einschränkungen oder neue Erkrankungen. Die linke Schulter wird mit Krankengymnastik behandelt, zusätzlich führt der Kläger nach eigenen Angaben jeden Tag ein krankengymnastisches Eigenübungsprogramm einschließlich Yoga- und Atemübungen durch.
Auf neurologisch/psychiatrischem Fachgebiet wurden rezidivierende depressive Episoden unterschiedlichen Schweregrades (leicht- bis mittelgradig, zuletzt bei Dr. H. leichtgradig oder nur Dysthymie) sowie eine somatoforme Schmerzstörung und eine Persönlichkeitsstörung oder -akzentuierung diagnostiziert. Dr. H. hat dabei in seinem Gutachten eine ausführliche Testung und Testvalidierung durchgeführt, die zeigt, dass der Kläger sich selbst als schwer depressiv und schwer schmerzgeschädigt sieht, dass dies aber weder in den Testverfahren noch in der Untersuchungssituation zum Ausdruck kam. Es fanden sich keinerlei Einschränkungen der kognitiven Fähigkeiten (in mehreren Tests wurde die volle Punktzahl erreicht), auch die Umstellungsfähigkeit des Klägers war vollständig erhalten. Im Beschwerdevalidierungstest kam nur eine leichte Depression zur Darstellung. Das Schmerzgesehen, vom Kläger mit Stärke 7 bis 10 von 10 angegeben, konnte nicht validiert und auch in der Untersuchungssituation nicht beobachtet werden. Dr. H. dokumentiert eine Beschwerdeverdeutlichung und Aggravation. Der Kläger hat zu keiner Zeit der Untersuchung besonders schmerzgeplagt gewirkt und weder durch Gestik, noch durch Mimik oder durch Schmerzäußerungen beim Entkleiden und Ankleiden hatte sich eine schmerzhafte Beeinträchtigung feststellen lassen, was bei einer Schmerzstärke von 7/10 aber zu erwarten gewesen wäre. Soweit der Kläger im Nachgang zum Gutachten von Dr. H. darauf hingewiesen hatte, dass er vor der Untersuchung ein Cannabinoid eingenommen und deshalb die Untersuchung einigermaßen habe überstehen können, hat er dies dem Sachverständigen vor der Untersuchung nicht mitgeteilt. Vielmehr hat er dort angegeben, dass er Dronabinol abends einnehme. Selten nehme er noch Tramadol, Ibuflam 600 nehme er nicht mehr. Vergleichbare Angaben wurden vom Kläger gegenüber Dr. G. gemacht. Auch hier hatte er nicht darauf hingewiesen, dass er aktuell vor der Untersuchung ein Cannabinoid eingenommen habe.
Dr. H. verweist in Bezug auf die Schmerzproblematik im Übrigen auch auf die MDK-Gutachten bezüglich der Cannabis-Verordnung. Während der MDK zuerst mangels ausgeschöpfter Behandlung der Schmerzerkrankung die Kostenübernahme abgelehnt hatte, wurde ein halbes Jahr später wegen „Therapieausschöpfung“ doch einer Kostenübernahme zugestimmt. Der Antrag des Hausarztes erfolgte kurz nach Einführung des § 31 Abs. 6 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch – SGB V – und ohne dass offensichtlich die Frage einer bestehenden oder früheren Suchterkrankung ausreichend abgeklärt wurde. Dr. H. hat darauf hingewiesen, dass von einem Ausschöpfen der Therapiemöglichkeiten der Schmerzerkrankung keine Rede sein könne. Der Kläger hat keine Psychotherapie absolviert, eine Psychopharmakotherapie findet nicht statt. Er war noch nie in stationärer Behandlung wegen der Psyche bzw. der Schmerzerkrankung. Der Hinweis des Klägers, dass er wegen seiner bestehenden Verantwortung als Miteigentümer seines Einfamilienhauses mit Vorgarten und zwei Hauskatzen nicht in stationäre Behandlung könne, ist insoweit unbeachtlich. Der Kläger stellt sich nach seinen eigenen Angaben lediglich einmal pro Quartal bei seinem Nervenarzt C. vor und spricht mit diesem oder füllt einen Test aus. Cannabis wird dem Kläger von seinem Hausarzt Dr. B. verordnet und verabreicht, der den Kläger auch ständig arbeitsunfähig schreibt.
Eine leitliniengerechte Therapie der Schmerzerkrankung und der psychischen Einschränkung hat bis heute nicht stattgefunden, obwohl der Kläger angibt, unter massiven Einschränkungen infolge dieser Erkrankungen seit mindestens 10 Jahren zu leiden. Dr. H. weist insoweit in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 12.11.2018 zutreffend darauf hin, dass ein erheblicher Leidensdruck beim Kläger offensichtlich nicht vorhanden sein kann. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) und des Senats werden psychische Erkrankungen erst dann rentenrechtlich relevant, wenn trotz adäquater Behandlung (medikamentös, therapeutisch, ambulant oder stationär) davon auszugehen ist, dass der Versicherte die psychischen Einschränkungen weder aus eigener Kraft noch mit ärztlicher oder therapeutischer Hilfe dauerhaft überwinden kann (BSG Urteil vom 12.09.1990 – 5 RJ 88/89; BSG Urteil vom 29.03.2006 – B 13 RJ 31/05 R – jeweils zitiert nach juris; BayLSG Urteil vom 12.10.2011 – L 19 R 738/08; BayLSG Urteil vom 30.11.2011 – L 20 R 229/08; BayLSG Urteil vom 18.01.2012 – L 20 R 979/09; BayLSG Urteil vom 15.02.2012 – L 19 R 774/06; BayLSG Urteil vom 21.03.2012 – L 19 R 35/08; BayLSG Urteil vom 15.01.2015 – L 20 R 980/08; BayLSG vom 24.05.2017 – L 19 R 1047/14).
Der Senat hat auch die Einholung eines augenärztlichen Gutachtens gegenwärtig nicht für erforderlich gehalten. Die behandelnden Augenärzte Dr. E. und Dr. F. beschreiben zwar eine Augenerkrankung des Klägers, gleichwohl ist noch ein Visus von 0,5 auf beiden Augen vorhanden. Eine akute Behandlungsnotwendigkeit wurde nicht gesehen, auch keine Verschlimmerung dokumentiert. Relevante Gesichtsfeldausfälle waren neurologisch nicht feststellbar. Der Kläger gibt an, jetzt mit einer Gleitsichtbrille versorgt zu sein.
Auch aus dem bei Dr. H. geschilderten Tagesablauf ergeben sich keine Hinweise auf ein unter 6 Stunden täglich abgesunkenes Leistungsvermögen. Der Kläger hat bei Dr. H. angegeben, dass er ca. 2 Stunden am PC sitzen, lesen und damit auch Filme ansehen könnte und er erst dann Probleme bekomme. Der Kläger kann ohne relevante Einschränkungen auch längere Fahrradtouren unternehmen und offensichtlich auch ohne Einschränkungen seinen Haushalt, seinen Garten und seine Verwaltungsangelegenheiten erledigen. Er pflegt weiterhin soziale Kontakte. Eine relevante Einschränkung der sozialen Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit im rentenrechtlichen Sinne lässt sich hieraus ebenfalls nicht ableiten.
Nach alledem ist ein Nachweis eines auf unter 6 Stunden täglich abgesunkenen Leistungsvermögens des Klägers für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes im Sinne des § 43 SGB VI nicht geführt worden. Das SG hat bereits zutreffend ausgeführt, dass ein Anspruch auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit nach § 240 SGB VI aufgrund des beruflichen Werdegangs des Klägers nicht in Betracht kommt. Er muss sich auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisen lassen, für den noch ein mindestens 6stündiges Leistungsvermögen besteht.
Die Berufung gegen das Urteil des SG Nürnberg vom 14.02.2017 ist deshalb als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.