Sozialrecht

Kein Anspruch auf Erwerbsminderungsrente trotz erlittenen Polytraumas

Aktenzeichen  L 19 R 528/13

Datum:
26.1.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VI SGB VI § 43 Abs. 1, Abs. 2, § 240

 

Leitsatz

1 Auch nach erlittenem Polytrauma sind für die Prüfung, ob ein Anspruch auf Erwerbsminderungsrente besteht, allein die Vorgaben des § 43 SGB VI maßgeblich. Deshalb kann trotz zahlreicher Diagnosen und noch bestehender gesundheitlicher Einschränkungen jemand in der Lage sein, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich zu verrichten. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
2 Bei einer psychischen Erkrankung ist der Kläger gehalten, vielfältige Behandlungsoptionen auszuschöpfen. Das gilt insbesondere, wenn der Sachverständige feststellt, dass das Leistungsvermögen unter zumutbarer Willensanstrengung und mit ärztlicher und therapeutischer Hilfe einer baldigen Besserung zugänglich wäre. (Rn. 27 und 31) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 6 R 14/12 2013-01-29 Urt SGWUERZBURG SG Würzburg

Tenor

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 29.01.2013 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG -). Sie ist jedoch unbegründet. Das SG hat zu Recht mit Urteil vom 29.01.2013 einen Anspruch der Klägerin auf Gewährung von Erwerbsminderungsrente nach § 43 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch – SGB VI – abgelehnt. Ein dauerhaftes Absinken des quantitativen Leistungsvermögens der Klägerin auf unter 6 Stunden täglich (bei Beachtung qualitativer Leistungseinschränkungen) ist bislang nicht nachgewiesen.
Gemäß § 43 Abs. 1 S. 1 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie 1. teilweise erwerbsgemindert sind, 2. in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Tätigkeit oder Beschäftigung haben und 3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Teilweise erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 1 S. 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes für mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
Einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung haben nach § 43 Abs. 2 S. 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
Zur Überzeugung des Senats steht fest, dass die Klägerin trotz der bei ihr bestehenden gesundheitlichen Einschränkungen noch in der Lage ist, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich zu verrichten, wenn auch unter Beachtung qualitativer Leistungseinschränkungen. Es muss sich um leichte Tätigkeiten überwiegend im Sitzen, teilweise im Stehen und teilweise im Gehen in geschlossenen Räumen oder auch im Freien mit entsprechendem Bekleidungsschutz handeln. Zu vermeiden sind Heben und Bewegen von mittelschweren und schweren Lasten ohne Hilfsmittel, Arbeiten in Zwangshaltungen, Tätigkeiten mit Absturzgefahr sowie nervlich belastende Tätigkeiten. Im Hinblick auf die psychische Erkrankung der Klägerin bestehen vielfältige Behandlungsoptionen, die eine Besserung der Beschwerden in absehbarer Zeit als möglich erscheinen lassen. Auch die konservativen Behandlungsmöglichkeiten der unfallbedingten somatischen Einschränkungen sind wohl bei weitem nicht ausgeschöpft.
Der Senat stützt seine Überzeugung auf die eingeholten Sachverständigengutachten von Dr. C. auf orthopädischem Fachgebiet und von Dr. F. auf neurologisch/psychiatrischem Fachgebiet. Die Feststellungen der beiden Sachverständigen decken sich im Wesentlichen mit den Leistungsbeurteilungen der Sachverständigen im SG-Verfahren und im Rentenverfahren. Sämtliche Sachverständige – mit Ausnahme der Dr. H. im SG-Verfahren – kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass die Klägerin Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes unter Beachtung qualitativer Leistungseinschränkungen noch mindestens 6 Stunden täglich verrichten kann. Soweit die Kardiologin Dr. H. zu einem 3- bis unter 6stündigen Leistungsvermögen der Klägerin gekommen ist, kann der Senat dieser Einschätzung nicht folgen. Frau Dr. H. hat ihre Leistungseinschätzung auf die ihrer Meinung nach vorliegenden Folgen der psychischen Erkrankung der Klägerin gestützt. Die posttraumatische Belastungsstörung der Klägerin zusammen mit den gezeigten Konzentrationsstörungen führe doch zu einem unter 6stündigen Leistungsvermögen. Mit dieser Begründung hat die Sachverständige fachfremd geurteilt. Sie hat die subjektiven Angaben der Klägerin nicht hinterfragt und einer objektivierten Testung zugeführt. Ihr Gutachten ist deshalb nicht geeignet, die eingeholten neurologisch/psychiatrischen Gutachten vom Facharzt K. und von Dr. F. zu entkräften.
Die Gesundheitsstörungen der Klägerin liegen zum einen auf orthopädischem Fachgebiet infolge des erlittenen Verkehrsunfalles im Jahr 2008 mit zahlreichen Verletzungen, die langwierige Behandlungen nach sich gezogen haben, zum anderen aber auch auf neurologisch/psychiatrischem Fachgebiet hinsichtlich der Schmerzsituation und der psychischen Folgen des Unfallgeschehens.
Auf orthopädischem Fachgebiet haben Dr. S. im Rentenverfahren am 22.07.2011, Dr. W. im sozialgerichtlichen Verfahren am 21.09.2012 und Dr. C. im Berufungsverfahren am 11.05.2015 die Klägerin begutachtet. Die Sachverständigen sind durchgehend zu gleichen Diagnosen gelangt und zu dem Ergebnis, dass die bei dem Verkehrsunfall erlittenen Brüche und sonstigen Verletzungen gut behandelt wurden und verheilt sind. Insbesondere der Heilungsverlauf des Beckenringbruchs wird als positiv beschrieben, hier besteht lediglich noch eine geringe Asymmetrie und kaum noch Instabilität. Sowohl Dr. W. als auch Dr. C. haben in ihren Sachverständigengutachten darauf hingewiesen, dass die von der Klägerin geschilderten Bewegungseinschränkungen und insbesondere die erheblichen Schmerzzustände nicht nachvollzogen werden könnten. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat diesbezüglich auf den neuen Befund der BGU F. hingewiesen, wonach ein Bruch des Querfortsatzes L 3 doch nicht optimal knöchern durchbaut sei und insoweit sich eine Arthrose entwickle mit entsprechender Schmerzentwicklung. Ferner hat er darauf hingewiesen, dass der behandelnde Orthopäde der Klägerin, Dr. S., die Klägerin mit Infiltrationen von Cortison behandle und zwischenzeitlich einen Rollstuhl verordnet habe. Diese Berichte hat der Senat zur Kenntnis genommen und hierzu eine ergänzende Stellungnahme von Dr. C. eingeholt. Dr. C. weist darin zutreffend darauf hin, dass auch die Ärzte der BGU einen operativen Eingriff abgelehnt und eine Intensivierung der konservativen Behandlungsmöglichkeiten vorgeschlagen haben. Entscheidend für die rentenrechtliche Leistungsbeurteilung sind aber nicht neue Diagnosen, sondern das Ausmaß der bei der Klägerin dauerhaft bestehenden Funktionseinschränkungen. Die Bewegungsmaße der Klägerin haben sich im Laufe des Verfahrens nicht wesentlich verändert, so dass zumindest bis gegenwärtig auch nicht von einem Fortschreiten der Funktionseinschränkungen auszugehen ist.
Ein weiterer Schwerpunkt der gesundheitlichen Einschränkungen der Klägerin zeigt sich auf neurologisch/psychiatrischem Fachgebiet. Die hier im Verfahren tätig gewordenen Sachverständigen stellen übereinstimmend fest, dass eine leitliniengerechte Behandlung der psychischen Erkrankung, nämlich der anhaltenden somatoformen Schmerzstörung mit psychischen und körperlichen Faktoren und der rezidivierenden depressiven Erkrankung der Klägerin nicht erfolgt ist. Die Klägerin hat infolge der bei dem Unfall erlittenen Verletzungen unter erheblichen Schmerzen gelitten, eine intensive Schmerztherapie ist aber offensichtlich nicht durchgeführt worden. Dr. F. hat in seinem Sachverständigengutachten darauf hingewiesen, dass eine konsequente Behandlung der Schmerzsymptomatik nicht nachvollziehbar ist, es fehle an einer antidepressiven Medikation mit Psychopharmaka, es bestehe die Möglichkeit einer konsequenten Verhaltenstherapie, gegebenenfalls auch teilstationär oder stationär. Insbesondere hat aber Dr. F. im Rahmen seiner Begutachtung erhebliche Inkonsistenzen in der Schilderung und der Verhaltensweise der Klägerin feststellen müssen, bis hin zu Verdeutlichungstendenzen. Diese beginnen bei der körperlichen Untersuchung der Klägerin mit inkonsistenten Bewegungs- und Verhaltensmustern und setzen sich in der Schilderung der Einschränkungen des Alltags und in der Behandlung der Erkrankung fort. Die Klägerin betont, dass sie unter schwersten Schmerzen leidet, die von ihr angeblich eingenommenen Medikamente lassen sich jedoch teilweise im Blut nicht nachweisen oder andererseits in einer völlig überhöhten Dosis. Die Einnahme von Psychopharmaka wurde von der Klägerin bislang nicht in Erwägung gezogen, obwohl diese im Rahmen der Schmerzbehandlung durchaus sinnvoll wären. Die BGU F. hatte bereits vor längerer Zeit im schmerztherapeutischen Konzil darauf hingewiesen, dass die bisherige Medikation der Klägerin nicht sinnvoll sei und dringend geändert werden sollte. Eine Änderung wurde aber nicht in Erwägung gezogen. Andererseits hat die Klägerin bei der Begutachtung durchaus auch selbst angegeben, dass sie die Schmerzmedikation habe reduzieren können und nur noch bei Bedarf Schmerzmittel benötige, was von ihrer Belastung abhänge. Ein dreitägiger Aufenthalt im Orthopädischen Zentrum D-Stadt hatte bereits zu einer deutlichen Besserung der Beschwerden geführt. Gleichwohl wird hier keine konsequente Behandlung durchgeführt, was eher gegen einen entsprechend starken Leidensdruck bei der Klägerin sprechen würde. Zwar hat die Klägerin angegeben, bei Dipl.-Psych. B. längere Zeit in Behandlung gewesen zu sein. In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin jedoch angegeben, diese Gespräche im Jahr 2015 eingestellt zu haben, weil weder die Krankenkasse noch die BG die Kosten hierfür weiter übernommen hätten. Dr. F. weist ausdrücklich darauf hin, dass das Leistungsvermögen der Klägerin unter zumutbarer Willensanstrengung und mit ärztlicher und therapeutischer Hilfe einer baldigen Besserung zugänglich wäre. Dies entspricht im Übrigen auch der Feststellung der Nervenärztin Dr. J., die eine ausreichende psychische Stabilität der Klägerin gesehen hatte, trotz damals noch bestehenden Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung, die von den Sachverständigen K. und Dr. F. nicht mehr bestätigt werden kann.
Aufgrund der Ergebnisse der vorliegenden Sachverständigengutachten auf orthopädischem und neurologisch/psychiatrischem Fachgebiet, die übereinstimmend zu einem mindestens 6stündigen Leistungsvermögen der Klägerin unter Beachtung qualitativer Leistungseinschränkungen gekommen sind und die erhebliche Behandlungsoptionen auf beiden Fachgebieten sehen, besteht zumindest zum jetzigen Zeitpunkt kein Anspruch auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente nach § 43 SGB VI. Ein Anspruch nach § 240 SGB VI auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit kommt aufgrund des Alters der Klägerin nicht in Betracht, so dass es auf die Einschätzung der Sachverständigen zur Ausübung des Berufs als Verkäuferin von Büroartikeln nicht ankommt. Nach alledem ist die Berufung gegen das Urteil des SG C-Stadt vom 29.01.2013 als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß §§ 160 Abs. 2 Nrn 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.


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