Sozialrecht

Kein Antrag auf mündliche Verhandlung vor dem Landessozialgericht

Aktenzeichen  L 18 SO 139/20 NZB

Datum:
13.7.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 19368
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGG § 105, § 144, § 145
ZPO § 145

 

Leitsatz

1. Ein Antrag auf mündliche Verhandlung kann formgerecht nur bei dem Sozialgericht gestellt werden, dass den Gerichtsbescheid erlassen hat. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein vor dem Landessozialgericht gestellter Antrag auf mündliche Verhandlung führt nicht dazu, dass der angegriffene Gerichtsbescheid als nicht ergangen gilt.  (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Beteiligten haben im sozialgerichtlichen Verfahren grundsätzlich ihre Rechtsbehelfe und Rechtsmittel bei dem Gericht anzubringen, das über diese Rechtsbehelfe und Rechtsmittel entscheidet; dieser Grundsatz gilt auch für den Antrag auf mündliche Verhandlung. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 4 SO 208/19 2020-04-28 GeB SGNUERNBERG SG Nürnberg

Tenor

I. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung im Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Nürnberg vom 28.04.2020, S 4 SO 208/19, wird abgelehnt.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

I.
Zwischen den Beteiligten ist die Übernahme von Zahlungen i.H.v. 10.- EUR täglich strittig, die der Kläger während einer 3-wöchigen Reha leisten musste, insgesamt somit ein Betrag von 210 EUR.
Der 1955 geborene und auf Dauer voll erwerbsgeminderte Kläger bezieht vom Beklagten seit dem Jahr 2017 aufstockende Leistungen nach dem Vierten Kapitel des Sozialgesetzbuches Zwölftes Buch (SGB XII).
Der Kläger beantragte im Rahmen einer persönlichen Vorsprache beim Beklagten am 14.11.2018 die Übernahme einer Zuzahlung von 10,00 EUR pro Tag, die er im Rahmen einer dreiwöchigen medizinischen stationären Rehabilitationsmaßnahme aufbringen musste. Kostenträger war die Deutsche Rentenversicherung Bund.
Der Beklagte lehnte mit Bescheid vom 10.12.2018 den Antrag des Klägers ab, da die Kosten für die Zuzahlungen nicht erstattungsfähig seien. Hiergegen legte der Kläger mit Schreiben vom 10.01.2019 Widerspruch ein. Beigefügt war ein Informationsschreiben, wonach eine Befreiung von der Zuzahlungspflicht bei Bezug von Leistungen nach dem 4. Kapitel des SGB XII auf Antrag gewährt wird. Nach den Ermittlungen des Beklagten im Widerspruchsverfahren kann sich der Kläger auf Antrag von den Zuzahlungen befreien lassen, da sein Einkommen unter 1.247,00 EUR monatlich liegt. Damit fallen keine Zuzahlungsgebühren an. Mit Widerspruchsbescheid vom 24.10.2019 wies die Regierung von Mittelfranken (u.a.) den Widerspruch zurück.
Am 24.11.2019 hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben.
Mit Beschluss vom 24.03.2020 hat das SG vom vorliegenden Klageverfahren zwei weiteren Klageverfahren hinsichtlich einer Ablehnungsentscheidung des Beklagten über die Gewährung eines Vorschusses bzw. eines Darlehens i.H.v. 200.- EUR sowie einer ablehnenden Entscheidung des Beklagten über die Übernahme von (weiteren) Kosten aus der Abschlussrechnung des vormaligen Stromversorgers des Klägers abgetrennt.
Das SG hat den Kläger mit Schreiben vom 06.04.2020 gebeten mitzuteilen, ob sich die Klage hinsichtlich seiner Zuzahlung zum Reha-Aufenthalt erledigt habe. Die Klage habe aber unabhängig davon aus rechtlichen Gründen keine Aussicht auf Erfolg. Mit Schreiben vom 20.04.2020 hat der Kläger unter Bezugnahme auf das gerichtliche Schreiben erklärt, dass er seine Klage nicht zurücknehmen werde.
Mit Gerichtsbescheid vom 28.04.2020 hat das SG die Klage auf Verurteilung des Beklagten zur Erstattung von Kosten für den Eigenanteil für eine dreiwöchige medizinische Rehabilitationsmaßnahme mit à 10,00 EUR täglich unter Aufhebung seines Bescheides vom 10.12.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.10.2019 abgewiesen. Der Gerichtsbescheid wurde dem Kläger am 02.05.2020 zugestellt.
Daraufhin hat der Kläger am Freitag, dem 29.05.2020, beim Bayerischen Landessozialgericht (LSG) per Fax „sowohl Antrag auf mündliche Verhandlung“ gestellt „als auch Beschwerde“ eingelegt.
Mit Beschluss vom 02.07.2020 hat der Senat die Selbstablehnung der Richterin am LSG Dr. N. wegen Besorgnis der Befangenheit für begründet erklärt.
Wegen weiterer Einzelheiten wird zur Ergänzung des Sachverhalts auf den Inhalt der Gerichtsakten beider Instanzen sowie der Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen.
II.
Der Senat entscheidet über die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Berufung im Gerichtsbescheid des SG vom 24.04.2020 durch Beschluss (§ 145 Abs. 4 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG).
1. Die Beschwerde wurde form- und fristgemäß eingelegt (§ 145 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 SGG). Sie ist auch im Übrigen zulässig.
a. Die Beschwerde ist nicht deshalb unzulässig, weil der Kläger in seiner Beschwerdeschrift vom 29.05.2020 zugleich Antrag auf mündliche Verhandlung gestellt hat.
Nach § 105 Abs. 2 S. 1 SGG können die Beteiligten innerhalb eines Monats nach Zustellung des Gerichtsbescheids das Rechtsmittel einlegen, das zulässig wäre, wenn das Gericht durch Urteil entschieden hätte. Ist die Berufung nicht gegeben, kann mündliche Verhandlung beantragt werden (S. 2). Wird sowohl ein Rechtsmittel eingelegt als auch mündliche Verhandlung beantragt, findet mündliche Verhandlung statt (S. 3). Der Gerichtsbescheid wirkt als Urteil; wird rechtzeitig mündliche Verhandlung beantragt, gilt er als nicht ergangen (§ 105 Abs. 3 SGG).
Die gesetzlichen Regelungen des § 105 Abs. 2 S. 3, Abs. 3 SGG, wonach die (beantragte) mündliche Verhandlung grundsätzlich gegenüber dem ebenfalls eingelegten Rechtsmittel Vorrang hat und der Gerichtsbescheid als Folge des Antrags auf mündliche Verhandlung als nicht ergangen gilt, greifen im vorliegenden Fall – Stellung des Antrags auf mündliche Verhandlung beim LSG – nicht.
Voraussetzung für die Anwendbarkeit des § 105 Abs. 2 Satz 3 SGG ist eine form- und fristgerechte Beantragung der mündlichen Verhandlung nach S. 2. Formgerecht ist der Antrag auf mündliche Verhandlung aber nur gestellt, wenn er bei dem Sozialgericht gestellt wurde, das den Gerichtsbescheid erlassen hat. Denn die Beteiligten haben im sozialgerichtlichen Verfahren grundsätzlich ihre Rechtsbehelfe und Rechtsmittel bei dem Gericht anzubringen, das über diese Rechtsbehelfe bzw. Rechtsmittel entscheidet (§§ 90 Abs. 1, 151 Abs. 1, 164 SGG); dieser Grundsatz gilt auch für den Antrag nach § 105 Abs. 2 SGG (BSG v. 22.03.1963 – 11 RV 628/62, SozR Nr. 1 zu § 105 RVO).
Der Kläger ist in der Rechtsmittelbelehrungdes angefochtenen Gerichtsbescheids ordnungsgemäß über die Möglichkeit der Beantragung einer mündlichen Verhandlung beim SG belehrt worden. Da der Kläger aber beim SG keinen Antrag auf mündliche Verhandlung gestellt hat, tritt die Rechtsfolge des § 105 Abs. 3 SGG, wonach der Gerichtsbescheid als nicht ergangen gilt, wenn rechtzeitig mündliche Verhandlung beantragt wird, nicht ein. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist daher auch unter diesem Gesichtspunkt zulässig.
Nur ergänzend weist der Senat darauf hin, dass die Frist für den Antrag auf mündliche Verhandlung auch nicht durch Einreichung des Antrags bei einem anderen als dem für die Entscheidung über den Antrag zuständigen Sozialgericht gewahrt wird. Eine Regelung wie sie in § 91 Abs. 1 SGG oder § 151 Abs. 2 SGG zu finden ist, hat der Gesetzgeber in § 105 SGG gerade nicht aufgenommen. Auch eine entsprechende Anwendung z.B. des § 91 Abs. 1 SGG kommt nicht in Betracht, weil dieser eine Ausnahmeregelung für den speziellen Fall der Klageerhebung darstellt (vgl. BSG a.a.O.). Damit verbleibt es dabei, dass der Antrag auf mündliche Verhandlung nur form- und fristgerecht erhoben ist, wenn er innerhalb eines Monats nach Zustellung des Gerichtsbescheids bei dem Gericht eingelegt wird, das den Gerichtsbescheid erlassen hat. Hierfür sprechen auch Gesichtspunkte der Rechtssicherheit. Es muss für die Beteiligten mit Ablauf der einmonatigen Beschwerde- bzw. Antragsfrist feststehen, ob das Rechtsmittel der Nichtzulassungsbeschwerde oder der Rechtsbehelf des Antrags auf mündliche Verhandlung zulässig eingelegt bzw. gestellt wurden und ob infolgedessen der Gerichtsbescheid ergangen ist oder als nicht ergangen gilt.
b. Die Beschwerde ist auch statthaft. Die Nichtzulassung der Berufung durch ein Sozialgericht kann gemäß § 145 Abs. 1 S. 1 SGG durch Beschwerde angefochten werden. Somit ist die Nichtzulassungsbeschwerde in Fällen statthaft, in denen die Berufung gemäß § 144 Abs. 1 SGG der Zulassung bedarf, eine Zulassung durch das erstinstanzliche Gericht aber nicht erfolgt ist.
Gemäß § 144 Abs. 1 S. 1 SGG bedarf die Berufung der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluss des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750,00 EUR (Nr. 1) oder bei einer Erstattungsstreitigkeit zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts oder Behörden 10.000,00 EUR (Nr. 2) nicht übersteigt.
Die im Beschwerdeverfahren anhängige Klage hat einen Verwaltungsakt zum Verfahrensgegenstand, der auf eine Geldleistung gerichtet ist. Der Wert des Beschwerdegegenstands übersteigt 750 EUR nicht. Das Klagebegehren beschränkt sich auf die Erstattung von Zuzahlungen des Klägers zu einer medizinischen Reha in Höhe von insgesamt 210 EUR.
Auch ist eine Zulassung der Berufung durch das SG nicht erfolgt. Vielmehr hat das SG im Entscheidungstenor die Berufung nicht zugelassen.
2. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist jedoch unbegründet. Ein Zulassungsgrund nach § 144 Abs. 2 SGG liegt nicht vor.
Die Rechtssache hat weder grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG noch weicht der Gerichtsbescheid des SG im Sinne des § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes- oder des Bundesverfassungsgerichts ab (Zulassungsgrund der Divergenz). Diesbezüglich hat auch der Kläger nichts vorgetragen.
Letztlich wird mit der Nichtzulassungsbeschwerde auch kein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht, der tatsächlich vorliegt und auf dem die Entscheidung beruhen kann (vgl. § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG).
Soweit der Kläger im Rahmen seiner Beschwerdebegründung sinngemäß moniert, dass das SG durch seinen Trennungsbeschluss vom 24.03.2020 das Verfahren komplizierter gemacht hätte, ist das für den Senat nicht nachvollziehbar und in der Sache unbegründet. Der mit einer Begründung versehene Trennungsbeschluss vom 24.03.2020 ist formell und materiell rechtmäßig gem. § 202 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 145 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO) ergangen. Der Beschluss diente offensichtlich dazu, die Ordnung des Prozessstoffes im Interesse einer besseren Übersichtlichkeit zu ermöglichen und beruhte daher auf einem sachlichen Grund (siehe dazu BSG v. 28.08.2013 – B 6 KA 41/12 R, SozR 4-5408 Art. 14 Nr. 1). Entgegen seinem Vorbringen hatte der Kläger auch seit Erlass des Widerspruchsbescheids am 24.10.2019 ausreichend Gelegenheit, sich um einen Rechtsanwalt zu bemühen. Schon vom zeitlichen Ablauf her standen die Auswirkungen der derzeitigen Pandemie solchen Bemühungen nicht entgegen. Ohnehin ist dem Gericht aus der alltäglichen Praxis nicht bekannt, dass sich infolge der Pandemie Rechtsanwälte/-innen nicht mehr bereit erklärt hätten, Mandate zu übernehmen.
Der Kläger wurde vor Erlass des angefochtenen Gerichtsbescheids auch ordnungsgemäß mit gerichtlichem Schreiben vom 06.04.2020 angehört.
Die Kostenentscheidung für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 193 SGG; sie berücksichtigt, dass die Beschwerde des Klägers ohne Erfolg geblieben ist.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG). Nach § 145 Abs. 4 S. 4 SGG wird das Urteil des Sozialgerichts mit der Ablehnung der Beschwerde durch das Landessozialgericht rechtskräftig.


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