Aktenzeichen L 11 AS 652/17
Leitsatz
1. Der Abschluss eines Aufhebungsvertrages stellt eine Weigerung der Fortführung einer Arbeit iSv § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II auch dann dar, wenn das Arbeitsverhältnis unabhängig davon zeitnah durch den Arbeitgeber gekündigt werden könnte. (Rn. 22)
2. Wird ein vom Leistungsberechtigten abverlangtes Verhalten bereits von § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II erfasst, so bleibt für die Anwendung von § 31 Abs. 2 Nr. 4 SGB II kein Raum mehr. (Rn. 24)
Verfahrensgang
S 17 AS 642/16 2017-08-16 GeB SGBAYREUTH SG Bayreuth
Tenor
I. Die Berufung des Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 16.08.2017 wird zurückgewiesen.
II. Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 16.08.2017 dahingehend abgeändert, dass der Bescheid vom 23.05.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.07.2016 aufgehoben und der Beklagte unter Abänderung der Bescheide vom 24.08.2016 und 18.01.2018 verurteilt wird, der Klägerin für Juni bis August 2016 monatlich jeweils weitere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes in Höhe von 109,20 € zu zahlen.
III. Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Beklagten ist zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz -SGG-), aber nicht begründet. Das SG hat zu Recht den Beklagten unter Aufhebung des Sanktionsbescheides vom 23.05.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.07.2016 verurteilt, der Klägerin für Juni und Juli 2016 weiteres Alg II zu zahlen. Der Bescheid vom 23.05.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.07.2016 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Dies gilt auch, soweit der Beklagte mit Bescheid vom 23.05.2016 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 25.05.2016 (Juni und Juli 2016) ein um 109,20 € gemindertes Alg II gezahlt hat. Die (unselbständige) Anschlussberufung der Klägerin ist zulässig und dahingehend begründet, dass der Beklagte auch zur Zahlung von 109,20 € für August 2016 zu verurteilen war.
Streitgegenstand ist vorliegend der Sanktionsbescheid vom 23.05.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.07.2016, mit dem der Beklagte die Minderung des Alg II der Klägerin für Juni bis August 2016 um monatlich 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs festgestellt und in diesem Umfang die Bewilligung von Alg II für die Monate Juni und Juli 2016 aufgehoben hat. Der Bescheid vom 24.08.2016, mit dem ua Alg II endgültig für Juni und Juli 2016 bewilligt worden ist, ist ebenso wie der Bescheid vom 18.01.2018 in Bezug auf die endgültige Bewilligung von Alg II für August 2018 Gegenstand des Verfahrens, da sie jeweils leistungsrechtlich den Sanktionsbescheid umgesetzt haben. Die Bescheide bilden mit dem Sanktionsbescheid eine rechtliche Einheit (vgl dazu BSG, Urteil vom 22.03.2010 – B 4 AS 68/09 R -; Urteil des Senats vom 06.02.2014 – L 11 AS 535/12 – alle zitiert nach juris). Darüber hinaus ist im Hinblick auf die Anschlussberufung der Klägerin auch der Anspruch auf Zahlung von weiteren 109,20 € für August 2016 Streitgegenstand, da der Beklagte eine entsprechende Bewilligung nicht vorgenommen hat.
Die Feststellung des Beklagten, es sei eine Minderung des Alg II der Klägerin um 30 Prozent des für sie maßgeblichen Regelbedarfs für die Monate Juni bis August 2016 eingetreten und die daraus folgende Aufhebung der Leistungsbewilligung von Juni bis Juli 2016 bzw nur um monatlich 109,20 € gekürzte endgültige Bewilligung von Alg II für Juni bis August 2016 ist rechtswidrig.
Nach § 40 Abs. 1 und 2 Nr. 3 SGB II iVm mit § 330 Abs. 3 Satz 1 SGB III iVm § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Im Hinblick auf die Beschäftigungsaufgabe bei der Pension F. liegt keine Pflichtverletzung der Klägerin iSv § 31 SGB II vor, so dass im Hinblick auf den Leistungsanspruch für Juni und Juli 2016 keine wesentliche Änderung eingetreten war.
Sofern die Klägerin tatsächlich das Anhörungsschreiben vom 07.04.2016 vor Erlass des Sanktionsbescheides vom 23.05.2016 nicht erhalten haben sollte, wäre eine möglicherweise fehlende Anhörung iSv § 24 Abs. 1 SGB X im Rahmen der Durchführung des Widerspruchsverfahrens geheilt worden (§ 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X). Die Klägerin hatte hier Gelegenheit, sich hinsichtlich der für die Entscheidung über einen möglichen Eintritt einer Minderung ihres Alg II erheblichen Tatsaschen zu äußern und hat hiervon Gebrauch gemacht, so dass sich der Beklagte im Widerspruchsbescheid vom 19.07.2016 mit dem Vorbringen auch auseinander gesetzt hat (zur Heilung eines Anhörungsmangels im Rahmen des Widerspruchsverfahrens: BSG, Urteil vom 26.07.2016 – B 4 AS 47/15 R – und Urteil vom 29.11.2012 – B 14 AS 196/11 R – beide zitiert nach juris).
Nach § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II mindert sich bei einer Pflichtverletzung nach § 31 SGB II das Alg II in einer ersten Stufe um 30 Prozent des für die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person nach § 20 SGB II maßgebenden Regelbedarfs. Vorliegend fehlt es jedoch an einer solchen Pflichtverletzung.
Erwerbsfähige Leistungsberechtigte verletzen nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II ua ihre Pflichten, wenn sie trotz schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen oder deren Kenntnis sich weigern, eine zumutbare Arbeit fortzuführen, sofern sie nicht einen wichtigen Grund für ihr Verhalten darlegen und nachweisen (§ 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II). Nicht erforderlich ist es dabei, dass es sich um eine vom Beklagten angebotene Arbeit handelt (vgl dazu auch Valgolio in Hauck/Noftz, SGB II, Stand 03/2018, § 31 Rn 91; anders ohne weitere Begründung: BayLSG, Urteil vom 21.07.2011 – L 7 AS 565/09 – juris). Auch stellt der Abschluss eines Aufhebungsvertrages eine Weigerung der Fortführung einer Arbeit dar (so auch BSG, Urteil vom 22.03.2010 – B 4 AS 68/09 R – juris; Valgolio aaO Rn 135). Damit wurde das Arbeitsverhältnis in jedem Fall vor einem Zeitpunkt beendet, zu dem eine Kündigung hätte erfolgen können. Die mündlich erklärte Kündigung durch den Arbeitgeber war in jedem Fall formunwirksam (§ 623 Bürgerliches Gesetzbuch -BGB-). Soweit in der Literatur eine Fortführungsverweigerung angezweifelt wird, wenn das Beschäftigungsverhältnis ohnehin in Kürze beendet worden wäre (so offenbar Sonnhoff in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl 2015, § 31 Rn 71) – was vorliegend hinsichtlich der kurzen Kündigungsfrist innerhalb der Probezeit ggf angenommen werden könnte -, gibt es hierfür nach dem klaren Wortlaut der Norm keinen Anhaltspunkt. Vielmehr kommt es entsprechend der Rechtsprechung zur Arbeitsaufgabe im SGB III (so zB BSG, Urteil vom 12.07.2006 – B 11a AL 47/05 R – SozR 4-4300 § 144 Nr. 13; BayLSG, Urteil vom 09.03.2017 – L 10 AL 214/15 – juris) grds alleine darauf an, ob die Arbeitslosigkeit zu einem früheren Zeitpunkt als eine konkret drohende Kündigung herbeigeführt wird. Das von der Klägerin abverlangte Verhalten, ihre (zumutbare) Arbeit fortzuführen, wird damit von § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II erfasst.
Allerdings fehlt es für die Annahme einer Pflichtverletzung an der hierfür erforderlichen schriftlichen Belehrung über die Rechtsfolgen oder einer entsprechenden Kenntnis bei der Klägerin. Eine schriftliche Belehrung über den möglichen Eintritt einer Minderung des Alg II bei einer Weigerung der Fortführung der Arbeit ist den Akten nicht zu entnehmen und vom Beklagten auch nicht behauptet. Der Beklagte hätte jedenfalls die Möglichkeit gehabt, die Klägerin zu belehren, da sie spätestens am 11.02.2016 im Rahmen der Folgeantragstellung die Beschäftigungsaufnahme angezeigt hatte. Dass der Klägerin die möglichen Rechtsfolgen aus anderen Gründen bekannt gewesen sein sollen, ist nicht ersichtlich. Sie hat auch selbst glaubhaft angegeben, vom drohenden Eintritt einer Sanktion nichts gewusst zu haben. Dies wird vom Beklagten nicht bestritten, sondern vielmehr von ihm selbst in der Berufungsbegründung vorgebracht, eine Sanktionierung nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II scheitere an der fehlenden Rechtsfolgenbelehrung bzw Kenntnis der Klägerin.
Auch eine Pflichtverletzung der Klägerin nach § 31 Abs. 2 Nr. 4 SGB II kann nicht festgestellt werden. Danach liegt eine Pflichtverletzung von erwerbsfähigen Leistungsberechtigten vor, wenn sie die im SGB III genannten Voraussetzungen für das Eintreten einer Sperrzeit erfüllen, die das Ruhen oder Erlöschen eines Anspruchs auf Arbeitslosengeld begründen. Die Anwendbarkeit des § 31 Abs. 2 Nr. 4 SGB II ist vorliegend jedoch ausgeschlossen, da das von der Klägerin abverlangte Verhalten bereits von § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II erfasst wird. Letzterer stellt eine spezielle gesetzliche Normierung des Tatbestandes einer Arbeitsaufgabe dar. In der Konsequenz führt dabei eine Arbeitsaufgabe nur dann zu einer Sanktion, wenn auch eine schriftliche Rechtsfolgenbelehrung zuvor erteilt worden ist oder der Leistungsberechtigte von diesen Folgen weiß. Ein Bedürfnis für eine erweiternde Auslegung des § 31 Abs. 2 Nr. 4 SGB II auf solche Fälle besteht nicht (so insgesamt: Valgolio in Hauck/Noftz, SGB II, Stand 03/2018, § 31 Rn 134; weniger klar dagegen in Rn 202; offenbar für eine Anwendung des § 31 Abs. 2 Nr. 4 SGB II in vorliegenden Fallgestaltungen, wenn nur ein Bezug zum SGB III besteht: Sonnhoff in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl 2015, § 31 Rn 160 f; Berlit in LPK-SGB II, 6. Aufl 2017, § 31 Rn 104). Insbesondere kann § 31 Abs. 2 Nr. 4 SGB II nicht als Auffangbecken herangezogen werden, wenn eine Sanktion nach § 31 Abs. 1 SGB II insbesondere wegen der dort erforderlichen Rechtsfolgenbelehrung bzw der Kenntnis der Rechtsfolgen scheitert (Knickrehm/Hahn in Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl 2017, § 31 Rn 87; Lauterbach in Gagel, SGB II/SGB III, Stand 03/2018, § 31 Rn 70). Dies folgt letztlich auch aus der Rechtsprechung des BSG. Zunächst wurde in der Entscheidung vom 17.12.2009 (B 4 AS 20/09 R – juris – zur vorhergehenden Rechtslage bei § 31 Abs. 4 Nr. 3b SGB II aF) ausgeführt, die Anwendung von § 31 Abs. 2 Nr. 4 SGB II sei ausgeschlossen, wenn das vom Leistungsberechtigten abverlangte Verhalten bereits von § 31 Abs. 1 SGB II erfasst ist und keine Beziehung des Leistungsberechtigten zum Rechtskreis des SGB III besteht. In der späteren Entscheidung vom 22.03.2010 (B 4 AS 68/09 R – Rn 14 aE – juris) wird in Fortführung dieser Rechtsprechung darauf hingewiesen, dass eine Heranziehung von § 31 Abs. 4 Nr. 3 b aF (jetzt: § 31 Abs. 2 Nr. 4 SGB III) im Sinne einer einschränkenden Anwendungsvoraussetzung voraussetze, dass das vom Leistungsberechtigten abverlangte Verhalten nicht bereits von § 31 Abs. 1 SGB II erfasst ist und das sperrzeitrelevante Ereignis zu einem Zeitpunkt eintritt, in dem eine Beziehung des Leistungsberechtigten zum Rechtskreis des SGB III vorliegt. Dem schließt sich der Senat nach eigener Prüfung an. Für den Ausschluss des § 31 Abs. 2 Nr. 4 SGB II genügt damit, dass die Arbeitsaufgabe der Klägerin als sanktionsbewehrtes Verhalten vom Tatbestand des § 31 Abs. 1 Nr. 2 SGB II erfasst wird (so auch Lauterbach in Gagel, SGB II/SGB III, Stand 03/2018, § 31 Rn 71; Burkiczak in BeckOK SozR/SGB II, Stand 03/2018, § 31 Rn 35). Ergänzend wird insofern auch auf die Ausführungen des SG hierzu Bezug genommen und von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe abgesehen (§ 153 Abs. 2 SGG).
Nach alledem kann dahinstehen, ob der Sanktionszeitraum Juni bis August 2016 zutreffend ist. Der Beklagte hat seine Entscheidung im Bescheid vom 23.05.2016 zunächst auf § 31 Abs. 1 Nr. 2 SGB II und später im Widerspruchsbescheid vom 19.07.2016 auf § 31 Abs. 2 Nr. 4 SGB II gestützt. Sollte damit im Widerspruchsbescheid nicht nur ein (unschädlicher) Austausch der Rechtsgrundlagen, sondern eine erstmalige Feststellung einer Pflichtverletzung nunmehr nach § 31 Abs. 2 Nr. 4 SGB II gesehen werden, so wäre unter Berücksichtigung des Eintritts der Minderung im Folgemonat nach Wirksamwerden des Verwaltungsaktes, der die Pflichtverletzung feststellt (§ 31b Abs. 1 Satz 1 SGB II), eine teilweise Aufhebung der Leistungsbewilligung für Juni und Juli 2016 schon deshalb nicht möglich.
Mangels des Eintritts einer Minderung des Alg II der Klägerin für die Monate Juni bis August 2016 stehen ihr für diesen Zeitraum monatlich weitere 109,20 € zu.
Die Berufung des Beklagten hat nach alledem keinen Erfolg war daher zurückzuweisen. Auf die Anschlussberufung der Klägerin war der Beklagte auch zur Zahlung von weiterem Alg II iHv 109,20 € für August 2016 zu verurteilen. Unter Berücksichtigung des Umstandes der endgültigen Festsetzungen des Alg II mit den Bescheiden vom 24.08.2016 (Juni und Juli 2016) und 18.01.2018 (August 2016) waren diese entsprechend abzuändern.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.