Sozialrecht

Rechtsweg für Angelegenheiten der Grundsicherung für Arbeitssuchende

Aktenzeichen  M 31 K 20.4449

Datum:
9.10.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 29654
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
GVG § 17a Abs. 2 S. 1, § 17b
SGG § 51 Abs. 1 Nr. 4a
VwGO § 40

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Verwaltungsrechtsweg ist unzulässig.
II. Der Rechtsstreit wird an das Sozialgericht München verwiesen.
III. Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorbehalten.

Gründe

I.
Die Klägerin wendet sich gegen den Widerrufs- und Erstattungsbescheid des Jobcenters … … … vom 23. Juni 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom … August 2020, mit dem der mit Bescheid vom … März 2017 bewilligte Lohnkostenzuschuss ganz widerrufen (Nr. 1) und die Erstattung der bisher gezahlten Zuwendung in Höhe von 36.322,42 € angeordnet wird (Nr. 2). Mit dem Zuwendungsbescheid vom … März 2017 wurde der Klägerin auf der Basis des ESF-Bundesprogramms zur Eingliederung langzeitarbeitsloser Leistungsberechtigter nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt (Intensivförderung) im Bewilligungszeitraum (15.5.2017 bis 14.5.2020) ein Lohnkostenzuschuss als nicht rückzahlbare Zuwendung bewilligt.
Mit der am 16. September 2020 beim Verwaltungsgericht München eingegangenen Klage (Schriftsatz vom 14. September 2020) begehrt die Klägerin
die Aufhebung des Widerrufs und Erstattungsbescheids des Beklagten vom … Juni 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom … August 2020.
Mit Schreiben vom 23. September 2020 hat das Gericht die Beteiligten zur beabsichtigten Verweisung des Rechtsstreits an das zuständige Sozialgericht München angehört. Diese haben sich hierzu mit Schreiben vom 28. bzw. 30. September 2020 geäußert.
Zu den weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte Bezug genommen.
II.
Der Rechtsstreit ist nach § 17a Abs. 2 Satz 1 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) nach Anhörung der Beteiligten von Amts wegen an das sachlich und örtlich zuständige Sozialgericht München (§§ 8, 57 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG -, Art. 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Gesetz zur Ausführung des Sozialgerichtsgesetzes in Bayern – AGSGG -) zu verweisen, da der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten (§ 40 VwGO) nicht eröffnet ist.
Der Rechtsweg zu den Sozialgerichten ergibt sich für das Klagebegehren aus § 51 Abs. 1 Nr. 4a SGG. Danach entscheiden die Sozialgerichte in Angelegenheiten der Grundsicherung für Arbeitssuchende. Diese Vorschrift ist trotz ihres Charakters als Ausnahmevorschrift zu § 40 VwGO weit auszulegen, um die gesetzgeberische Absicht einer Konzentration sozialrechtlicher Sachen bei speziellen Gerichten – d.h. den Sozialgerichten – zu erreichen (VG Ansbach, B.v.10.4.2007 – AN 14 K 07.504 – juris Rn. 2; VG Lüneburg, B.v. 29.11.2006 – 4 A 385/06 – juris). Erfasst sind zunächst all diejenigen Rechtsstreitigkeiten, bei denen die vom Kläger hergeleitete Rechtsfolge ihre Grundlage im SGB II haben kann.
Die Auslegung des Tatbestandsmerkmals „Angelegenheiten der Grundsicherung für Arbeitsuchende“ ist in den übrigen Fällen, in denen die Beteiligten nicht unmittelbar um Rechtsfolgen aus der Anwendung von Normen des SGB II streiten, daran auszurichten, dass eine sach- und interessengerechte Abgrenzung zwischen der Rechtswegzuständigkeit der Sozialgerichte und der Verwaltungsgerichte hergestellt wird. Weder das Tatbestandsmerkmal „ausdrücklich“ in § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO noch ein insbesondere aus der dortigen Formulierung „alle öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten“ hergeleiteter (vermeintlicher) Vorrang der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit zwingen zu einer engen Auslegung des Begriffs der „Angelegenheiten der Grundsicherung für Arbeitsuchende“. In der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes ist anerkannt, dass es genügt, wenn eine Zuweisung zwar nicht unmittelbar ausgesprochen ist, sich der dahinterstehende Wille des Gesetzes jedoch aus dem Gesamtgehalt der Regelung und dem Sachzusammenhang in Verbindung mit der Sachnähe eindeutig und logisch zwingend ergibt (BSG, B.v. 1.4.2009 – B 14 SF 1/08 R – juris Rn. 15 unter Hinweis auf BVerwG, B.v. 15.5.1986 – 4 B 92/86 – NJW 1986, 2845; GmSOGB, B.v. 15.3.1971 – GmS-OGB 1/70 – juris).
Der Beurteilung ist vorliegend also eine tendenziell weite Auslegung des Begriffs der „Angelegenheiten der Grundsicherung für Arbeitssuchende“ zugrunde zu legen, orientiert an einer sach- und interessengerechten Abgrenzung zwischen den Rechtswegzuständigkeiten der Sozial- und Verwaltungsgerichte. Soweit es sich um Maßnahmen handelt, die – wie vorliegend – keine unmittelbare normative Grundlage im SGB II haben, ist danach zu fragen, ob die Maßnahme in engem sachlichem Zusammenhang zur Verwaltungstätigkeit der Behörden nach dem SGB II steht (BSG, B.v. 1.4.2009 a.a.O.; U.v. 15.12.2009 – B 1 AS 1/08 KL – juris Rn. 20).
Eine solche Sachnähe prägt auch die zwischen den Beteiligten streitige Maßnahme. Die der Klägerin zunächst bewilligte und mit dem streitgegenständlichen Bescheid zurückgeforderte Zuwendung hat ihre Grundlage in der Förderrichtlinie zum ESF-Bundesprogramm zur Eingliederung langzeitarbeitsloser Leistungsberechtigter nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vom 25. Januar 2017. Für die Gewährung des Lohnkostenzuschusses an Arbeitgeber sind die teilnehmenden Jobcenter (§ 6d SGB II) zuständig (vgl. Nr. 2.2.5 und Nr. 4 der Förderrichtlinie). Auch wenn es sich – wie der Beklagte in seiner Stellungnahme vom 30. September 2020 zunächst zutreffend ausgeführt – bei diesem Lohnkostenzuschuss um keine Leistungen nach dem SGB I bzw. SGB II handelt und gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 SGB X das dortige Verfahrensrecht nicht zur Anwendung kommt, ergibt sich der enge sachliche Zusammenhang zwischen dem auf der Grundlage des Europäischen Sozialfonds durch das ESF-Bundesprogramm für Langzeitarbeitslose vorgesehenen Lohnkostenzuschuss zu dem in § 51 Abs. 1 Nr.4a SGG aufgeführten Angelegenheiten der Grundsicherung für Arbeitssuchende im Vollzug des SGB II gleichwohl aus folgenden Erwägungen:
Zum einen besteht ein Konkurrenzverhältnis zwischen der streitgegenständlichen Förderung durch einen Lohnkostenzuschuss nach dem ESF-Bundesprogramm für Langzeitarbeitslose einerseits sowie entsprechenden Leistungen nach dem SGB II andererseits. So ist in Nr. 5.2 der Förderrichtlinie des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zum ESF-Bundesprogramm u.a. statuiert, dass Maßnahmen nach dieser Richtlinie nur gefördert werden können, wenn sichergestellt ist, dass zeitgleich für den einzelnen Teilnehmer keine Förderung aus Leistungen gemäß den §§ 16e, 16f und 16 SGB II erfolgt. In § 16e SGB II ist die Förderung durch Zuschüsse zum Arbeitsentgelt für Arbeitgeber, die Leistungsberechtigte beschäftigen, die trotz vermittlerischer Unterstützung seit mindestens zwei Jahren arbeitslos sind, gesetzlich geregelt. Die im SGB II geregelte Grundsicherung für Arbeitssuchende (vgl. § 51 Abs. 1 Nr. 4a SGG) sieht also ebenso wie die Förderrichtlinie zum ESF-Bundesprogramm zur Eingliederung langzeitarbeitsloser Leistungsberechtigter einen Zuschuss zum Arbeitsentgelt für Arbeitgeber vor, die solche Leistungsberechtigte beschäftigen.
Schließlich spricht auch das besondere strukturelle Näheverhältnis der beiden vorgenannten Maßnahmen zur Förderung der Eingliederung Langzeitarbeitsloser dafür, einen engen sachlichem Zusammenhang zur Verwaltungstätigkeit der Jobcenter nach dem SGB II anzunehmen. Dieses Näheverhältnis ergibt sich explizit aus der Begründung zum Gesetzentwurf eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Schaffung neuer Teilhabechancen für Langzeitarbeitslose auf dem allgemeinen und sozialen Arbeitsmarkt (Teilhabechancengesetz – 10. SGB II-ÄndG), dessen erklärtes Ziel es war, u.a. § 16e SGB II (Eingliederung von Langzeitarbeitslosen) weiterzuentwickeln (BT-Drs. 19/4725 vom 4.10.2018). Nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers sollte der in § 16e SGB II bereits vorgesehene Lohnkostenzuschuss, aufbauend auf den bisherigen Erfahrungen mit dem ESF-Bundesprogramm zum Abbau von Langzeitarbeitslosigkeit, fortentwickelt und ein neuer, für die Verwaltung möglichst einfach zu handhabender erhöhter Lohnkostenzuschuss, unterstützt durch ein flankierendes Angebot einer ganzheitlichen beschäftigungsbegleitenden Betreuung, eingeführt werden (BT-Drs. 19/4725, S. 10). Unter Aufgreifen der Erfahrungen aus dem ESF-Bundesprogramm sollte die vorgesehene Ausgestaltung in der Neufassung des § 16e SGB II ein bewerberorientiertes Vorgehen der Jobcenter und insbesondere die gezielte Stellenakquise in der direkten Arbeitgeberansprache unterstützen (aaO, S. 14).
Der enge sachliche Zusammenhang fußt also zum einen darauf, dass sowohl für die Lohnkostenzuschüsse auf der Grundlage des SGB II als auch für solche auf Grundlage der Förderrichtlinie zum ESF-Bundesprogramm die Jobcenter zuständig sind (§ 6d SGB II bzw. Nr. 2.2.5 und Nr. 4 der Förderrichtlinie) und zwischen diesen Zuschussgewährungen ein exklusives Konkurrenzverhältnis besteht. Zum anderen sind die Verfahren historisch-strukturell in ihrer Entwicklung eng verzahnt, sodass auch dies ein besonderes Näheverhältnis begründet. Jedenfalls in der Zusammenschau ist mithin der Anwendungsbereich des die Zuständigkeit der Sozialgerichte eröffnende Tatbestand des § 51 Abs. 1 Nr. 4a SGG erfüllt.
Demgegenüber vermögen die Ausführungen des Beklagten zu den unterschiedlichen Rechtsgrundlagen (einerseits SGB II sowie andererseits die ESF-Förderrichtlinie in Verbindung mit §§ 23, 44 BHO und den zugrundeliegenden VOen (EU) Nr. 1303/2013 und Nr. 1304/2013) diesen sachlichen Zusammenhang nicht zu widerlegen. Alleine die Tatsache, dass unterschiedliche Grundlagen für die Förderung Langzeitarbeitsloser bestehen, ist im Lichte des vorstehend Ausgeführten nicht dazu geeignet, den engen sachlichen Zusammenhang der Förderung Langzeitarbeitsloser auf der Grundlage des ESF-Bundesprogramms mit der ausdrücklich im SGB II geregelten Eingliederung von Langzeitarbeitslosen zu durchbrechen oder auch nur zu relativieren. Das vorstehend dargestellte Konkurrenzverhältnis zwischen Zuschüssen nach dem ESF-Bundesprogramm und solchen nach § 16e SGB II spricht mit Blick auf die Abgrenzbarkeit beider Leistungen voneinander gerade nicht – wie der Beklagte meint – für eine daran anknüpfende Zuständigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit, sondern vielmehr für deren Vergleichbarkeit und damit ihren engen sachlichen Zusammenhang mit der Folge der Anwendbarkeit von § 51 Abs. 1 Nr. 4a SGG. Durch den in Nr. 5.2 der Förderrichtlinie enthaltenen Ausschluss einer Doppelförderung sowohl nach dem ESF-Bundesprogramm als auch nach § 16e SGB II kommt gerade zum Ausdruck, dass beide Maßnahmen die Eingliederung Langzeitarbeitsloser bezwecken und damit ein eng verwandtes, der Grundsicherung für Arbeitssuchende dienendes Förderinstrument zum Gegenstand haben. Insoweit kommt den Jobcentern eine besondere (Doppel-) Funktion einerseits im Vollzug des SGB II und andererseits im Vollzug der Förderrichtlinien zum ESF-Bundesprogramm zu. Die den Jobcentern einheitlich vom Gesetz- und Richtliniengeber zugewiesenen Fördermaßnahmen bedingen sich, gerade mit Blick auf ihr Exklusivitätsverhältnis, inhaltlich wie auch historisch-strukturell, sodass sich die Verfahren zu einer eindeutig und logisch nicht in sinnvoller Weise trennbaren einheitlichen sozialrechtlichen Materie im Sinne einer Angelegenheit der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach § 51 Abs. 1 Nr. 4a SGG verzahnen.
Nach alledem war die Unzulässigkeit des beschrittenen Verwaltungsrechtsweges auszusprechen und die Streitsache nach Anhörung der Beteiligten an das örtlich und sachlich zuständige Sozialgericht München zu verweisen (§ 17a Abs. 2 Satz 1 GVG).
Eine Kostenentscheidung ist vorliegend nicht veranlasst, da die Kosten des Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht nach § 17b Abs. 2 Satz 1 GVG als Teil der Kosten behandelt werden, die bei dem Gericht erwachsen, an das der Rechtsstreit verwiesen wird.


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