Sozialrecht

(Rentenüberführung – Korrektur eines Überführungsbescheides – Arbeitsentgeltbegriff iS von § 6 Abs 1 S 1 AAÜG – vollumfängliche Ermittlung durch die Tatsachengerichte – notwendige Begleiterscheinung betriebsfunktionaler Zielsetzungen)

Aktenzeichen  B 5 RS 1/14 R

Datum:
30.10.2014
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
BSG
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BSG:2014:301014UB5RS114R0
Normen:
§ 5 AAÜG
§ 6 Abs 1 S 1 AAÜG
§ 8 Abs 2 AAÜG
§ 8 Abs 3 S 1 AAÜG
§ 8 Abs 3 S 2 AAÜG
§ 8 Abs 4 Nr 2 AAÜG
Anl 2 Nr 2 AAÜG
§ 11 S 1 SGB 1
§ 14 SGB 4
§ 17 SGB 4
§ 256a Abs 2 SGB 6
§ 39 Abs 2 SGB 10
§ 44 Abs 1 SGB 10
§ 44 Abs 2 SGB 10
§ 1 ArEV vom 12.12.1989
§ 3 Nr 4 Buchst c EStG
§ 103 SGG
§ 170 Abs 2 SGG
Spruchkörper:
5. Senat

Verfahrensgang

vorgehend SG Dresden, 25. Februar 2011, Az: S 42 RS 2179/09, Urteilvorgehend Sächsisches Landessozialgericht, 2. Dezember 2013, Az: L 4 RS 204/11, Urteilnachgehend Sächsisches Landessozialgericht, 23. Januar 2018, Az: L 4 RS 226/15 ZVW, Urteil

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 2. Dezember 2013 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1
Die Beteiligten streiten im Überprüfungsverfahren darüber, ob der Beklagte die bisherige Höchstwertfestsetzung von Arbeitsentgelten, die der Kläger während seiner Zugehörigkeit zum Sonderversorgungssystem der Angehörigen der Deutschen Volkspolizei, der Organe der Feuerwehr und des Strafvollzugs (Sonderversorgungssystem Nr 2 der Anl 2 zum AAÜG) tatsächlich erzielt hat, im sog Überführungsbescheid nach § 8 AAÜG zurücknehmen und zusätzlich Verpflegungsgeld als weiteres Arbeitsentgelt feststellen muss.
2
Der 1938 geborene Kläger stand vom 15.3.1957 bis zum 30.9.1990 im Dienst der Deutschen Volkspolizei der DDR und erhielt von 1960 bis 1990 Verpflegungsgeld in unterschiedlicher Höhe (vgl Tenor des erstinstanzlichen Urteils vom 25.2.2011). Seit dem 1.10.1998 bezieht er Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeitarbeit (Rentenbescheid der BfA vom 14.10.1998).
3
Der Beklagte stellte die Zeiten vom 15.3.1960 bis 31.8.1979 und vom 5.7.1980 bis 31.12.1991 als Zeiten der Zugehörigkeit zum Sonderversorgungssystem Nr 2 der Anl 2 zum AAÜG sowie die bis zum 30.9.1990 dabei erzielten Jahresbruttoarbeitsentgelte fest, ohne das gezahlte Verpflegungsgeld zu berücksichtigen (Überführungsbescheid vom 22.9.1997). Unter dem 21.3.2009 beantragte der Kläger, die bisherigen Feststellungen zur Höhe des Arbeitsentgelts zu überprüfen. Der Beklagte berücksichtigte daraufhin Arbeitsentgelte bis zum 2.9.1979, lehnte es aber im Übrigen ab, die Feststellungen im Überführungsbescheid zurückzunehmen sowie Verpflegungsgeld als weiteres Arbeitsentgelt festzustellen (Bescheid vom 18.6.2009 und Widerspruchsbescheid vom 1.12.2009).
4
Das SG Dresden hat diese Bescheide aufgehoben, soweit der Überprüfungsantrag abgelehnt worden war und den Beklagten verpflichtet, “in Abänderung der Bescheide vom 22.9.1997 und 18.6.2009 zusätzliche Arbeitsentgelte … festzustellen”, und zwar Verpflegungsgeld für die Zeit vom 1.5.1960 bis 30.9.1990 in bezifferter Höhe (Urteil vom 25.2.2011). Das Sächsische LSG hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 2.12.2013): Der Beklagte sei nach § 44 Abs 1 S 1 iVm Abs 2 S 1 SGB X verpflichtet, den Überführungsbescheid teilweise zurückzunehmen und gezahltes Verpflegungsgeld als weiteres Arbeitsentgelt festzustellen. Der Begriff des “Arbeitsentgelts” iS von § 6 Abs 1 S 1 AAÜG bestimme sich nach § 14 SGB IV, wie das BSG bereits mehrfach entschieden habe. Aus der Besoldungsordnung Nr 27/89 des Ministers des Innern (MdI) und Chefs der Deutschen Volkspolizei vom 2.3.1989 folge, dass das Verpflegungsgeld eine Einnahme aus dem Dienstverhältnis und damit Arbeitsentgelt iS von § 14 SGB IV sei. Darauf habe vom Beginn des Dienstverhältnisses bis zum Entlassungstag ein “Anspruch” bestanden, wobei das Verpflegungsgeld nach der Verpflegungsordnung Nr 18/87 des MdI und Chefs der Deutschen Volkspolizei vom 21.11.1986 in Höhe eines monatlich konstanten Durchschnittsbetrags gewährt worden sei. Verpflegungsgelder seien – als Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit – nach dem einschlägigen Bundesrecht am 1.8.1991 auch lohnsteuerpflichtig gewesen und keinesfalls – als “notwendige Begleiterscheinung betriebsfunktionierender Zielsetzung” – ganz überwiegend aus eigenbetrieblichen Interessen gewährt worden. Ferner sei das Verpflegungsgeld auch nicht nach § 3 Nr 4 Buchst c) EStG steuerfrei gewesen, weil diese Vorschrift nur Zuschüsse “im Einsatz” erfasse. Schließlich sei auch nicht ersichtlich, dass es sich bei dem Verpflegungsgeld um eine steuerfreie Aufwandsentschädigung oder um Zehrgeld gehandelt haben könnte. Denn es habe in erster Linie der eigenen Unterhaltssicherung gedient und keine Verpflegungsmehraufwendungen abgegolten.
5
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Beklagte die Verletzung der §§ 6 und 8 AAÜG: Es sei wenig sachgerecht, die Auslegung des Arbeitsentgeltbegriffs in § 6 Abs 1 AAÜG ausschließlich an § 14 SGB IV auszurichten. Vielmehr sei der Rechtscharakter von Einnahmen in der DDR unter Berücksichtigung der systemimmanenten Besonderheiten der geleisteten Zahlungen zu bestimmen und folglich mittelbar auf Rechtsvorschriften der DDR zurückzugreifen, wie aus der Rechtsprechung des BSG, dem Einigungsvertrag sowie dem Sinn und Zweck des AAÜG abzuleiten sei. Das Verpflegungsgeld habe keinen Lohncharakter gehabt und sei nicht als Gegenleistung für erbrachte Arbeitsleistungen gezahlt worden, wie aus der Verpflegungsordnung Nr 18/87 und der Besoldungsordnung Nr 27/89 folge. Es sei sozialpolitisch motiviert gewesen, wie sich aus § 228 des Arbeitsgesetzbuches der DDR ergebe, und habe vorrangig im eigenbetrieblichen Interesse des staatlichen Arbeitgebers gestanden, um einen jederzeit einsatzbereiten und uneingeschränkt funktionsfähigen Staatsapparat sicherzustellen. Zudem sei das Verpflegungsgeld nach der Rechtswirklichkeit in der DDR weder rentenwirksam noch im Zuflusszeitpunkt lohnsteuerpflichtig gewesen. Eine unmittelbare Rückanknüpfung an das am 1.8.1991 geltende bundesdeutsche Steuerrecht – wie es das LSG praktiziere – sei unpassend und unpraktikabel, weil die einschlägigen Bestimmungen des Bundesrechts DDR-Sachverhalte weder regeln könnten noch wollten. Andernfalls sei auf Dienstkräfte, die eine Vollverpflegung als Sachleistung erhalten hätten, die Verordnung über den Wert der Sachbezüge in der Sozialversicherung für das Kalenderjahr 1991 in dem in Art 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet vom 17.12.1990 (SachBezV-BG-1991) anzuwenden, was zu Werten führen würde, die zum tatsächlich gewährten Verpflegungsgeld in einem krassen Missverhältnis stünden. Eine finanzielle Besserstellung der Angehörigen von Sonderversorgungssystemen widerspreche aber dem Willen des Gesetzgebers.
6
Der Beklagte, der im Verhandlungstermin nicht vertreten war, beantragt schriftsätzlich,
        
das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 2. Dezember 2013 und das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 25. Februar 2011 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
7
Der Kläger, der der angefochtenen Entscheidung beipflichtet, beantragt,
        
die Revision zurückzuweisen.
8
Verpflegungsgeld sei Arbeitsentgelt iS des einschlägigen § 14 Abs 1 S 1 SGB IV, weil es als laufende, monatliche Einnahme aus der Beschäftigung vom Einstellungs- bis zum Entlassungstag gezahlt worden und mit dieser untrennbar verknüpft sei, wie sich unmittelbar aus der Besoldungsordnung Nr 27/89 des MdI ergebe. Danach sei Verpflegungsgeld auch bei Urlaub und Krankheit weitergezahlt und nur in Fällen der Urlaubsabgeltung sowie bei unbezahlter Freistellung vom Dienst ausgespart worden. Für einen Zusammenhang mit dem Dienstverhältnis spreche auch, dass das Verpflegungsgeld nur gezahlt worden sei, wenn der Angehörige nicht an der Vollverpflegung teilgenommen habe. Es habe auch im Gegenseitigkeitsverhältnis zur Beschäftigung gestanden, weil das Dienstverhältnis nicht hinweggedacht werden könne, ohne dass die Einnahme beim Arbeitnehmer entfalle. Dass es sich dabei keinesfalls um Sozialleistungen gehandelt habe, sei aus dem Urteil des BSG vom 29.1.2004 (B 4 RA 19/03 R – SozR 4-8570 § 8 Nr 1) zum Sperrzonenzuschlag abzuleiten. Die Einordnung als Arbeitsentgelt entfalle auch nicht deshalb, weil damit zugleich ein ideelles oder soziales Ziel verfolgt worden sei. Das Motiv für die Arbeitgeberzahlung sei ohne Bedeutung, sodass dem Grunde nach Unterstützungsleistungen des Arbeitgebers aus sozialen Gründen eine Form von Arbeitsentgelt darstellten. Lediglich echte Sozialleistungen, wie das Krankengeld der DDR, seien hiervon ausgenommen. Verpflegungsgeld habe auch nicht als Zehrgeld iS einer Aufwandsentschädigung gedient, sondern sei über Jahrzehnte hinweg regelmäßig gezahlt worden. Für seine Einordnung als Arbeitsentgelt sei irrelevant, ob es “neben” oder “zusätzlich” zur Besoldung gewährt worden sei. Auch die mangelnde Rentenwirksamkeit dieser Zahlungen nach DDR-Recht stehe dem Arbeitsentgeltcharakter nicht entgegen. Schließlich sei Verpflegungsgeld auch nicht nach § 3 Nr 4 Buchst c) EStG (lohn-)steuerfrei gewesen, weil diese Vorschrift nur Zuschüsse “im Einsatz” erfasse, das Verpflegungsgeld jedoch generell gewährt worden sei. Wenn aber schon die unentgeltliche bzw verbilligte Gewährung von Verpflegung eines Soldaten oder Polizeianwärters im Rahmen der Gemeinschaftsverpflegung keine steuerfreie, sondern regelmäßig mangels einer Steuerbefreiungsnorm eine steuerbare und steuerpflichtige Einnahme sei, so könne dies für das Verpflegungsgeld, unabhängig davon, ob es als originäre Barleistung oder als Substitution für eine Sachleistung erbracht werde, nicht anders sein. Abschließend sei darauf hinzuweisen, dass das Bundesministerium für Finanzen das im üblichen Dienstbetrieb gezahlte Verpflegungsgeld dem Lohnsteuerabzug unterworfen habe.


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