Sozialrecht

Schädigungsfolgen, Vergleichseinkommen, besondere berufliche Betroffenheit

Aktenzeichen  L 15 VH 2/14

Datum:
16.10.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
CELEX – , 62017CC0712
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
BVG § 30
BVG § 60
HHG § 4
RehabG § 3
SGB X § 44
SGB X § 48
SGG § 96
StrRehaG § 21

 

Leitsatz

1. § 60 Abs. 1 BVG regelt den Beginn der Leistungen der Beschädigtenversorgung nur beim Erstantrag. (Fortsetzung der Rspr. des Senats v. 27.06.2017 – L 15 VG 16/11)
2. § 60 Abs. 2 BVG enthält hinsichtlich des Leistungsbeginns eine abweichende spezial-gesetzliche Regelung nur zu § 48 SGB X.
3. Die Behörde ist mit Blick auf § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X nicht verpflichtet, den Aktenbestand auf Fehler durchzuforsten. Die Unterlassung einer an sich gebotenen Fehlerkorrektur ist sanktionslos und verlängert nicht die Rückwirkung über § 44 Abs. 4 SGB X hinaus.
4. Zur Einstufung in die zutreffende Leistungsgruppe (hier: im Wirtschaftsbereich Produzierendes Gewerbe, Handel, Dienstleistungsgewerbe) gemäß der Bekanntmachung der Vergleichseinkommen für die Feststellung der Berufsschadens- und Schadensausgleiche nach dem BVG für die Zeit vom 01.07.2009 gem. BMAS-Schreiben vom 19.06.2009 (AZ: IV c 2-61080/27) im Rahmen der Berechnung des Einkommensverlusts gem. § 30 Abs. 4 Satz 1 BVG a.F.

Verfahrensgang

S 15 VH 1/13 2014-09-22 Urt SGLANDSHUT SG Landshut

Tenor

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 22. September 2014 wird zurückgewiesen. Die Klage gegen den Bescheid vom 5. Dezember 2017 wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die Berufung ist zulässig, aber unbegründet.
Das Urteil des SG ist nicht zu beanstanden. Der Kläger hat weder einen Anspruch auf Leistungen bereits ab 01.01.1993 noch auf einen höheren BSA. Die angefochtenen Verwaltungsakte des Beklagten sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten.
Gegenstand des Verfahrens sind die Bescheide vom 17.06.2013 und 05.07.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12.11.2013 und der Bescheid vom 05.12.2017. Letzterer ist gem. § 96 SGG Gegenstand geworden.
1. Früherer Leistungsbeginn
Der Kläger hat keinen Anspruch auf höhere Versorgungsrente (GdS 40) und BSA bereits ab 01.01.1993.
a. Ein solcher Leistungsbeginn ergibt sich nicht, weil, wie die Klägerseite annimmt, der – umfassende – Antrag vom 24.01.1993 hinsichtlich des BSA noch nicht verbeschieden worden wäre; ein früherer Beginn der Versorgungsrente nach dem begehrten GdS lässt sich im Hinblick auf die ergangenen Entscheidungen (Bescheid vom 07.05.1993 bzw. 01.10.2001) mit einer solchen Argumentation ohnehin nicht begründen.
Denn im Bescheid vom 01.10.2001 hat der Beklagte auch entschieden, dass kein BSA zustehe.
aa. Zwar ist die Verwaltungsaktqualität von Ausführungsbescheiden umstritten. Das BSG misst einem ohne eigenen Entscheidungsspielraum lediglich eine (auf einem Vergleich basierende) Verpflichtung nachvollziehenden Ausführungsbescheid in der Regel keinen Regelungscharakter und damit keine Verwaltungsaktqualität im Sinne von § 31 SGB X zu (vgl. BSG vom 18.09.2003 – B 9 V 82/02 B). Eine Ausnahme soll dann gelten, wenn weitere Merkmale oder Leistungen in dem Ausführungsbescheid festgesetzt, also weitere Regelungen getroffen werden (vgl. BSG vom 06.05.2010 – B 13 R 16/09 R). So ist es vorliegend der Fall, da der Beklagte in dem Bescheid vom 01.10.2001 nicht nur lediglich den Vergleich nachvollzogen, sondern eben mit der Regelung zum BSA eine eigenständige Entscheidung getroffen hat. Zudem ist nach zutreffender Auffassung des LSG Baden-Württemberg (29.04.2014 – L 6 VK 934/12) eine Regelung im Sinne des § 31 SGB X auch darin zu sehen, dass der Ausführungsbescheid einen gerichtlichen Vergleich richtig umsetzt mit der Folge, dass jeder Ausführungsbescheid Regelungscharakter hat (so auch Schlegel/Voelzke, juris PK, SGB X, 2. Aufl. 2017, § 31, Rdnr. 56).
bb. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass – worauf der Kläger hingewiesen hat – der Bescheid den BSA explizit nur in den Gründen nennt, nicht jedoch im Verfügungssatz. Davon abgesehen, dass der Regelungscharakter eines Bescheids nicht an der lokalen Verortung in einem Textdokument festgemacht werden kann, sondern sich aufgrund materieller Überlegungen bestimmen lässt, ergibt sich vorliegend der Regelungswille des Beklagten ohne Weiteres daraus, dass der Bescheid im Verfügungssatz eine abschließende Aufzählung der dem Kläger zustehenden Leistungen enthält, so dass durch die Nichtnennung des BSA die Festlegung ersichtlich ist, dass ein solcher nicht zu gewähren ist. Dies folgt auch aus der ausdrücklichen Regelung in den Gründen.
cc. Zudem ist es auch treuwidrig, dass sich der Kläger erst viele Jahre nach dem Bescheid vom 01.10.2001 – auch im Antrag vom 09.02.2010 ist von einem BSA-Anspruch nicht die Rede (die Beantragung eines BSA wird entsprechend dem Vermerk vom 24.05.2011 nur fingiert) und im Widerspruch vom 14.12.2011 ist ein BSA erst ab 01.01.2006 verlangt worden – auf die unterbliebene Verbescheidung eines angeblichen (1993 ebenfalls nicht ausdrücklich gestellten) Antrags auf BSA berufen hat. Richtiger Rechtsbehelf wäre hier dann schon längst eine Untätigkeitsklage gewesen.
b. Ein Anspruch auf frühere Leistungen ergibt sich auch nicht daraus, weil der Beklagte mit Bescheiden vom 17.06.2013 und 05.07.2013 einen zu späten Leistungsbeginn festgesetzt hätte. Die genannten Bescheide in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12.11.2013 sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten.
(aa) Gegenstand des Gerichtsverfahrens sind wie oben erwähnt, wovon das SG zutreffend ausgegangen ist, die genannten Bescheide. Dagegen steht auch nicht, dass der Kläger den Bescheid vom 17.06.2013 jedenfalls nicht ausdrücklich angefochten hat. Denn der Widerspruch vom 02.08.2013 hat sich jedenfalls auch gegen den Bescheid vom 17.06.2013 gerichtet, auch wenn dieser nicht genannt wurde. Vor allem hat der Beklagte (auch trotz Verfristung des Widerspruchs) über den Bescheid vom 17.06.2013 im Widerspruchsbescheid eine Regelung getroffen: Nach der aus der maßgeblichen Sicht des Klägers (Empfängerhorizont) anzunehmenden Regelung hat der Beklagte im Widerspruchsbescheid über den Widerspruch entschieden, nämlich diesen Bescheid bestätigt.
Zudem trifft auch der Bescheid vom 05.07.2013 eine eigenständige Regelung über den Beginn der Versorgung des Klägers.
(bb) Ein Anspruch auf höhere Versorgungsrente (GdS 40) und BSA bereits ab 01.01.1993 folgt auch nicht etwa daraus, dass die Voraussetzungen des Verlängerungstatbestands des § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG gegeben wären.
Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 BVG beginnen die Leistungen der Beschädigtenversorgung mit dem Antragsmonat, wenn die sonstigen materiell-rechtlichen Voraussetzungen, insbesondere das Vorliegen einer Schädigung und der Eintritt der Schädigungsfolgen, erfüllt sind. Der Antrag ist im sozialen Entschädigungsrecht materiell-rechtliche Voraussetzung des Anspruchs auf Leistungen der Beschädigtenversorgung (§ 1 BVG). Nach Satz 2 der genannten Vorschrift erfolgt im Sinne eines Ausnahmetatbestands eine rückwirkende Leistungsgewährung, wenn der Antrag innerhalb eines Jahres nach Eintritt der Schädigung gestellt wird. Der Gesetzgeber wollte damit den Versorgungsberechtigten eine Überlegensfrist einräumen (vgl. Knörr, in: Knickrehm, Gesamtes soziales Entschädigungsrecht, 1. Aufl. 2012, § 60 BVG, Rdnr. 6). § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG verlängert als weiterer Ausnahmetatbestand den Zeitraum der rückwirkenden Leistungsgewährung bei unverschuldeter Verhinderung der Antragstellung.
Die Vorschrift ist vorliegend jedoch nicht einschlägig. § 60 Abs. 1 BVG regelt den Beginn der Leistungen der Beschädigtenversorgung nur beim Erstantrag (vgl. das Urteil des Senats vom 27.06.2017 – L 15 VG 16/11; Knörr, a.a.O., Rdnr. 3). Vorliegend handelt es sich jedoch gerade nicht um die erstmalige Antragstellung, sondern um einen – zugunsten des Klägers – „fingierten“ Überprüfungsantrag, wobei offen bleiben kann, welcher Antrag vor Februar 2010 als Erstantrag anzusehen ist.
(cc) Der oben genannte Anspruch ergibt sich auch nicht aus § 60 Abs. 2 BVG. Nach Abs. 2 der Vorschrift gilt Abs. 1 Satz 1 entsprechend, wenn eine höhere Leistung beantragt wird; war der Beschädigte ohne sein Verschulden an der Antragstellung verhindert, so beginnt die höhere Leistung mit dem Monat, von dem an die Verhinderung nachgewiesen ist, wenn der Antrag innerhalb von sechs Monaten nach Wegfall des Hinderungsgrunds gestellt wird. Auch diese Vorschrift ist jedoch nicht einschlägig, da sie hinsichtlich des Leistungsbeginns eine abweichende spezialgesetzliche Regelung (nur) zu § 48 SGB X enthält (vgl. Knörr, a.a.O., Rdnr. 10).
(dd) Maßgeblich ist somit § 44 SGB X. Nach § 44 Abs. 4 SGB X werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der Besonderen Teile des SGB, wozu auch das BVG zählt (§ 68 Nr. 7 f Sozialgesetzbuch Erstes Buch – SGB I), längstens bis zu einem Zeitraum von vier Jahren vor der Rücknahme erbracht. Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an angerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird. Erfolgt wie hier die Rücknahme auf („fingierten“) Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraums, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag.
Danach beginnt die Versorgung vorliegend nicht vor dem 01.01.2006. Daran ändert auch nichts der Vortrag, dass für den Beklagten – das Ausscheiden des Klägers aus dem Erwerbsleben kennend – eine Pflicht zum früheren Handeln, nämlich der Leistungsgewährung, bestanden hätte. Davon abgesehen, dass die positive Kenntnis des Beklagten in keiner Weise nachgewiesen ist, ist die Verwaltung auch nicht verpflichtet, den Aktenbestand auf Fehler durchzuforsten (vgl. § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X: „im Einzelfall“). Vor allem ist die Unterlassung einer an sich gebotenen Fehlerkorrektur sanktionslos und verlängert die Rückwirkung über Abs. 4 hinaus nicht (ausdrücklich z.B. Steinwedel, in: Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, 96. EL, 9/2017, § 44 SGB X, Rdnr. 24).
(ee) Schließlich besteht ein Anspruch auf höhere Versorgungsrente (GdS 40) und BSA bereits ab 01.01.1993 auch nicht aufgrund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs.
Der Kläger kann auch unter diesem Gesichtspunkt nicht so gestellt werden, als sei der Antrag auf einen höheren GdS und auf BSA früher gestellt worden.
Der von der Rechtsprechung entwickelte sozialrechtliche Herstellungsanspruch ist auf die Vornahme einer Amtshandlung zur Herstellung des Zustandes gerichtet, der bestehen würde, wenn der Leistungsträger die ihm aufgrund eines Gesetzes oder des konkreten Sozialrechtsverhältnisses gegenüber dem Berechtigten obliegenden Haupt- oder Nebenpflichten, insbesondere zur Auskunft und Beratung (§§ 14, 15 SGB I), ordnungsgemäß wahrgenommen hätte. Demnach ist eine dem Sozialleistungsträger zurechenbare behördliche Pflichtverletzung, die (als wesentliche Bedingung) kausal zu einem sozialrechtlichen Nachteil des Berechtigten geworden ist, Anspruchsvoraussetzung. Zudem ist erforderlich, dass durch Vornahme einer zulässigen Amtshandlung der Zustand hergestellt werden kann, der bestehen würde, wenn die Behörde ihre Verpflichtungen gegenüber dem Berechtigten nicht verletzt hätte (z.B. BSG, Urteil vom 16.03.2016 – B 9 V 6/15 R, m.w.N.). Nach der Rspr. des BSG (a.a.O.) schließt die Regelung des § 60 Abs. 1 BVG die Begründung eines früheren Leistungsbeginns im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs nicht aus, insbesondere wenn feststeht, dass eine Behörde pflichtwidrig eine gebotene Beratung über bestehende Antragsmöglichkeiten unterlassen hat.
Die Voraussetzungen für einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch liegen hier jedoch offensichtlich nicht vor. So fehlt es an einer nachgewiesenen Pflichtverletzung des Beklagten; der Kläger hat (in seiner Berufungsbegründung) lediglich vorgetragen, dass er sich „zu 100% sicher“ sei, dass er dem Sachbearbeiter Herrn F., von dem er sich im Übrigen stets gut betreut gefühlt habe, erzählt habe, dass er Erwerbsminderungsrente bekommen würde. Der Kläger hat aber nicht im Ansatz dargelegt, wann dies ungefähr gewesen sei (nur: „vor 2010“). Auch hat der Beklagte erst durch die nervenärztliche Stellungnahme von Dr. A. am 10.01.2011 festgestellt, dass bzgl. der bestehenden Rente der Gesetzlichen Rentenversicherung die anerkannten Schädigungsfolgen eine zumindest annähernd gleichwertige Bedingung für den Eintritt der Erwerbsminderung gewesen seien.
Vor allem aber ergäbe sich selbst bei einer unterstellten Pflichtverletzung kein Anspruch des Klägers für die Zeit vor dem Jahr 2006. Denn auch wenn ein Berechtigter Anspruch auf rückwirkende Leistungen aufgrund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs hat, werden diese nach der Rechtsprechung längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren rückwirkend erbracht, weil die Vorschrift von § 44 Abs. 4 SGB X insoweit entsprechend anzuwenden ist (vgl. z.B. Urteil des BSG vom 24.04.2014 – B 13 R 23/13 R; Urteil des Senats vom 27.06.2017, a.a.O.; Kreikebohm/von Koch, in: Sozialrechtshandbuch, 5. Aufl. 2012, § 6, Rdnr. 122 ff., m.w.N.). Ansprüche könnten somit allerlängstens bis 2006 zurückwirken, wenn man zugunsten des Klägers auch von der Geltendmachung des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs im Antrag vom 09.02.2010 ausgehen würde. Aus Sicht des Senats ist dieser Anspruch jedoch erstmals im Berufungsverfahren, nämlich erst im Jahr 2018 geltend gemacht worden.
2. Höherer BSA
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf einen höheren BSA.
Streitgegenstand des Verfahrens ist ausschließlich die Einstufung in die zutreffende Leistungsgruppe im Wirtschaftsbereich Produzierendes Gewerbe, Handel, Dienstleistungsgewerbe gemäß der Bekanntmachung der Vergleichseinkommen für die Feststellung der Berufsschadens- und Schadensausgleiche nach dem BVG für die Zeit vom 01.07.2009 gem. BMAS-Schreiben vom 19.06.2009 (AZ: IV c 2-61080/27) im Rahmen der Berechnung des Einkommensverlusts gem. § 30 Abs. 4 Satz 1 BVG a.F., d.h. der Ermittlung des Vergleichseinkommens gem. § 3 Abs. 1 BSchAV i.d.F. vom 29.06.1984, zuletzt geändert durch Art. 17 des Gesetzes zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts vom 13.12.2007 (BGBl. I 2904) (a.F.).
Der Kläger ist in die Leistungsgruppe 3 zutreffend eingestuft.
Berufsschadensausgleich erhalten nach § 30 Abs. 3 BVG rentenberechtigte Beschädigte, deren Einkommen aus gegenwärtiger oder früherer Tätigkeit durch die Schädigungsfolgen gemindert ist. Einkommensverlust – oder die „Einkommensminderung“ im Sinn von Absatz 3 – ist gem. §§ 30 Abs. 6 Satz 1, 10 BVG vorliegend der Nettobetrag des Vergleichseinkommens abzüglich des Nettoeinkommens aus gegenwärtiger oder früherer Erwerbstätigkeit. Letztlich verkörpert der Berufsschadensausgleich einen stark pauschalierten Kompensationsmodus, bei dem das tatsächlich erzielte Einkommen mit einem fiktiven, ohne die Schädigung bei typisierender Betrachtungsweise zu erreichenden Einkommen verglichen wird. Das Problem des hier vorliegenden Falls besteht ausschließlich in der Bestimmung des Einkommensverlustes, und zwar in der Bemessung des Vergleichseinkommens.
Zum Vergleichseinkommen bestimmt § 30 Abs. 5 Satz 1 BVG in der hier maßgebenden bis 30.06.2011 geltenden Fassung des Gesetzes zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts vom 13.12.2007 (a.a.O.) (a.F.), dass sich dieses nach näherer Ausgestaltung der Sätze 2 bis 6 aus dem monatlichen Durchschnittseinkommen der Berufs- oder Wirtschaftsgruppe errechnet, der der Beschädigte ohne die Schädigung nach seinen Lebensverhältnissen, Kenntnissen und Fähigkeiten und dem bisher betätigten Arbeits- und Ausbildungswillen wahrscheinlich angehört hätte. Dazu ergänzt § 30 Abs. 5 Satz 2 BVG a.F., dass zur Ermittlung des Durchschnittseinkommens die jeweils am 31. Dezember bekannten Werte der amtlichen Erhebungen des Statistischen Bundesamts für das Bundesgebiet und die beamten- oder tarifrechtlichen Besoldungs-, Vergütungs- oder Lohngruppen des Bundes aus den drei letzten der Anpassung vorangegangenen Kalenderjahren heranzuziehen sind (so genannte Vergleichsgrundlage, vgl. z.B. das Urteil des Senats vom 26.04.2012 – L 15 VS 2/06, m.w.N.). § 30 Abs. 5 Satz 1 und 2 BVG ist für den gesamten maßgebenden Zeitraum anwendbar. Das gilt, obwohl zum 01.07.2011 das Recht zur Ermittlung des Vergleichseinkommens grundlegend geändert worden ist. Jedoch bewirkt die Übergangsvorschrift des § 87 Abs. 1 Satz 1 BVG, dass für den Kläger das unmittelbar vor dieser Rechtsänderung maßgebende Vergleichseinkommen weiterhin Bemessungsgrundlage ist und nur dessen Anpassung von der tatsächlichen Entwicklung der Vergleichseinkommen abgekoppelt ist (vgl. dazu im Einzelnen Dau, in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 1. Aufl. 2012, § 87, Rdnr. 4). Auch für Leistungen des Berufsschadensausgleichs ab Juli 2011 kommt es daher beim Kläger auf die Taxierung des Vergleichseinkommens an, wie sie am 30.06.2011 festzustellen war.
Bei der Berechnung des BSA geht das Gesetz von dem Regelfall aus, dass ein rentenberechtigter Beschädigter ohne die Schädigungsfolgen in einem anderen Beruf gearbeitet und dort ein höheres Einkommen erzielt hätte, als er es aus tatsächlicher Erwerbstätigkeit in seinem jetzigen Beruf oder als Folgeeinkommen einer aufgegebenen früheren Tätigkeit (jeweils unter Hinzurechnung von Ausgleichsrente) erhält. Anspruch auf BSA besteht aber auch dann, wenn der Beschädigte ohne Berufswechsel in seinem bisherigen oder im angestrebten und erreichten Beruf wegen der Schädigung nicht das Einkommen erzielt, das er als Gesunder hätte (vgl. Dau, a.a.O., § 30, Rdnr. 27, m.w.N.).
Für die Kausalität zwischen den Schädigungsfolgen und der Berufsaufgabe bzw. der mangelnden Fähigkeit, einen sozial gleichwertigen Beruf auszuüben, gilt im sozialen Entschädigungsrecht die Theorie der wesentlichen Bedingung. Diese setzt zunächst einen naturwissenschaftlichen Ursachenzusammenhang zwischen der Freiheitsentziehung als schädigendem Vorgang und dem Gesundheitsschaden voraus sowie, dass die Freiheitsentziehung für den Gesundheitsschaden und dieser für die berufliche Beeinträchtigung wesentlich war. Denn als im Sinne des Sozialrechts ursächlich und rechtserheblich werden nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben (vgl. z.B. das Urteil des Senats vom 23.05.2017 – L 15 VU 1/13, m.w.N.). Gab es neben den Schädigungsfolgen noch konkurrierende Ursachen für die berufliche Beeinträchtigung, z.B. schädigungsfremde Gesundheitsstörungen, Insolvenz o.ä., so waren die Schädigungsfolgen wesentlich, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges im o.g. Sinn – verglichen mit den mehreren übrigen Umständen – annähernd gleichwertig waren. Das ist dann der Fall, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges mindestens so viel Gewicht hatten wie die übrigen Umstände zusammen (vgl. das Urteil des BSG zur Kausalität bzgl. der Schädigungsfolgen vom 16.12.2014 – B 9 V 6/13 R).
Für den o.g. Ursachenzusammenhang genügt der Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit. Wahrscheinlichkeit ist – auch im Sinne des BSA (und auch der besonderen beruflichen Betroffenheit) – zu bejahen, wenn mehr Gesichtspunkte für als gegen einen bestimmten Umstand – hier vor allem die behauptete berufliche Entwicklung – sprechen, so dass sich darauf die Überzeugung der Verwaltung oder des entscheidenden Gerichts gründen kann (BSG, a.a.O.). Es genügt nicht, dass ein Zusammenhang nicht ausgeschlossen werden kann oder nur möglich ist; auch die „gute Möglichkeit“ genügt nicht (BSG, Urteil vom 19.03.1986 – 9a RV 2/84).
Die Wahrscheinlichkeit erstreckt sich allerdings nicht auf die Beurteilung der zugrunde zu legenden Tatsachen. Diese müssen erwiesen sein (BSG, a.a.O.). Der hypothetische Berufsweg wird danach aufgrund festgestellter Tatsachen durch Wahrscheinlichkeitsüberlegungen als hypothetischer Berufsweg für den Fall, dass die Schädigung nicht stattgefunden hätte, prognostiziert (vgl. BSG, Urteil vom 08.08.1984 – 9a RV 43/83).
a. Ausgehend von diesen Grundsätzen steht aus Sicht des Senats nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit fest, dass der Kläger ohne die anerkannten haftbedingten Schädigungsfolgen in seinem erlernten Beruf als Glas- bzw. Bleikristalldekorveredler gearbeitet und dort ein höheres Einkommen erzielt hätte, als er es aus tatsächlicher Erwerbstätigkeit in seinem nach der Haft ausgeübten Beruf erhalten hat, bzw. dass bei der Ermittlung einer Einkommensminderung in irgendeiner Weise diese Tätigkeit zu unterstellen wäre.
Denn der Kläger hat sich bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt von seinem erlernten Beruf gelöst. Bereits vor der ersten Haft, nämlich, wie aus dem Sozialversicherungsausweis zweifelsfrei hervorgeht, bereits ab 1973/1974, hat der Kläger andere Tätigkeiten als die des Glasschleifers, Glasveredelers bzw. Bleikristalldekorveredlers ausgeübt. Der Kläger war damals bereits als Straßenbauarbeiter, Lager- und Transportarbeiter, Gerüstbauerhelfer und Sportstättenarbeiter tätig, worauf auch der Beklagte zu Recht hingewiesen hat. Dafür, dass die Eintragungen im Sozialversicherungsausweis unzutreffend sein könnten, gegebenenfalls gefälscht o.ä., bestehen keine Anhaltspunkte; die Klägerseite hat Derartiges auch nicht behauptet.
Soweit der Kläger im Berufungsverfahren vorgetragen hat, dass die späteren Tätigkeiten (auch vor der ersten Haft) lediglich aufgrund der Repressalien des DDR-Regimes ausgeführt worden seien, kann er damit nicht durchdringen. Denn – auch hierauf hat der Beklagte in der mündlichen Verhandlung des Senats hingewiesen – diese Umstände können in dem vorliegenden Verfahren nicht berücksichtigt werden. Abzustellen ist vielmehr ausschließlich auf den konkreten Rehabilitierungsgrund, vorliegend die Haft. Wie der Senat bereits zum Verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsgesetz aufgezeigt hat (Urteil vom 19.11.2014 – L 15 VU 1/10) kommt eine Erweiterung des Rehabilitierungsgrundes nicht in Betracht. Inwieweit in diesem Zusammenhang Ansprüche nach dem Beruflichen Rehabilitierungsgesetz bestehen, ist nicht Gegenstand des Verfahrens. Vor allem aber kann der Vortrag des Klägers den Senat auch nicht überzeugen, weil er in deutlichem Widerspruch zu früheren eigenen Angaben steht: Der Kläger hat gegenüber dem Gutachter Dr. V. (siehe oben) „mehrfach sehr vehement“ darauf hingewiesen, ab 1975 vom DDR-Regime „politisch verfolgt“ worden zu sein (S. 7 des Gutachtens). Wie eben gezeigt, hat der Kläger jedoch bereits vorher nicht mehr in seinem erlernten Beruf gearbeitet.
Soweit der Beklagte bei der Berechnung des BSA dennoch den erlernten Beruf des Klägers zu Grunde gelegt hat und eine Einstufung des Klägers in die höchste Leistungsgruppe 1 (nach der bis 30.06.2009 geltenden Rechtslage) erfolgt ist, hat es damit wegen des im vorliegenden Rechtsstreit geltenden Verbots der reformatio in peius sein Bewenden. Zu einer für den Kläger noch günstigeren Regelung führt jedoch bei weitem kein Weg.
b. Selbst wenn aber der erlernte Beruf des Klägers als Glas- bzw. Bleikristalldekorveredeler maßgeblich wäre, wovon der Senat – wie eben ausführlich dargelegt – nicht ausgeht, bestünde für eine Höhergruppierung in die vom Kläger begehrte Leistungsgruppe 1 kein Raum.
Bei Zugrundelegung der beruflichen Tätigkeit des Klägers als Glasbzw. Bleikristalldekorveredler im Rahmen der Ermittlung des Vergleichseinkommens gem. § 3 Abs. 1 BSchAV a.F. erweist sich die Einstufung in die Leistungsgruppe 3 im Wirtschaftsbereich Produzierendes Gewerbe, Handel, Dienstleistungsgewerbe gemäß der Bekanntmachung der Vergleichseinkommen für die Feststellung der Berufsschadens- und Schadensausgleiche nach dem BVG für die Zeit vom 01.07.2009 gem. BMAS-Schreiben vom 19.06.2009 (s.o.) aufgrund der tatsächlichen Feststellungen als zutreffend.
* Die Leistungsgruppe 1 kommt bereits mangels einer (früheren) leitenden Stellung des Klägers mit Aufsichts- und Dispositionsfunktion in keiner Weise in Betracht. Eine solche ist vom Kläger zu keiner Zeit vorgetragen worden und ist auch nirgends ersichtlich.
* Unter die für den Kläger nächsthöhere Leistungsgruppe 2 fallen Arbeitnehmer mit sehr schwierigen bis komplexen oder vielgestaltigen Tätigkeiten, für die regelmäßig nicht nur eine abgeschlossene Berufsausbildung, sondern darüber hinaus mehrjährige Berufserfahrung und spezielle Fachkenntnisse erforderlich sind.
Der Kläger hat ein Facharbeiterzeugnis vorgelegt, demzufolge er den Beruf des Glasveredelers gelernt hat. Für den Vortrag des Klägers, die Qualität seiner Ausbildung entspreche dem heutigen Fachhochschulstudium im Rahmen von dualen Studiengängen, bestehen aus Sicht des Senats keinerlei Anhaltspunkte. Die Darlegungen der Klägerseite hinsichtlich des dualen Studiums sind nicht überzeugend. Zudem hat der Kläger die Tätigkeit des Glas- bzw. Bleikristalldekorveredelers – bezogen auf das gesamte Berufsleben – nicht lange ausgeübt. Auch wenn die Leistungen, die von ihm selbst hervorgehobenen „hervorragenden Kenntnisse in Theorie und Praxis“ und die „mit Bravour“ bestandene Prüfung zugunsten des Klägers unterstellt werden sollen, geht daraus noch nicht – und schon gar nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit – hervor, dass die Voraussetzungen für die Eingruppierung in die Leistungsgruppe 2 erfüllt wären, wie auch der Beklagte in seinem Schriftsatz vom 27.03.2018 nachvollziehbar dargelegt hat.
c. Schließlich folgt ein anderes Ergebnis auch nicht im Hinblick auf den Bescheid des Beklagten vom 05.12.2017.
Der Bescheid ist, wie oben bereits erwähnt, Gegenstand des Verfahrens geworden, § 96 SGG. Da er erst im Berufungsverfahren erlassen worden ist, entscheidet der Senat jedoch auf Klage, nicht auf Berufung (vgl. BSG vom 25.02.2010 – B 13 R 61/09 R; Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Ders., SGG, 12. Aufl. 2017, § 96, Rdnr. 7).
Der Bescheid begegnet inhaltlich keinen Bedenken. Er setzt lediglich die geltenden Vorschriften, nämlich in allererster Linie § 65 Abs. 7 Satz 2 BVG im Hinblick auf das Erreichen der Altersgrenze von 65 Jahren des Klägers um. Die Klägerseite hat – über die streitgegenständliche Einstufung des Klägers hinaus – auch keine inhaltlichen Rügen vorgebracht. Die Klage ist daher abzuweisen.
d. Ferner hat das SG zutreffend dargestellt, dass es keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass der Kläger ohne die Haft (mit seinem Abschluss der mittleren Reife) ein Studium hätte aufnehmen können. Dazu hätte er nämlich eine Hochschul- bzw. Fachhochschulreife benötigt. Insoweit ist denn auch nichts Näheres vorgetragen worden.
Im Übrigen ist dem Beklagten Recht zu geben, dass der Umstand, dass der Kläger ggf. zum Kreis der anerkannten Doping-Geschädigten der DDR gehört, in diesem Verfahren keine Rolle spielt. Ebenfalls gilt, dass die Hinderung durch Maßnahmen der DDR, den Beruf des Antiquitätenhändlers auszuüben etc., für die vorliegende Entscheidung nicht relevant ist. Wie das SG bereits zutreffend hervorgehoben hat, geht es vorliegend nicht um einen allgemeinen Unrechtsausgleich. Entschädigt werden nur die Folgen der rechtsstaatswidrigen Inhaftierungen, dagegen nicht die sonstigen Einschränkungen, die mit dem DDR-Regime verbunden gewesen sind (vgl. das Senatsurteil vom 19.11.2014 – L 15 VU 1/10).
Nach alledem ist die Berufung zurückzuweisen und die Klage gegen den Bescheid vom 05.12.2017 (s.o. Ziff. 2.c.) abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor (§ 160 Abs. 2 Rdnr. 1 und 2 SGG).


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