Sozialrecht

Schmerzensgeld und Verdienstausfall nach Unfall mit Trike

Aktenzeichen  41 O 15377/05

Datum:
2.5.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 152757
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
München I
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
BGB § 252, § 253, § 823 Abs. 1
ZPO § 287
StVO § 21a

 

Leitsatz

1 Das unterbliebene Anlegen eines Sicherheitsgurtes auf einem Trike im August 2002 rechtfertigt nicht die Annahme eines Mitverschuldens. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
2 Zögerliches oder kleinliches Regulierungsverhalten wirkt zwar schmerzensgelderhöhend, setzt aber ein vorwerfbares oder jedenfalls nicht nachvollziehbares Verhalten voraus, das sich in unangemessen niedrigen vorprozessualen Leistungen, unverständlich verzögerter Regulierung und/oder einem unvertretbaren (vor-)prozessualen Verhalten niederschlägt (vgl. OLG München BeckRS 2014, 06538). (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
3 Auch im Rahmen der Beweiserleichterungen nach § 252 BGB und § 287 ZPO muss ein Selbständiger die Tatsachen, die seine Gewinnerwartung wahrscheinlich machen, im Einzelnen darlegen und beweisen. Sind derartige Anknüpfungspunkte zwar dargetan, erscheinen sie aber nicht ausreichend, um den gesamten geltend gemachten Schaden durch Schätzung zu ermitteln, so ist ggf. ein Mindestschaden zu ermitteln. Völlig in der Luft hängen darf die Schadensschätzung aber auch insoweit nicht. (Rn. 37 – 41) (redaktioneller Leitsatz)
4 Der Umstand, dass sich der Geschädigte hinsichtlich des Verdienstausfallschadens in Beweisnot befindet, weil er die vom Sachverständigen angeforderten Geschäftsunterlagen 15 Jahre nach dem Unfall nicht mehr vorlegen kann, rechtfertigt keine weitere Darlegungs- und Beweiserleichterung. (Rn. 46) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger über den bisher gezahlten Betrag von 20.000 € hinaus ein Schmerzensgeld in Höhe von 25.000 € zuzüglich Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab 07.10.2005 zu bezahlen.
2. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger sämtliche künftig entstehende materiellen und immateriellen Schäden aus dem Unfall vom 02.08.2002 auf der Kreisstraße zwischen … und … zu bezahlen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen.
3. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
4. Von den Kosten des Rechtsstreits tragen der Kläger 80 % und die Beklagte 20 %.
5. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Beschluss
Der Streitwert wird auf 225.000 € festgesetzt.

Gründe

Die Klage ist nur teilweise begründet. Der Schmerzensgeldlklage (Nr. 1) und dem Feststellungsantrag (Nr. 3) war stattzugeben, während die zulässige Klage auf Erstattung des Verdienstausfallschadens (Nr. 2) als unbegründet abzuweisen war.
I.
Dem Kläger steht wegen der fahrlässig begangenen Gesundheitsverletzung gem. §§ 823 Abs. 1 BGB i.V.m. dem am Tag vor dem Unfall, dem 01.08.2002 in Kraft getretenen § 253 BGB (2. SchadÄndG) und § 3 Nr. 1 PflVG in der vom 01.08.2002 bis 31.12.2002 gültigen Fassung ein Schmerzensgeld in Höhe von 45.000 € gegen die unfallgegnerische Haftpflichtversicherung zu. Da vorprozessual hierauf 20.000 € geleistet wurden, war ihm noch ein Betrag in Höhe von 25.000 € zuzuerkennen.
Die Höhe des zuzubilligenden Schmerzensgeldes hängt entscheidend vom Maß der durch das haftungsbegründende Ereignis verursachten körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen des Geschädigten ab, soweit diese bei Schluss der mündlichen Verhandlung bereits eingetreten sind oder zu diesem Zeitpunkt mit ihnen als künftiger Verletzungsfolge ernstlich gerechnet werden muss. Die Schwere dieser Belastungen wird vor allem durch die Stärke, Heftigkeit und Dauer der erlittenen Schmerzen und Funktionsbeeinträchtigungen bestimmt. Besonderes Gewicht kommt etwaigen Dauerfolgen der Verletzungen zu (ständige Rechtsprechung, vgl. OLG München NZV 2014, 577)
Der Kläger erlitt bei dem Verkehrsunfall folgende Primärverletzungen
Einen Sprungbeinhalsbruch rechts, einen Bruch des rechten Wadenbeins kurz unterhalb des Kniegelenks sowie eine Mittelfuss-V-Basisfraktur links.
Aufgrund dieser Verletzungen kam es zu folgenden Dauerschäden und Folgebeschwerden.
Der Bruch des Sprungelenks führte durch Nekrose zu einem Zusammenbruch des Spunggelenks und zu einer weichteilbedingten Versteifung der oberen und unteren Sprungelenke mit Spitzfußstellung. Es besteht eine erhebliche Schwellungsneigung, welche zusätzlich für ein postthrombotische Syndrom spricht. Der Gang ist trotz orthopädischer Schuhversorgung hinkend. Es bestehen erhebliche Einschränkungen im Stehen und Gehen, das auf wenige 100 Meter begrenzt ist.
Am rechten Unterschenkel entstand ein postraumatisches Lymphödem mit Störungen im Lymphabfluss, das Sitzen wird hierdurch jedoch nicht erheblich eingeschränkt.
Durch den Bruch des Wadenbeins rechts kam es zu einer Schädigung des nervus peronaeus (Teillähmung des rechten Wadenbeinnerven). Neurologisch sind motorische Ausfälle und geringe Sensibilitätsstörungen noch nachweisbar, die dadurch bedingte Fußheberstörung wird jedoch durch die festgestellte Sprunggelenkslähmung überlagert.
Der Bruch des Mittelfußknochens am linken Fuß ist folgenlos verheilt.
Diese Feststellungen beruhen auf den überzeugenden Ausführungen des orthopädischen Sachverständigen … und des neurologischen Sachverständigen … die jeweils die Krankengeschichte verwerteten und den Kläger persönlich untersuchten und befragten. Wenn der Sachverständige … wegen des schweren Dauerschadens am rechten Fuß eine Gesamtinvalidität von 40 % angenommen hat, so hält das Gericht dies für angemessen. Das Gericht folgt auch seiner Schlussfolgerung, dass dem Kläger ab Mitte des Jahres 2003 eine sitzende Tätigkeit wieder vollschichtig möglich war. Dies folgt auch aus der Verlaufsdokumentation …. Dass er wegen der Störungen des Lymphabflusses nicht länger als eine Stunde sitzen könne, steht nicht fest, vielmehr hatte der Kläger bei seiner Untersuchung im Jahr 2008 durch den Sachverständigen … angegeben, dass Sitzen uneingeschränkt möglich sei.
Dagegen steht aufgrund der gutachtlichen Ausführungen der Sachverständigen … und … und des radiologischen bzw. neurochirurgischen Zusatzgutachtens des … bzw. des … nicht fest, dass der Kläger bei dem Unfall eine Vertebralisdissektion erlitten hat. Zwar passt die vom Kläger geschilderte neurologische Ausfallsymptomatik zu einer traumatischen Dissektion. Die neurologischen Ausfälle müssten dann aber auf eine Minderdurchblutung eines Gehirnanteils als Folge des Gefäßverschlusses zurückzuführen sein, die durchgeführte Kernspintomographie hat eine solche Minderdurchblutung jedoch gerade nicht ergeben. Die Sachverständigen kamen daher übereinstimmend zu dem überzeugenden Ergebnis, dass eine durch den Unfall verursachte traumatische Dissektion unwahrscheinlich ist und vielmehr eine anlagebedingte Hypoplasie der linken Artterie verebralis die Ausfallerscheinungen (insbesondere Kopfschmerzen, Konzentrationsschwierigkeiten und Hörbeschwerden) erklären könne. Die Einholung weiteren ärztlichen Fachgutachtens zu diesen Beschwerden (insbesondere eines HNO-Arztes) waren nicht erforderlich, da die Unfallbedingtheit einer traumatischen Dissektion – auch mit einem verringertem Beweismaß nach § 287 Abs. 1 ZPO – nicht bewiesen ist.
Ebenso wenig steht gemäß § 287 ZPO fest, dass der Kläger aufgrund der Primärverletzungen psychische Folgeerkrankungen (insbesondere eine Depression) erlitten hat. Der psychiatrische Sachverständige … konnte bei seiner Untersuchung des Klägers am 23.07.2012 keine klinische Symptomatik mehr feststellen und auch keine fachliche Beurteilung hinsichtlich einer inzwischen abgeklungenen Symptomatik abgeben, weil (fach-)ärztliche Untersuchungsbefunde aus vergangener Zeit insoweit nicht vorhanden waren. Berücksichtigt hat das Gericht aber die nicht medizinische Tatsache, dass der Unfall abrupt die Lebensplanung des Kläger änderte, auch wenn das eigentliche Motiv für den Fortzug nach Schweden nicht feststeht. Dass die schweren Unfallverletzungen und ihre Folgen Niedergeschlagenheit und depressive Verstimmungen verursachen können und verursacht haben, sieht das Gericht gem. § 287 ZPO als erwiesen an und hat es seinen Feststellungen zugrunde gelegt.
Schließlich sah der Sachverständige … auch keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass es infolge der Fußverletzungen zu Abnutzungen der Hüftgelenke und zu einer Leistenhernie gekommen sei. Bei Fehlen einer Verletzung am Abdomen sei ein Zusammenhang zwischen dem Unfall und der einige Jahre später operierten Leistenhernie nicht erkennbar. Auch diesen überzeigenden Ausführungen schließt sich das Gericht an.
Ein Mitverschulden war bei der Höhe des Schmerzensgelds nicht anzusetzen, weil es nicht vorliegt. Insbesondere traf den Kläger nicht die Verpflichtung nach § 21 a StVO in der Fassung vom 25.6.1998, einen Sicherheitsgurt anzulegen, weil ein solcher für das Fahrzeug nicht vorgeschrieben war. Das Fahrzeug war laut Kfz-Brief ohne Gurtverankerungspunkte zugelassen worden. Wegen der groben Vorfahrtsverletzung nach § 8 StVO tritt auch die Betriebsgefahr des Trikes zurück und ist daher kein Bemessungsfaktor für die Höhe des Schmerzensgelds.
Das Regulierungsverhalten der Beklagten ist kein Aspekt, der eine Erhöhung des Schmerzensgelds rechtfertigt. Zögerliches oder kleinliches Regulierungsverhalten wirkt zwar schmerzensgelderhöhend, setzt aber ein vorwerfbares oder jedenfalls nicht nachvollziehbares Verhalten voraus, welches sich niederschlägt in unangemessen niedrigen vorprozessualen Leistungen, einer unverständlich verzögerter Regulierung und/oder einem unvertretbarem (vor-)prozessualen Verhalten (OLG München NZV 2014, 577). Diese besonderen Voraussetzungen liegen nicht vor. Zwar ist die Beklagte seit über einem Jahrzehnt mit der Zahlung eines nicht unerheblichen Schmerzensgeldrestanspruchs in Höhe von 25.000 € in Verzug. Auch war die Haftungslage mit dem Vorfahrtsverstoß eindeutig. Auf der anderen Seite hat die Beklagte vorprozessual bereits einen nicht unerheblichen Betrag in Höhe von 20.000 € auf das Schmerzensgeld bezahlt. Sie konnte und durfte die Art und den Umfang der Dauerschäden bestreiten und hat nach den Vorstehenden insoweit auch teilweise Erfolg. Auch hinsichtlich des geltend gemachten Verdienstausfalls musste sie keine Zahlungen leisten, solange der Kläger diesen nicht schlüssig darlegen und beweisen kann (siehe die nachfolgenden Ausführungen unter II.) Die überlange Verfahrensdauer als solche darf nicht zu Lasten der Beklagten gewertet werden.
Bei Abwägung aller Umstände hält das Gericht daher ein Schmerzensgeld in Höhe von 45.000 € für angemessen. Vergleichbare Entscheidungen aus der Schmerzensgeldtabelle 2013 sind Nrn. 561 (OLG Frankfurt) Nr. 528 (Landgericht Hechingen), Nr. 527 (Landgericht Dortmund), Nr. 526 (Landgericht Aachen). Darüber hinaus hat sich das Gericht an der Entscheidung des 10. Zivilsenats des OLG München (10 U 4926/12, Urteil vom 13.12.2013) orientiert, wobei der dort zuerkannte, deutlich höhere Betrag von 80.000 € deshalb gerechtfertigt war, weil der dortige Verletzte über die vergleichbare Fußverletzung mit Dauerschaden hinaus noch weitere erhebliche Verletzungen mit Dauerschäden erlitten hatte. Diese in den Schmerzensgeldtabellen erfassten „Vergleichsfälle“ – bilden nur einen Ausgangspunkt für die gerichtlichen Erwägungen zur Schmerzensgeldbemessung, ersetzen jedoch nicht die Gewichtung der konkreten Bemessungsfaktoren im Einzelfall. Ein Schmerzensgeld in der zuerkannten Höhe ist demnach gerechtfertigt insbesondere wegen der Schwere der Fußverletzung rechts mit einem Dauerschaden, der den Kläger in seiner Lebensführung erheblich einschränkt und spürbar behindert.
Verzugszinsen (§§ 286 Abs. 1 S. 2, 288 Abs. 1 BGB) waren – wie beantragt – dem Kläger ab Rechtshängigkeit zuzusprechen, wobei die Klage hinsichtlich des Schmerzensgelds von Anfang an unbedingt erhoben worden war und der Beklagten am 06.10.2005 zugestellt wurde.
II.
Die (Teil-)Klage auf Erstattung eines Verdienstausfallschadens in Höhe von insgesamt 180.000 € gem. §§ 823 Abs. 1, 249, 252 BGB i.V.m. § 3 Nr. 1 PflVersG a.F. war hingegen abzuweisen, weil es dem Kläger trotz der Beweiserleichterungen nach den §§ 252 BGB, 287 ZPO nicht gelungen ist, einen entgangenen Gewinn in der verlangten oder in niedrigerer Höhe für den streitgegenständlichen Zeitraum August 2002 bis Juli 2005 zu beweisen.
Hinsichtlich der Darlegungs- und Beweislast sind folgende rechtlichen Grundsätze aus der obergerichtlichen Rechtsprechung zu beachten (vgl. Insbes. BGH NJW-RR 1996, 1077, NZV 1998, 279, NZV 2004, 344).
Bei selbstständig Tätigen bedarf es zur Beantwortung der Frage, ob diese einen Verdienstausfallschaden erlitten haben, der Prüfung, wie sich das von ihnen betriebene Unternehmen ohne den Unfall voraussichtlich entwickelt hätte. Die Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit als solche ist dagegen unbeachtlich, vielmehr kommt es darauf an, ob und in welcher Höhe durch diese Beeinträchtigung dem Geschädigten ein Verdienstausfallschaden entstanden ist. Neben einer konkreten Berechnung kann dieser auch nach der sogenannten abstrakten Methode festgestellt werden.
Bei der danach erforderlichen Prognose der hypothetischen Geschäftsentwicklung kommen dem Geschädigten die Darlegungs- und Beweiserleichterungen nach § 252 BGB und § 287 ZPO zugute. Diese Erleichterungen ändern freilich nichts daran, dass es im Rahmen der hier notwendigen Prognose des entgangenen Gewinns i.S. des § 252 S. 2 BGB ebenso wie für die Ermittlung des Erwerbsschadens nach § 287 ZPO konkreter Anknüpfungstatsachen bedarf, die der Geschädigte darlegen und zur Überzeugung des Richters nachweisen muss. Für die Schadensschätzung nach diesen Vorschriften benötigt der Richter somit als Ausgangssituation greifbare Tatsachen, weil sich nur anhand eines bestimmten Sachverhalts sagen lässt, wie sich die Dinge ohne das Schadensereignis weiterentwickelt hätten. Die Tatsachen, die seine Gewinnerwartung wahrscheinlich machen, muss der Kläger im Einzelnen darlegen und beweisen. Allerdings dürfen an die Darlegung solcher Anknüpfungstatsachen für die Ermittlung des Erwerbsschadens keine zu hohen Anforderungen gestellt werden.
Sind derartige Anknüpfungstatsachen zwar dargetan, erscheinen sie aber nicht ausreichend, um den gesamten geltend gemachten Schaden durch Schätzung zu ermitteln, so rechtfertigt dies nach gefestigter Rechtsprechung des BGH grundsätzlich nicht die Abweisung des Schadensersatzbegehrens in vollem Umfang. Vielmehr hat das Gericht nötigenfalls – selbst unter Berücksichtigung nicht vorgetragener Tatsachen – nach freiem Ermessen über die Schadenshöhe zu entscheiden und kann den in jedem Fall eingetretenen Mindestschadens ermitteln.
Eine solche Entscheidung ist jedoch dann nicht zulässig, wenn mangels greifbarer Anhaltspunkte eine Grundlage für das Urteil nicht zu gewinnen ist und das richterliche Ermessen vollends in der Luft schweben würde. Die Schadensschätzung darf bei Fehlen greifbarer Anhaltspunkte nicht „völlig in der Luft hängen“ (BGH), sondern bedarf vielmehr einer hinreichenden Grundlage.
Bei Anwendung dieser Grundsätze ist festzustellen, dass nach den überzeugenden Feststellungen des Sachverständigen … in seinem Gutachten vom 30.01.2017 eine betriebswirtschaftlich fundierte Schätzung des Verdienstausfallschadens nicht möglich ist. Hierzu hätten (idealerweise) für die Kalenderjahre 1999 bis 2005 vollständige Jahresabschlüsse für beide Unternehmen nebst Kontonachweisen und Anlagenspiegel vorgelegt werden müssen, sowie Sachkontenblätter der laufenden Finanzbuchhaltung, vollständige Buchungsbelege sowie der Gesellschaftsvertrag der Fa. HMV. Der Kläger hat trotz Aufforderung mit Fristsetzung keinerlei Unterlagen hierzu beigebracht. Soweit er Einkommenssteuerbescheide für die Jahre 1999 bis 2002 vorgelegt hatte, so sind die hiernach veranlagten steuerlichen Einkünfte in keiner Weise in ihrer Einzelzusammensetzung nachvollziehbar. Sie erlauben keine Analyse der vor dem Unfall erzielten Umsatzerlöse und werfen nach dem Gutachten zudem mehrere Fragen auf. Insbesondere bleibt offen, ob und inwieweit in den auffallend hohen Einkünften der Fa. … im Jahr 2001 einmalige Erlöse enthalten sind, die im Rahmen der Schadensschätzung nach § 252 BGB außer Betracht zu bleiben haben, ob der Bescheid für die Fa … für 2001 nicht geschätzte Besteuerungsgrundlagen hatte, und welche Gründe es für den deutlichen Rückgang der Einkünfte im Rumpfwirtschaftsjahr 2002 für beide Unternehmen gibt.
Der unfallverletzungsbedingte Schaden kann somit durch eine betriebswirtschaftliche Schätzung nicht „errechnet“ (BGH NZV 1998, 279) werden. Es besteht aber auch keine ausreichende Grundlage, dessen Höhe nach richterlichen Ermessen zu schätzen. Hieran fehlt es an einer tragfähigen Grundlage. Feststeht zwar, dass der Kläger bis in das Jahr 1999 zurück, nachweisbare Einkünfte als Finanzdienstleister hatte und er diese Tätigkeit unfallbedingt jedenfalls bis Mitte des Jahres 2003 nicht ausüben konnte. Eine Schätzung seines monatlich entgangenen Gewinns im Sinne eines Mindestschadens würde jedoch mangels konkreter Anhaltpunkte völlig in der Luft hängen und wäre daher willkürlich. Das Gesetz gesteht dem Geschädigten zwar gemäß den §§ 252 BGB, 287 ZPO deutliche Darlegungs- und Beweiserleichterungen zu, diese enden jedoch dort, wo es an einer tragfähigen Grundlage für eine Schätzung mangelt.
Ein solcher Fall ist hier gegeben. Insbesondere lassen die vorgelegten Auszüge der Handelsvertreterkonten und der hiernach vereinnahmten Provisionen keine Schätzung zu, wie hoch insoweit der Gewinn des Klägers gewesen ist. Ungeklärt bleibt, wie die Stornoreserven berücksichtigt wurden, ob sie nach § 4 Abs. 3 EStG keine Berücksichtigung fanden, oder in die Bilanzierung nach den §§ 4 Abs. 1, 5 EStG eingestellt wurden. Offen bleibt außerdem, ob und inwieweit bei den Provisionszahlungen Beträge enthalten sind, die gewinnmindernd als Unterprovisionen an Untervermittler weitergeleitet wurden. Hinzu kommt, dass der Kläger lediglich Provisionskonten bis zum 13.02.2002 vorlegen konnte (vgl. Schriftsatz vom 17.10.2008). Es bleibt somit bis zu dem Unfalltag eine Lücke von mehreren Monaten ohne jeglichen Nachweis von Provisionseinnahmen. Es steht daher nicht fest, dass der Kläger in den Monaten vor dem Unfall überhaupt Provisionseinnahmen hatte. Eine Schlussfolgerung, dass er nach dem 02.08.2012 ohne die Unfallverletzungen welche gehabt hätte, ist daher nicht zulässig. Erst recht kann angesichts der Lücke nicht ansatzweise prognostiziert werden, wie hoch diese hypothetischen Einnahmen dann gewesen wären.
Angesichts dieser Defizite besteht keine Grundlage dafür, einen Verdienstausfall aus dem Teilgeschäftsbereich Versicherungsprovisionen zu schätzen, das „Ergebnis“ hinge völlig in der Luft. Auch die Aussage des Zeugen … dass ein Vertreter der … im Durchschnitt umgerechnet 3.500 € verdiente und es sich bei dem Kläger um einen etwas überdurchschnittlichen Vertreter handelte, ist derart allgemein, dass sie eine konkrete Ermessensschätzung unter Berücksichtigung von Unterprovisionen nicht rechtfertigen kann.
Ein Verdienstausfallschaden ist daher nicht nachgewiesen. Das Gericht verkennt nicht, dass sich der Kläger in Beweisnot befindet, weil er nach fünfzehn Jahren die vom Sachverständigen angeforderten Geschäftsunterlagen nicht mehr vorlegen kann. Dies kann jedoch nicht zu Lasten der Beklagten gehen. Vielmehr hätte es zumutbarerweise dem Kläger oblegen, in Hinblick auf die eingereichte Verdienstausfallklage die Unterlagen aufzubewahren.
III.
Der zulässigen Feststellungsklage wegen der Ersatzpflicht der Beklagten war sowohl für materielle als auch immaterielle Zukunftsschäden stattzugeben. Klarstellend war in dem Tenor mit aufzunehmen, dass es um künftig entstehende Schäden geht.
Es besteht ein Interesse an der Feststellung der Ersatzpflicht (§ 256 Abs. 1 ZPO) künftiger materieller Schäden, die auf die Unfallverletzung zurückzuführen sind, weil die Schadensentwicklung aufgrund des festgestellten Dauerschaden am rechten Fuß zum Schluss der mündlichen Verhandlung (§ 128 Abs. 2 S. 2 ZPO) nicht abgeschlossen ist und auch künftige Schäden möglich sind (BGH NJW 2001, 1432). So ergibt sich aus dem Gutachten des Sachverständigen … dass der Kläger unfallbedingt weiterhin orthopädisches Schuhwerk tragen muss, was eine erstattungsfähige Schadensposition darstellt. Soweit wegen des Zeitablaufs seit Klagerhebung bereits weitere materielle Schäden entstanden sind, war der Kläger nicht gehalten, insoweit den Feststellungsantrag in einen Leistungsantrag abzuändern (BGH NJW-RR 2004, 79, 81). Die Ersatzpflicht wird vielmehr vom Feststellungstenor mit umfasst.
Aber auch hinsichtlich künftiger immaterieller Schäden ist die Feststellungsklage zulässig und begründet. Aufgrund des Gutachtens des Sachverständigen … besteht die Möglichkeit, dass künftig weitere, bisher nicht erkannte und nicht vorhersehbare Leiden auftreten können (BGH NJW 1991, 2707), die vom zuerkannten Schmerzensgeld und der hierbei angestellten Prognose nicht mit erfasst werden können. Sie ergibt sich nicht nur aus der Schwere des Dauerschadens sondern auch daraus, dass in der Zukunft unfallverletzungsbedingt nicht ausschließbar eine Operation am rechten Fußgelenk indiziert sein könnte.
IV.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 91, 92 ZPO. Angesichts des schweren Dauerschadens hat das Gericht den Teilstreitwert für die Feststellungsklage auf 20.000 € geschätzt (§ 3 ZPO, vgl. auch Bl. 1 d.A./der Klageschrift unten), so dass sich ein Gesamtstreitwert von 225.000 € ergibt.


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