Sozialrecht

Unfallversicherung: Voraussetzungen der Anerkennung eines epileptischen Anfalls als Arbeitsunfall

Aktenzeichen  L 7 U 176/17

Datum:
21.7.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 32164
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VII § 2 Abs. 1 Nr. 1. § 8 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

Ein epileptischer Anfall stellt nur einen Arbeitsunfall dar, wenn der Unfall mit hinreichender Wahrscheinlichkeit kausal auf die versicherte Tätigkeit zurückzuführen ist. (Rn. 27 – 30)

Verfahrensgang

S 15 U 141/15 2017-04-05 SGREGENSBURG SG Regensburg

Tenor

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 5. April 2017 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die zulässige Berufung ist nicht begründet.
1. Streitig ist, ob der Unfall des Klägers am 13.8.2014 von der Beklagten als Arbeitsunfall anzuerkennen ist. Dies lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 18.11.2014 idG des Widerspruchsbescheides vom 21.5.2015, bestätigt durch das klageabweisende Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 5.4.2017 ab, so dass nur diese Entscheidungen streitgegenständlich sind.
2. Die Berufung ist nicht begründet, da das Sozialgericht die Klage zu Recht abgewiesen hat. Der Unfall des Klägers am 13.8.2014 ist nicht als Arbeitsunfall anzuerkennen (dazu unter 3.). Die Frage, ob der Unfall des Klägers am 13.8.2014 bzw die hierbei erlittenen Gesundheitsschäden als mittelbare Folge des (von der Beklagten als Arbeitsunfall anerkannten) Unfalls am 3.7.2014 berücksichtigt werden können, ist nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens (dazu unter 4.)
3. Der Unfall des Klägers am 13.8.2014 ist nicht als Arbeitsunfall iS des § 8 Abs. 1 S. 1 SGB VII anzuerkennen, da die Voraussetzungen hierfür nicht erfüllt sind.
a) Arbeitsunfälle sind Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit, § 8 Abs. 1 S. 1 SGB VII). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (§ 8 Abs. 1 S. 2 SGB VII). Für einen Arbeitsunfall eines Versicherten ist danach im Regelfall erforderlich, dass seine Verrichtung zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer oder sachlicher Zusammenhang), sie zu dem zeitlich begrenzten von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis – dem Unfallereignis – geführt (Unfallkausalität) und dass das Unfallereignis einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität); das Entstehen von länger andauernden Unfallfolgen aufgrund des Gesundheitserstschadens (haftungsausfüllende Kausalität) ist keine Bedingung für die Feststellung eines Arbeitsunfalls (vgl BSG, Urteil vom 17.2.2009 – B 2 U 18/07 R – RdNr. 9 mwN).
b) Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Der Kläger war zwar zum Unfallzeitpunkt als beschäftigter Lkw-Fahrer nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII versichert. Durch den Sturz hat der Kläger einen Unfall erlitten. Das von außen auf den Körper einwirkende Ereignis liegt nicht nur bei einem besonders ungewöhnlichen Geschehen, sondern auch bei einem alltäglichen Vorgang, wie das Stolpern über die eigenen Füße oder das Aufschlagen auf den Boden vor, weil hierdurch ein Teil der Außenwelt auf den Körper einwirkt (vgl BSG, Urteil vom 17.2.2009 – B 2 U 18/07 R – RdNr. 10 mwN). Seine Verrichtung zur Zeit des Unfallereignisses – das Abgeben von Unterlagen und das Wegbringen der Ameise an die Ladestation – gehörte zur versicherten Tätigkeit und stand daher mit dieser in einem sachlichen Zusammenhang. Infolge des Sturzes hat der Kläger auch eine Kopfverletzung und damit einen Gesundheitserstschaden erlitten. Allerdings erlitt der Kläger den Sturz mit seinen Verletzungsfolgen nicht „infolge“ seiner versicherten Tätigkeit. Es fehlt hier an der sog haftungsbegründenden Kausalität.
aa) Durch das Wort „infolge“ drückt § 8 Abs. 1 S. 1 SGB VII aus, dass ein kausaler Zusammenhang zwischen der in innerem Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehenden Verrichtung und dem Unfall als auch zwischen dem Unfall und dem Gesundheitsschaden bzw dem Tod erforderlich ist (vgl BSG, Urteil vom 15.2.2005 – B 2 U 1/04 R – RdNr. 21 zitiert nach juris). Diese sog doppelte Kausalität wird nach herkömmlicher Dogmatik als die haftungsbegründende und die haftungsausfüllende Kausalität bezeichnet. Für beide Bereiche der Kausalität gilt die Theorie der wesentlichen Bedingung sowie der Beweismaßstab der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BSG, aaO).
Der Bereich der haftungsausfüllenden Kausalität ist betroffen, wenn es – wie hier – um die Frage geht, ob der Unfall (Sturz und Aufprall) wesentlich durch die (infolge der) versicherte/n Tätigkeit oder durch eine sog innere Ursache hervorgerufen worden ist (BSG, Urteil vom 15.2.2005 – B 2 U 1/04 R – RdNr. 22 zitiert nach juris). Nach der im Sozialrecht und insbesondere im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalitätslehre von der wesentlichen Bedingung oder der wesentlich mitwirkenden Ursache sind Ursache und Mitursache unter Abwägung ihres verschiedenen Wertes nur die Bedingungen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. Welcher der Umstände, die entweder den Arbeitsunfall oder den Eintritt der Gesundheitsstörung im Sinne der naturwissenschaftlich-philosophischen Kausalität („conditio sine qua non“) verursacht haben, als wesentlich angesehen werden muss, ist durch eine wertende Betrachtung aller in Frage kommenden Umstände zu ermitteln. Dabei kommt es auf die Qualität der Umstände, nicht aber auf ihre Quantität oder ihre zeitliche Reihenfolge an (BSG, aaO).
Bei Unfällen aus sog innerer Ursache ist der Kausalzusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall nicht gegeben, wenn die körpereigene Ursache zwangsweise zu dem eingetretenen Unfallverlauf (nach Art und Schwere des Unfalls) geführt hat; in diesem Fall haben betriebliche Einwirkungen den Unfall nicht wesentlich mitverursacht. Im Sinne einer konkurrierenden Kausalität ist der ursächliche Zusammenhang dagegen anzunehmen, wenn betriebsbedingte Umstände (zB besondere Anstrengung durch ungewohnte Nachtarbeit oä) die innere Ursache wesentlich beeinflusst haben. Ist dies nicht der Fall, ist der ursächliche Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall trotzdem gegeben, wenn der Verletzte der Gefahr, der er erlegen ist, infolge der durch seine versicherte Tätigkeit bedingten Anwesenheit auf der Unfallstätte ausgesetzt war und ihm der Unfall ohne die versicherte Tätigkeit wahrscheinlich nicht in derselben Art und derselben Schwere zugestoßen wäre (BSG, Urteil vom 15.2.2005 – B 2 U 1/04 R – RdNr. 23 zitiert nach juris).
bb) Auf dieser Grundlage kann der Unfall des Klägers am 13.8.2014 zur Überzeugung des Senats nicht wesentlich auf die versicherte Tätigkeit an diesem Tag zurückgeführt werden. Ursache des Unfalls war vielmehr ein epileptischer Anfall, der den Kläger zu Boden riss. So kamen sämtliche mit dem Unfallgeschehen am 13.8.2014 befassten medizinischen Gutachter gestützt nicht nur auf ihrer eigenen Erhebungen, sondern auch auf fremdamnestische Angaben für den Senat überzeugend und sowohl allein als auch in der Gesamtschau widerspruchsfrei zu dem Ergebnis, dass der Kläger am 13.8.2014 einen epileptischen Anfall erlitt und dass der Sturz des Klägers mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf diesen epileptischen Anfall zurückzuführen ist (vgl nervenärztliches Gutachten des Dr K., Akten-Id. 108/Seite 6 von 7 des Ausdrucks der elektronischen Beklagtenakte: ‚es kam am 13.8.2014 zu einem epileptischen Anfall, der zu einem Sturz auf den Boden führte, was wiederum zu einem Schädelbruch und einer Gehirnblutung führte’; neurologisch-psychiatrisches Sachverständigengutachten des P. J. R., Bl 99 der Akte des Sozialgerichts: „Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hat Herr A. am 13.8.2014 einen epileptischen Anfall erlitten. Als Folge des Anfalls ist er gestürzt und hat sich die Gehirnverletzung zugezogen.“; das auf Antrag des Klägers nach § 109 SGG eingeholte Sachverständigengutachten des Dr H. S., Bl 143 f der Akte des Sozialgerichts: „Auch beweist (…) ein (…) Schädel-Hirn-Trauma mit einer Hirnverletzung, die im Weiteren zu einem epileptischen Anfall geführt hat, der in der Folge zu einem weiteren schweren Schädel-Hirn-Trauma geführt hat.“; neurologisches Gutachten des Prof. Dr H H., Bl 204 der Akte des Sozialgerichts: „Mit dem 13.8.2014 manifestierte sich bei dem Begutachteten eine Epilepsie.“), so dass der Unfall auch durch eine normale Verrichtung des täglichen Lebens in etwa demselben Ausmaß außerhalb der Arbeit eingetreten wäre. Hiervon geht letztlich auch der Kläger selbst aus, wenn er vorträgt, dass die sich mit dem Unfall am 13.8.2014 manifestierte Epilepsie auf seinen Unfall am 3.7.2014 zurückzuführen ist. Es bestehen schließlich keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Unfall dem Kläger ohne die versicherte Tätigkeit wahrscheinlich nicht in derselben Art und derselben Schwere zugestoßen wäre. Dies gilt insbesondere hinsichtlich des Bodens des Betriebshofes, auf den der Kläger stürzte (vgl bereits BSG, Urteil vom 30.7.1971 – 2 RU 200/69 – RdNr. 20 zitiert nach juris).
4. Hieran vermag schließlich der Ansatz, wonach der epileptische Anfall auf das von der Beklagten mit Bescheid vom 28.7.2015 anerkannte Unfallgeschehen am 3.7.2014 zurückzuführen sein könnte, nichts zu ändern.
Vorliegend ist allein streitig, ob das Unfallgeschehen am 14.8.2014 von der Beklagten als Arbeitsunfall iS des § 8 Abs. 1 S. 1 SGB VII anzuerkennen ist. Nur hierüber hat die Beklagte mit dem allein streitgegenständlichen Bescheid vom 18.11.2014 idG des Widerspruchsbescheides vom 21.5.2015 entschieden. Allein hierauf war schließlich der in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht gestellte Antrag des Klägers gerichtet. Ausweislich des Tenors des angefochtenen Urteils wird dort ausschließlich über die Klage gegen den Bescheid vom 18.11.2014 idG des Widerspruchsbescheides vom 21.5.2015 entschieden.
Zwar ist es (rein rechtlich) nicht ausgeschlossen, dass das (nach den vorstehenden Ausführungen nicht unter Versicherungsschutz stehende) Unfallgeschehen am 13.8.2014 als Folge des Unfalls am 3.7.2014 anzuerkennen sein könnte (vgl dazu bereits BSG, Urteil vom 14.10.1955 – 2 RU 16/54; Urteil vom 22.1.1976 – 2 RU 109/74 – RdNr. 17 zitiert nach juris). Selbst wenn man aber mit dem Kläger davon ausgehen wollte, dass die Epilepsie durch den Arbeitsunfall am 3.7.2014 verursacht wurde, führt dies nicht dazu, dass das Unfallgeschehen am 13.8.2014 als Arbeitsunfall iS des § 8 Abs. 1 S. 1 SGB VII anzuerkennen wäre. In diesem Fall käme hingegen eine Anerkennung als Folge des Unfalls am 3.7.2014 in Betracht (vgl Leitsatz Nr. 3 zu BSG, Urteil vom 14.10.1955 – 2 RU 16/54 zitiert nach juris). In diesem Zusammenhang hat die Beklagte schließlich mit dem – hier nicht streitgegenständlichen – Bescheid vom 28.7.2015 über die Ursächlichkeit des Unfalls vom 3.7.2014 für das Unfallgeschehen am 13.8.2014 entschieden. Dass sich der gegen den Bescheid vom 18.11.2014 erhobene Widerspruch bzw die am 5.6.2015 zum Sozialgericht erhobene Klage gleichzeitig gegen Bescheid vom 28.7.2015 richteten, ist bereits aus zeitlichen Gründen auszuschließen. Auch für eine entsprechende Erweiterung des Streitgegenstands vor dem Sozialgericht finden sich keine Anhaltspunkte, nachdem sich der vor dem Sozialgericht vom rechtskundigen Bevollmächtigten für den Kläger formulierte Klageantrag allein gegen den Bescheid vom 18.11.2014 idG des Widerspruchsbescheides vom 21.5.2015 richtet. Auch eine Klageerweiterung im Berufungsverfahren erfolgte nicht.
5. Kann aber der Unfall des Klägers am 13.8.2014 unter keinem Gesichtspunkt als Arbeitsunfall nach § 8 Abs. 1 S. 1 SGB VII anerkannt werden, hat das Sozialgericht die Klage zu Recht abgewiesen, so dass die Berufung ohne Erfolg bleiben muss.
6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG sind nicht ersichtlich.


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