Sozialrecht

Verkehrsunfall, Schmerzensgeld, Unfall, Minderung, Behinderung, Arbeitsunfall, Krankenhausbehandlung, Gutachten, GdB, Merkzeichen, Implantation, MdE, Streitwert, Feststellung, Grad der Behinderung, Kosten des Rechtsstreits, Zeitpunkt der Entscheidung

Aktenzeichen  19 O 20273/15

Datum:
11.2.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 44001
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
München I
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Tenor

1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 60.000,00 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 24.11.2015 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Von den Kosten des Rechtsstreits haben die Klägerin 23 Prozent und die Beklagte 77 Prozent zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar, für die Klägerin jedoch nur gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags. Die Klägerin kann die Vollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.
4. Der Streitwert wird auf 78.385,55 € festgesetzt.

Gründe

I.
Die mit Ausnahme des klägerischen Antrags zu IV.) zulässige Klage erweist sich als überwiegend begründet.
1. Zur Zulässigkeit:
Die Klage ist im klägerischen Antrag zu IV.) mangels Feststellungsinteresses unzulässig. Ein rechtliches Interesse der Klägerin an einer „alsbaldigen“ Feststellung im Sinne von § 256 Abs. 1 ZPO kann vorliegend nicht erkannt werden. Aufgrund der rechtskräftigen Feststellung des Ersatzanspruchs mit Endurteil des Oberlandesgerichts München vom 28.05.1993 droht derzeit keine Verjährung, die ein solches Feststellungsinteresse der Klägerin begründen könnte. Es fehlt mithin an einer Prozessvoraussetzung. Im Anschluss an die mündliche Verhandlung hat die Klägerin die Rücknahme des Klageantrags zu IV.) erklärt. Da die Beklagte die gemäß § 269 Abs. 1 ZPO erforderliche Einwilligung in die Klagerücknahme nicht erteilt hat, ist die Klage insoweit als unzulässig abzuweisen. Im Übrigen, das heißt hinsichtlich der noch streitgegenständlichen Anträge zu I.) und III.), ist die Klage zulässig.
2. Zur Begründetheit:
a) Die Klage ist im Antrag zu I.) begründet.
Aus dem Verkehrsunfall vom 14.03.1989 in München steht der Klägerin auf Grundlage des Endurteils des Oberlandesgerichts München vom 28.05.1993, Az. 10 U 2177/92, mit welchem Ziffer II. des Tenors des Urteils des Landgerichts München I vom 30.11.1992, Az. 17 O 1857/92, aufrecht erhalten worden ist, ein Anspruch auf Zahlung eines weiteren Betrags in Höhe von 60.000,00 € aufgrund der zwischenzeitlich eingetretenen und damals objektiv nicht vorhersehbaren Verletzungsfolgen als Schmerzensgeld nebst Rechtshängigkeitszinsen (§ 291 BGB) zu.
aa) Unter Berücksichtigung aller Umstände steht nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme insbesondere anhand der Ergebnisse der schriftlichen Gutachten der medizinischen Sachverständigen Dr. M3. und Prof. Dr. M4. und des Ergebnisses der mündlichen Anhörung des Sachverständigen Dr. M3., unter Berücksichtigung der vorliegenden Behandlungsunterlagen und nach Anhörung der Klägerin zur Überzeugung des Gerichts fest, dass es zu einer wesentlichen und weiterhin unfallbedingten Verschlechterung des Gesundheitszustands der Klägerin gekommen ist.
Zu dieser Verschlechterung ist es zunächst im Jahr 2012 – im Nachgang zu der im Jahr 2003 aufgrund einer unfallbedingten Coxarthrose (Hüftarthrose) erforderlich gewordenen Implantation einer Hüftprothese – in Gestalt einer akuten periprothetischen Infektion sowie der damit verbundenen weiteren Folgen, nämlich eines Knochenabbaus und starker Schmerzen, gekommen. Diese Infektion und deren Folgen haben vier Revisionsoperationen (Explantation der Hüftgelenkstotalendoprothese am 25.10.2012 mit nachfolgendem Debridement und Implantation eines Spacers, zwei Revisionsoperationen am 02.11.2012 und 13.01.2013 mit jeweiligem Spacerwechsel, Revisionsoperation am 19.06.2013 zur Implantation einer unzementierten modularen Revisionsendoprothese nach Infektausschluss) erforderlich gemacht. Aufgrund der Folgen der periprothetischen Infektion hat sich die Klägerin in den Zeiträumen vom 25.10.2012 bis zum 17.11.2012, vom 13.01.2013 bis zum 22.01.2013, vom 17.06.2013 bis zum 02.07.2013 sowie vom 13.08.2013 bis zum 10.09.2013 jeweils in stationärer Krankenhausbehandlung befunden; sie ist zudem mehrfach ambulant behandelt worden.
Weiterhin hat sich der Gesundheitszustand der Klägerin im Jahr 2012 auch durch das unfallbedingte Auftreten einer rezidivierenden depressiven Störung mittelgradiger Ausprägung und in der weiteren Folge durch Auftreten einer schweren Sprunggelenksarthrose (links) verschlechtert. Infolge dieser posttraumatischen Arthrose ist der Klägerin am 13.07.2018 eine zementfreie Sprunggelenk-Totalendoprothese (links) eingesetzt worden. Diesbezüglich ist infolge einer gestörten Wundheilung am 23.08.2018 eine operative Wundrevision mit stationärem Krankenhausaufenthalt bis zum 06.09.2018 erfolgt.
Neben den akuten Folgen ist eine nachträgliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Klägerin auch in Gestalt von dauernden Beschwerden eingetreten, die sich insbesondere in Gestalt einer Erhöhung der dauerhaften Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) auf 60% und der dauerhaften Minderung der Haushaltsführungsfähigkeit (MdE) von 40% zeigen. Die Klägerin ist durch die nachträglich eingetretenen Verletzungsfolgen auf Dauer erheblich in ihren sozialen Kompetenzen beeinträchtigt, ihr persönlicher Freiheitsgrad ist reduziert und sie hat einen signifikanten Verlust von Lebensqualität erlitten. So ist die Klägerin nicht mehr belastungsfähig in dem Sinne, dass sie insbesondere längere Strecken von über 500 m nicht schmerzfrei zu Fuß zurücklegen und keine schweren Gegenstände tragen kann. Bei Belastung, in ungünstigen Sitzpositionen und im Liegen treten bei der Klägerin Schmerzen im Bereich des linken Sprunggelenks und der Hüfte auf. Die aufgrund der nachträglich eingetretenen Verletzungsfolgen auf die Behandlung mit Antidepressiva angewiesene Klägerin ist auch bei sportlichen Aktivitäten und in ihrem Sexualleben erheblich eingeschränkt.
Ursächlich für die starken Schmerzen der Klägerin im Bereich der Hüfte, den Knochenabbau, die Erforderlichkeit der vier Revisionsoperationen und die Implantation einer Ersatzprothese wie auch für die diesbezüglichen Dauerfolgen war zur Überzeugung des Gerichts letztlich die im Jahr 2012 akut gewordene periprothetische Infektion im Bereich der Hüftprothese.
Das Vorliegen und die Unfallbedingtheit dieser Infektion ist zur Überzeugung des Gerichts durch das erholte Gutachten des Sachverständigen Dr. M3. belegt. Dem Gutachten des Sachverständigen Dr. M3. lässt sich entnehmen, dass die ursprüngliche Implantation der Hüftprothese im Jahr 2003 aufgrund der ihrerseits durch die bei dem streitgegenständlichen Unfall erlittene Hüftverletzung bedingte Coxarthrose (Hüftarthrose), mithin unfallbedingt, erforderlich geworden ist. Insoweit ist dem Gutachten des Sachverständigen Dr. M3. zu entnehmen, dass der Klägerin die bis 2012 vorhandene Hüftgelenkstotalendoprothese im August 2003 implantiert worden ist, nachdem die zuvor im Juni 2003 erfolgte Implantation einer teilzementierten Hüftkappenendoprothese eine subkapitalen Schenkelhalsfraktur zur Folge hatte. Hinsichtlich der im Jahr 2012 im Bereich der Hüftprothese aufgetretenen Infektion führt der Sachverständige Dr. M3. nachvollziehbar begründet aus, dass sich bei der Klägerin ein unfallbedingt erhöhtes Infektionsrisiko verwirklich habe. Bei der Klägerin sei aufgrund der schweren Deformierung infolge der bei dem verfahrensgegenständlichen Unfall erlittenen Frakturen im Beckenbereich (Hüftpfanne) und Oberschenkelbereich die gesamte Hüftgelenksanatomie deformiert und die Hebelverhältnisse der Knochen verändert gewesen, der Knochen habe seine natürliche Elastizität verloren gehabt und die anhaftende Muskulatur sei stark vernarbt gewesen. Diese Umstände hätten dazu geführt, dass die (unfallbedingt notwendige) Operation länger gedauert habe und mit einem erhöhten Infektionsrisiko verbunden gewesen sei, das sich dann im weiteren Verlauf realisiert habe.
Ausweislich der schriftlichen Gutachten des Sachverständigen Dr. M3. vom 30.11.2016 und 02.11.2017 war die Klägerin ab dem Auftreten der Infektion am 25.10.2012 bis zum 30.11.2013, das heißt auch noch einen erheblichen Zeitraum im Anschluss an die Implantation der Hüftprothese am 19.06.2013, vollständig arbeitsunfähig und zu mindestens 80% in der Haushaltsführungsfähigkeit beeinträchtigt (in den Zeiträumen der stationären Behandlung: MdH 100%).
Bezüglich der Sprunggelenkarthrose und der damit verbundenen Folgen ist das Gericht unter Berücksichtigung des Gutachtens des Sachverständigen Dr. M3. ebenfalls davon überzeugt, dass es sich um eine unfallbedingte Folge der ursprünglich bei dem streitgegenständlichen Unfall erlittenen Verletzungen handelt. Der Sachverständigen Dr. M3. stellt nachvollziehbar begründet dar, dass sich als Folge des streitgegenständlichen Unfalls eine schwere posttraumatische Arthrose im Bereich des oberen Sprunggelenks links nachweisen lasse, welche im Verlauf eine deutliche Progredienz aufweise und künftig möglicherweise weitere Behandlungsverfahren nach sich ziehen werde, wie sie die durch die ärztlichen Behandlungsunterlagen belegte Implantation einer SprunggelenkTotalendoprothese darstellt.
Das Gericht folgt jeweils der Einschätzung des Sachverständigen Dr. M3., an dessen Sachkunde und Zuverlässigkeit keine Zweifel bestehen.
Hinsichtlich der rezidivierenden depressiven Störung mittelgradiger Ausprägung (und der damit verbundenen Dauerfolgen) gelangt der Sachverständige Prof. Dr. M4. im Gutachten vom 20.08.2018 und im Ergänzungsgutachten vom 08.03.2019 zu dem nachvollziehbar begründeten Ergebnis, dass diese durch die (ihrerseits zur Überzeugung des Gerichts unfallbedingte) periprothetische Infektion im Oktober 2012 bedingt sei. Trotz subjektiver psychischer Beeinträchtigungen im Zeitraum zwischen 1989 bis 2012 habe keine als behandlungsbedürftig angesehen psychische Störung bestanden. Erst durch die Komplikation im Oktober 2012 habe sich vorrangig schmerzbedingt, aber auch bedingt durch eine nachhaltige Beeinträchtigung sozialer Kompetenzen, Reduzierung von persönlichen Freiheitsgraden und einem signifikanten Verlust von Lebensqualität eine rezidivierende depressive Störung mittelgradiger Ausprägung manifestiert.
Das Gericht folgt dem Sachverständigen Prof. Dr. M4., an dessen Zuverlässigkeit und Sachkunde ebenfalls keine Zweifel bestehen. Insbesondere hat sich der Sachverständige auch mit der Frage der (hier fehlenden) Auswirkungen eines anderweitig bedingten Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms (ADS bzw. ADHS) auseinandergesetzt.
Das Gericht ist weiterhin davon überzeugt, dass mit den vorbeschriebenen nachträglich eingetretenen Verletzungsfolgen eine weitere dauernde Beeinträchtigung der Klägerin verbunden ist. Zwar ist bereits bei erstmaliger Zuerkennung eines Schmerzensgeldes eine dauerhafte Minderung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin von 30% festgestellt und zur Grundlage der Entscheidung gemacht worden. Indes stellt der Sachverständige Dr. M3. im Gutachten vom 30.11.2016, modifiziert durch das erste Ergänzungsgutachten vom 02.11.2017, plausibel dar, dass die dauerhafte MdE auf orthopädischchirurgischem Fachgebiet 50% betrage. Im Sachverständigengutachten vom 20.08.2018 gelangt der Sachverständige Prof. Dr. M4. für das psychiatrische Fachgebiet zu der nachvollziehbaren Feststellung, dass diesbezüglich die nachträglich eingetretene MdE dauerhaft 20% betrage. Im Ergänzungsgutachten vom 18.11.2019 kommt der Sachverständige Dr. M3. sodann zu dem nachvollziehbar begründeten Schluss, dass insgesamt von einer dauerhaften Gesamt-MdE von 60% auszugehen sei. Unter Berücksichtigung der durch den Sachverständigen Dr. M3. im Gutachten vom 30.11.2016 auf orthopädischchirurgischem Fachgebiet festgestellten MdH von 40% führt der Sachverständige Prof. Dr. M4. im Ergänzungsgutachten vom 08.03.2019 aus, dass die auf psychiatrischem Fachgebiet feststellbare dauerhafte MdH in der auf orthopädischchirurgischem Fachgebiet festgestellten dauernden MdH aufgehe, mithin die dauernde Gesamt-MdH 40% betrage. Das Gericht folgt auch insoweit den Sachverständigen und geht von einem entsprechend erhöhten Dauerschaden aus. Mit diesem Ergebnis decken sich die im Rahmen der persönlichen Anhörung durch die Klägerin gemachten Angaben zu den (im weiter oben dargestellten Umfang bestehenden) dauernden Beeinträchtigungen. Die hiernach auch unter Berücksichtigung des Ergebnisses der weiteren Beweisaufnahme glaubhaften Angaben der Klägerin hat Gericht zwar nicht als Beweismittel, aber – wie allgemein anerkannt – im Rahmen der freien Würdigung des Verhandlungsergebnisses berücksichtigt.
bb) Für die vorbeschriebenen, nachträglich eingetretenen Verletzungsfolgen ist der Klägerin über das früher gezahlte und zugesprochene Schmerzensgeld hinaus weiteres Schmerzensgeld zuzusprechen.
Die vorbeschriebene Verschlechterung des Gesundheitszustands der Klägerin stellt sich nach dem damals (zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Oberlandesgericht München) bereits bekannten sachverständigen Wissen nicht als derart naheliegend dar, dass sie bei der Bemessung des Schmerzensgeldes auf damals (umgerechnet) 30.677,51 € berücksichtigt werden konnte. Verlangt der Geschädigte für erlittene Körperverletzungen uneingeschränkt ein Schmerzensgeld, wie dies die Klägerin in der Vergangenheit getan hat, so werden durch den zuerkannten Betrag alle diejenigen Schadensfolgen abgegolten, die entweder bereits eingetreten und objektiv erkennbar waren oder deren Eintritt jedenfalls vorhergesehen und bei der Entscheidung berücksichtigt werden konnte. Verletzungsfolgen, die zum Beurteilungszeitpunkt noch nicht eingetreten waren und deren Eintritt objektiv nicht vorhersehbar war, mit denen also nicht oder nicht ernstlich gerechnet werden musste und die deshalb zwangsläufig bei der Bemessung des Schmerzensgeldes unberücksichtigt bleiben müssen, werden von der vom Gericht ausgesprochenen Rechtsfolge nicht umfasst und können deshalb Grundlage für einen Anspruch auf weiteres Schmerzensgeld sein. Ob Verletzungsfolgen im Zeitpunkt der Zuerkennung eines Schmerzensgeldes erkennbar waren, beurteilt sich nicht nach der subjektiven Sicht der Parteien oder der Vollständigkeit der Erfassung des Streitstoffes durch das Gericht, sondern nach objektiven Gesichtspunkten, das heißt nach den Kenntnissen und Erfahrungen eines insoweit Sachkundigen. Maßgebend ist, ob sich bereits in jenem Verfahren eine Verletzungsfolge als derart nahe liegend darstellte, dass sie schon damals bei der Bemessung des Schmerzensgeldes berücksichtigt werden konnte. Eine naheliegende Wahrscheinlichkeit der Verschlechterung kann noch bei einem Wahrscheinlichkeitsgrad von 30% – 40% angenommen werden (OLG München, Urteil vom 24.02.2017, Az. 10 U 3261/16 unter Festhaltung an OLG München, Urteil vom 21.05.2010, Az. 10 U 1748/07).
Zwar waren die unfallbedingte Entstehung einer Coxarthrose (Hüftarthrose) und die daraus folgende Erforderlichkeit der im Jahr 2003 erfolgten Operationen mit der Implantation einer Hüfttotalendoprothese links bereits im Beurteilungszeitpunkt objektiv vorhersehbar. Der Sachverständige Dr. M3. hat insoweit plausibel dargestellt, dass im Zeitpunkt der damaligen Urteilsfindung mit einer Wahrscheinlichkeit von rund 50% damit zu rechnen gewesen sei, dass die spätere (erste) Operation zur Hüftstabilisierung (unter Einsatz einer Hüftprothese) wird erfolgen müssen. Indes waren die periprothetische Infektion, die ihrerseits mit einem Knochenabbau, starken Schmerzen und der Erforderlichkeit von vier Revisionsoperationen unter Einsatz einer neuen Hüftendoprothese verbunden war, im Beurteilungszeitpunkt nicht vorhersehbar. Das Gericht folgt insoweit dem Sachverständigen Dr. M3., der nachvollziehbar erläutert hat, dass das Risiko einer entsprechenden Infektion bei der Klägerin nur bei 0,5 – 2% gelegen habe und dass insgesamt das heute auf ca. 20% einzuschätzende Risiko der Erforderlichkeit einer Revisionsoperation zum damaligen Zeitpunkt auf weniger als 20% eingeschätzte worden sei. Damit bestand im damaligen Beurteilungszeitpunkt nach den vorbeschriebenen Grundsätzen keine naheliegende Wahrscheinlichkeit einer entsprechenden Verschlechterung. Die unfallbedingte Entstehung einer rezidivierenden depressiven Störung mittelgradiger Ausprägung war im maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt ebenfalls nicht vorhersehbar. Der psychiatrische Sachverständige Prof. Dr. M4. führt in seinem schriftlichen Gutachten vom 20.08.2018 überzeugend aus, dass sich erst mit der Komplikation im Jahr 2012 eine rezidivierende depressive Störung mittelgradiger Ausprägung manifestiert habe. Im Zeitraum zwischen Unfall und Herbst 2012 hätten die bestehenden psychischen Beschwerden der Klägerin kein derartiges Ausmaß gehabt, dass eine behandlungsbedürftige Störung bestanden hätte. Im schriftlichen Ergänzungsgutachten vom 08.03.2019 hat der Sachverständige Prof. Dr. M4. aus psychiatrischer Sicht nochmals ausdrücklich klargestellt, dass die aktuell diagnostizierbare rezidivierende depressive Störung zum Zeitpunkt des Urteils des Oberlandesgerichts München im Mai 1993 keinesfalls vorhersehbar gewesen sei und im weiteren Ergänzungsgutachten vom 23.08.2019 zusammengefasst festgestellt, dass die periprothetische Infektion im Herbst 2012 mit erforderlicher Revision der Hüft-Endoprothese eine wesentliche Ursache für die rezidivierende depressive Störung sei. Das Gericht folgt der nachvollziehbar begründeten Einschätzung des Sachverständigen. Nachdem damals – wie oben dargestellt – bereits keine naheliegende Wahrscheinlichkeit einer periprothetische Infektion bestand, die vorliegend ihrerseits zentrale Ursache der psychischen Beeinträchtigung ist, bestand im maßgeblichen Zeitpunkt keine naheliegende Wahrscheinlichkeit einer Verschlechterung des Gesundheitszustands in Gestalt der rezidivierenden depressiven Störung mittelgradiger Ausprägung.
Hinsichtlich der unfallbedingten Sprunggelenksarthrose hat der Sachverständige Dr. M3. ausgeführt, dass das Risiko für das Entstehen einer solchen Arthrose bei der streitgegenständlichen Verletzung zwar grundsätzlich etwa 50% betrage, sich aber auf nur 10% – 20% verringere, wenn eine solche Arthrose nicht innerhalb von drei Jahren nach der Verletzung diagnostiziert werde. Die Verletzung datiert vom 14.03.1989. Im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung am 28.05.1993 hat das Oberlandesgericht auf die Feststellungen des Landgerichts, ausweislich derer zum damaligen Zeitpunkt (mehr als drei Jahre nach der Verletzung) keine signifikanten Anzeichen einer Arthrose bestanden, Bezug genommen. Dementsprechend geht das Gericht hier dem Sachverständigen Dr. M3. folgend von einem im maßgeblichen Zeitpunkt objektiv ersichtlichen Arthroserisiko von maximal 10 – 20% aus, so dass damals keine naheliegende Wahrscheinlichkeit einer entsprechenden Verschlechterung bestand.
cc) Bei der Bemessung der als angemessen erachteten Entschädigung in Geld hat das Gericht gemäß § 287 ZPO nach freiem Ermessen insbesondere die Art, Intensität und Dauer der vorbeschriebenen, nachträglich eingetretenen und nicht objektiv vorhersehbaren Verletzungsfolgen, sowie den diesbezüglichen Heilungsverlauf und die diesbezüglichen eingetretenen Dauerschäden berücksichtigt.
Insbesondere hat das Gericht hinsichtlich der akut eingetretenen Verletzungsfolgen berücksichtigt, dass die Klägerin sich aufgrund der mit starken Schmerzen verbundenen Infektion im Bereich der Hüftprothese und der damit weiteren verbundenen Folgen und Beschwerden insgesamt vier Operationen (bis zur letztlich erfolgten Implantation einer Ersatzprothese) hat unterziehen müssen und dass sie über ein Jahr lang vollständig arbeitsunfähig gewesen ist. Hinzu kommen hinsichtlich der akuten Folgen insbesondere zwei weitere Operationen wegen der mit der posttraumatischen Arthrose im Bereich des Sprunggelenks verbundenen Beschwerden inklusive der Implantation eines künstlichen Sprunggelenks sowie der Umstand, dass sich die Klägerin über einen Zeitraum von zusammengerechnet über drei Monaten in stationärer Krankenhausbehandlung befunden hat.
Das Gericht hat zudem berücksichtigt, dass neben den gravierenden akuten körperlichen und psychischen Folgen ein weiterer körperlicher sowie erstmals ein psychischer Dauerschaden bei der Klägerin eingetreten ist. Wie oben dargestellt, ist die Klägerin durch die nachträglich eingetretenen Verletzungsfolgen auf Dauer erheblich in ihren sozialen Kompetenzen beeinträchtigt, ihr persönlicher Freiheitsgrad ist reduziert und sie hat einen signifikanten Verlust von Lebensqualität erlitten. Auch soweit man die festgestellten Quoten der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) und der Haushaltsführungsfähigkeit (MdH) bei der Bemessung des Schmerzensgeldes nicht unmittelbar berücksichtigt, geben sie dennoch starke Anhaltspunkte für den Umfang der dauernden Beeinträchtigungen der Klägerin. Der Umfang der dauerhaften Einschränkung der Erwerbs- und Haushaltsführungsfähigkeit (MdE von 60%, MdH von 40%) belegt eine gravierende dauernde Beeinträchtigung der Klägerin, wie sie diese auch selbst geschildert hat.
Keine schmerzensgelderhöhende Wirkung kommt hingegen den bereits im Zeitpunkt der früheren Entscheidung objektiv vorhersehbaren Verletzungsfolgen zu. Das Entstehen einer unfallbedingten Coxarthrose (Hüft-Arthrose) sowie die dadurch erforderlichen Operationen im Jahr 2003 inklusive der erstmaligen Implantation einer Hüfttotalendoprothese haben insoweit unberücksichtigt zu bleiben, da diesbezüglich bereits mit dem früher titulierten Schmerzensgeld eine Abgeltung erfolgt ist. Nicht unberücksichtigt darf ferner bleiben, dass die Klägerin bereits im Zeitpunkt der früheren Entscheidung in geringerem Maße dauerhaft beeinträchtigt war.
Das Gericht erachtet für die nachträglichen und nicht vorhersehbaren Verletzungsfolgen und Beschwerden eine Erhöhung des Schmerzensgeldes um 60.000,00 € für angemessen. Eine absolut angemessene Entschädigung für nicht vermögensrechtliche Nachteile gibt es nicht, weil diese nicht in Geld messbar sind. Die Höhe des zuzubilligenden Schmerzensgeldes hängt entscheidend vom Maß des durch das haftungsbegründende Ereignis verursachten körperlichen und seelischen Beeinträchtigung des Geschädigten ab. Die Schwere dieser Belastung wird vor allem durch die Stärke, Heftigkeit und Dauer der erlittenen Schmerzen und Funktionsbeeinträchtigung bestimmt. Unter Berücksichtigung der feststehenden unfallbedingten Beschwerden und Verletzungen mit den von der Klägerin geschilderten Auswirkungen in ihrem alltäglichen Leben hält das Gericht unter Berücksichtigung der vollen Haftung der Beklagten bei einer Gesamtschau aller genannten Umstände ein um 60.000,00 € erhöhtes Schmerzensgeld für angemessen, aber auch ausreichend.
Der Erhöhungsbetrag hält sich auch im Rahmen anderer vergleichbarer Entscheidungen. So hat etwa das Oberlandesgericht München mit Urteil vom 25.07.1997, Az. 14 U 125/96, bei septischer Arthritis des linken Hüftgelenks (Krankheitskeime hatten die Hüfte befallen und aller Voraussicht nach musste in Zukunft eine Hüftgelenksprothese eingesetzt werden) ein Schmerzensgeld in einer Höhe von 70.000 DM, nach Indexanpassung heute umgerechnet 47.548,00 €, zugesprochen (Hacks/Wellner/Häcker, Schmerzensgeldbeträge, 39. Auflage, Nr. 1002). Für eine posttraumatisch arthrotische Zerstörung des oberen Sprunggelenks hat das Oberlandesgericht Hamm mit Urteil vom 05.03.1997, Az. 3 U 148/96, ein Schmerzensgeld in einer Höhe von 20.000,00 DM, nach Indexanpassung heute umgerechnet 13.744,00 €, zugesprochen (Hacks/Wellner/Häcker, a.a.O., Nr. 627). Für psychische Folgeschäden einer physischen Primärverletzung hat das Oberlandesgericht München mit Urteil vom 03.05.2013, Az. 10 U 285/13, ein Schmerzensgeld in einer Höhe von 10.000,00 €, nach Indexanpassung heute umgerechnet 10.783,00 €, zugesprochen ((Hacks/Wellner/Häcker, a.a.O., Nr. 3154).
b) Im Antrag zu III.) ist die Klage unbegründet.
Hinsichtlich der mit dem Antrag zu III.) verfolgten Kosten für Heilbehandlungen und Hilfsmittel sowie der entsprechenden Fahrtkosten fehlt es der Klägerin jedenfalls an der erforderlichen Aktivlegitimation.
Die grundsätzliche Eintrittspflicht des Trägers der gesetzlichen Unfallversicherung für die Folgen des streitgegenständlichen Unfalls ist zwischen den Parteien unstreitig. Der Übergang von Schadensersatzansprüchen auf den Sozialversicherungsträger erfolgt nach § 116 SGB X regelmäßig schon im Zeitpunkt des Unfalls, soweit nicht völlig unwahrscheinlich ist, dass der Sozialversicherungsträger dem Geschädigten nach den Umständen des Schadensfalles Leistungen zu erbringen hat, die sachlich und zeitlich mit den Schadensersatzansprüchen des Geschädigten kongruent sind (vgl. BGHZ 19, 177; 127, 120). Dies ist hier der Fall. Bei den geltend gemachten Kosten für Heilbehandlungen, Hilfsmittel und entsprechende Fahrtkosten handelt es sich grundsätzlich um (zu den durch die gesetzliche Unfallversicherung zu erbringenden Leistungen) kongruente Kosten. Dafür, dass die Leistungspflicht der gesetzlichen Unfallversicherung ausscheiden würde bzw. eine Leistung durch die Unfallversicherung völlig unwahrscheinlich wäre, ist vorliegend nichts vorgetragen oder ersichtlich. Insoweit macht die Klägerin nicht etwa die Restkosten einer verbleibenden Zuzahlung oder Selbstbeteiligung geltend, sondern verfolgt die (bereits im Unfallzeitpunkt auf den gesetzlichen Unfallversicherungsträger übergegangenen) Ansprüche selbst in voller Höhe.
II.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 92, 269 Abs. 2 Satz 2 ZPO. Ausgehend von einem Streitwert von insgesamt 78.385,55 € (siehe unten IV.) obsiegt die Klagepartei zu 77 Prozent.
III.
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 709 ZPO bezüglich der Vollstreckung durch die Klagepartei und auf §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO bezüglich der Vollstreckung durch die beklagte Partei.
IV.
Der Streitwert wird gemäß §§ 63 Abs. 2, 39, 40, 48 Abs. 1 GKG i.V.m. §§ 3 ff. ZPO festgesetzt auf insgesamt 78.385,55 €. Dabei wird der Wert des Feststellungsantrags zu IV.) auf 10.000,00 € geschätzt, § 3 ZPO.


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