Sozialrecht

Voraussetzungen einer Erwerbsminderungsrente

Aktenzeichen  L 19 R 930/15

Datum:
4.7.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 16419
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VI § 43 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 S. 1 Nr. 2, S. 2, Abs. 3, Abs. 4 Nr. 1, § 50 Abs. 1 S. 1, § 58 Abs. 1 S. 1 Nr. 6, § 197 Abs. 2, § 198, § 241 Abs. 2

 

Leitsatz

Zu den Voraussetzungen einer Erwerbsminderungsrente.
Aufgrund des Gebots der Ausschöpfung von Behandlungsoptionen ist im Fall bestehender Behandlungsoptionen die Dauerhaftigkeit von Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit nicht  nachgewiesen. (Rn. 55) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 14 R 763/14 2015-11-27 Urt SGNUERNBERG SG Nürnberg

Tenor

I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 27.11.2015 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 144, 151 SGG) ist zulässig, aber nicht begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.
Gemäß § 43 Abs. 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie
1.voll erwerbsgemindert sind,
2.in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Tätigkeit oder Beschäftigung haben und
3.vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Voll erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Die medizinischen Anspruchsvoraussetzungen für eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 1 SGB VI erfordern, dass ein Versicherter nicht mindestens 6 Stunden täglich einsatzfähig ist. Ergänzend führt § 43 Abs. 3 SGB VI aus, dass nicht erwerbsgemindert ist, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig sein kann, wobei die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen ist.
Dabei kann dahingestellt bleiben, ob beim Kläger – auch in Ansehung der diskutierten Behandlungsoptionen – aktuell bzw. seit dem Zeitpunkt der Untersuchung bei Dr. C. und Dipl.-Psych. S. eine volle Erwerbsminderung auf Dauer oder zumindest im Sinne einer Zeitberentung vorliegt. Im Oktober 2017 und später haben beim Kläger jedenfalls die erforderlichen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine entsprechende Rentengewährung gefehlt.
Der Kläger hat zwar unproblematisch die allgemeine Wartezeit von 5 Jahren (§ 50 Abs. 1 Satz 1 SGB VI) erfüllt und zwar schon seit 1987, was jedoch gleichzeitig bedeutet, dass die Ausnahmevorschrift des § 241 Abs. 2 SGB VI nicht eröffnet ist.
Bei fiktiver Annahme eines medizinischen Leistungsfalls im Oktober 2017 würde der Zeitraum der letzten 5 Jahre vor Eintritt der vollen Erwerbsminderung zunächst die Zeit vom Oktober 2012 bis Oktober 2017 umfassen. In diesem Zeitraum sind keine Pflichtbeiträge vorhanden gewesen, wohl aber Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld II ab April 2015. Wenn zu Gunsten des Klägers unterstellt wird, dass der Bezug über den im Versicherungsverlauf vom 07.07.2017 bescheinigten Monat Dezember 2016 nahtlos angedauert hat und dass diese Zeiten von § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 SGB VI erfasst sind, sind 31 Monate Anrechnungszeiten zu berücksichtigen, die nach § 43 Abs. 4 Nr. 1 SGB VI den maßgeblichen 5-Jahreszeitraum entsprechend verlängern. Der verlängerte Zeitraum umfasst somit die Zeit von März 2010 bis Oktober 2017. Auch in diesem verlängerten Zeitraum sind jedoch statt der erforderlichen 36 Monate nur 25 Monate mit Pflichtbeiträgen belegt, so dass die Voraussetzung des § 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB VI für diesen medizinischen Leistungsfall nicht erfüllt wäre.
Zum Zeitpunkt der Rentenantragstellung im September 2013 wäre die Voraussetzung des § 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB VI dagegen erfüllt gewesen. Die für den Kläger während der Laufzeit der Verwaltungs- und Gerichtsverfahren in seiner Rentenangelegenheit noch mögliche Nachentrichtung von freiwilligen Beiträgen (§ 197 Abs. 2 iVm § 198 SGB VI) führt nicht zu einem anderen Ergebnis, da für den Kläger – wie oben ausgeführt – § 241 Abs. 2 SGB VI nicht zur Anwendung kommt. Die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen wären nach dem Versicherungsverlauf des Klägers letztmals erfüllt gewesen, wenn die volle oder teilweise Erwerbsminderung spätestens im Lauf des April 2014 eingetreten gewesen wäre.
Aus den Ermittlungsergebnissen ergibt sich für den Senat deutlich, dass im April 2014 beim Kläger jedoch noch keine quantitative Einschränkung des Leistungsvermögens auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vorgelegen hat. Dr. C. und Dipl.-Psych. S. führen aus, dass die von ihnen angenommene quantitative Limitierung des Einsatzvermögens des Klägers nicht isoliert aus der Schmerzerkrankung resultiere, aber in der Zusammenschau mit den übrigen Gesundheitsstörungen auf psychischem Gebiet abzuleiten und als belegt anzusehen sei. Sie verweisen auf die Unterlagen des behandelnden Arztes Dr. D., aus denen zu ersehen sei, dass trotz Behandlung durch diesen die psychische Situation seit 2016 verschlechtert sei.
Eine stetige Zunahme der – weitgehend unbehandelten – psychischen Einschränkungen des Klägers hin von einer depressiven Verstimmung bei Dr. K. zu einer mittelschweren Depression bei Dr. R. ist auch aus deren im Juni 2014 bzw. Januar 2015 erstellten Gutachten zu entnehmen. Allerdings betraf der festgestellte Schweregrad noch keine quantitative Einschränkung und an beiden Untersuchungszeitpunkten waren zudem die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen bereits nicht mehr erfüllt gewesen.
Allein das Gutachten des Dr. W. war zu einem Zeitpunkt erstellt, zu dem ein medizinischer Leistungsfall noch eine Berentung hätte nach sich ziehen können. Aber weder aus dem Gutachten des Dr. W. noch aus den zeitnahen ärztlichen Unterlagen und Attesten des Dr. D. ist das Bestehen einer quantitativen Leistungseinschränkung beim Kläger spätestens bis April 2014 ersichtlich. Dr. D. spricht im Februar 2014 noch von einer Gefährdung der Erwerbsfähigkeit beim Kläger und erstmals im Juli 2014 hält er eine zeitliche Einschränkung für gegeben, die dann im Folgenden auf deutlich unter 6 Stunden gesunken angenommen wird. Das Attest des Dr. P. vom März 2014 geht auf sozialmedizinische Einschränkungen nicht näher ein und weist nur auf bestehende Behandlungsoptionen hin.
Die Feststellungen des Prof. Dr. B. erfolgten auf Grund einer Untersuchung im Mai 2015. Es wird vom Vorliegen einer schweren Depression und einer Fibromyalgie als zentrale Gesundheitsstörungen gesprochen, was sich im weiteren Verlauf so nicht bzw. nur ansatzweise hat bestätigen lassen. Dass allenfalls zum Zeitpunkt der Untersuchung bei Prof. Dr. B. eine Verschlechterung eingetreten sein könnte, deckt sich mit den Ausführungen des behandelnden Arztes Dr. D., wonach es im Verlauf des Jahres 2015 zu einer deutlichen Verschlechterung gekommen sei. Die sozialmedizinische Beurteilung des Prof. Dr. B. mangelt vor allem daran, dass die Begriffe der vollen Erwerbsminderung und der Arbeitsunfähigkeit nicht in ihrer korrekten Abgrenzung, was Anknüpfungspunkt, Zeitperspektive und Dauerhaftigkeit betrifft, verwendet worden sind. Er spricht von einer fortlaufenden Verschlechterung der gesundheitlichen Störungen beim Kläger auch schon in der Zeit vor der Rentenantragstellung und von einer erheblichen Verschlechterung der Leistungsfähigkeit im Jahr 2013. Diese Feststellungen finden sich in anderen Gutachten so nicht und es ist für den Senat nicht überzeugend nachvollziehbar, auf welche medizinischen Unterlagen diese Annahmen gestützt werden.
Ergänzend ist anzumerken, dass sich für die Zeit vor Mai 2014 keine entsprechenden Hinweise für eine schwere spezifische Behinderung, eine Summierung ungewöhnlicher Einschränkungen oder eine relevante Einschränkung der Wegefähigkeit beim Kläger erkennen lassen. Hinzu käme, dass jedenfalls vor Mai 2014 noch offene ungenutzte Behandlungsoptionen bestanden hätten, die der Kläger auch hätte ergreifen können, nachdem eine wesentliche Verschlechterung der psychischen Situation und das Auftreten der damit einhergehenden Behandlungsblockaden erst im Verlauf des Jahres 2015 erfolgt ist.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats zur notwendigen Ausschöpfung von Behandlungsoptionen (vgl. z.B. Urt. v. 24.05.2017, Az. L 19 R 1074/14, zit. nach juris) ist im Fall bestehender Behandlungsoptionen die Dauerhaftigkeit dieser Einschränkungen nicht bereits nachgewiesen.
Eine Rente wegen voller Erwerbsminderung käme nach der Rechtsprechung des BSG (Beschluss vom 11.12.1969 – Az. GS 4/69; Beschluss vom 10.12.1976 – Az. GS 2/75, GS 3/75, GS 4/75, GS 3/76 – jeweils zitiert nach juris) zwar auch in Betracht, wenn eine teilweise Erwerbsminderung (§ 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI) vorliegen würde, eine Teilzeitbeschäftigung nicht ausgeübt würde und der Teilzeitarbeitsmarkt für den Kläger als verschlossen anzusehen wäre (s.a. Gürtner in: Kasseler Kommentar, Stand, § 43 SGB VI Rn 30 mwN). Unabhängig von der Diskussion darüber, ob diese Rechtsprechung auch aktuell noch zur Anwendung zu bringen ist, scheitert ein derartiger Rentenanspruch daran, dass beim Kläger – wie ausgeführt – zur Überzeugung des Senats vor dem Eintritt der vollen Erwerbsminderung keine teilweise Erwerbsminderung im Rechtssinne nachgewiesen ist.
Das Nichtvorliegen von teilweiser Erwerbsminderung im Zeitraum bis April 2014 schließt auch den Anspruch auf die hilfsweise beantragte Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung (§ 43 Abs. 1 SGB VI) aus.
Ein Antrag auf Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit (§ 240 SGB VI) ist nicht gestellt worden; er hätte auch keinen Erfolg gehabt, weil der Kläger aufgrund seines Geburtsdatums nicht zu dem von dieser Vorschrift erfassten Personenkreis gehört.
Nach alledem war die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 27.11.2015 als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.


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