Sozialrecht

Wegfall der Schwerbehinderteneigenschaft

Aktenzeichen  L 3 SB 94/16

Datum:
8.8.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 139694
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB IX § 2 Abs. 2, § 69 Abs. 1
SGB X § 48 Abs. 1

 

Leitsatz

1 Die Frage, ob die Herabsetzung rechtmäßig ist, beurteilt sich nicht nach dem Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz, sondern nach dem Zeitpunkt des Abschlusses des Verwaltungsverfahrens, d.h des Widerspruchsverfahrens durch den Erlass des Widerspruchsbescheides.  (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
2 Änderungen in den Verhältnissen, die während der Anhängigkeit einer Anfechtungsklage gegen die Aufhebung eines einen bestimmten GdB feststellenden Verwaltungsaktes eingetreten sind, sind  grundsätzlich rechtlich unbeachtlich. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 14 SB 258/15 2016-05-10 GeB SGAUGSBURG SG Augsburg

Tenor

I. Auf die Berufung des Klägers werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 10. Mai 2016 und der Bescheid vom 12. Januar 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Mai 2015 insoweit teilweise aufgehoben und abgeändert, als bei dem Kläger mit Wirkung ab 29. Mai 2015 ein Grad der Behinderung von 40 festzustellen ist.
II. Im Übrigen wird die Berufung des Klägers zurückgewiesen
III. Der Beklagte trägt die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist gemäß §§ 143, 144 und 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig und teilweise begründet. Bei dem Kläger ist mit Wirkung ab Freitag, den 29.05.2015 (= Zugang des Widerspruchsbescheides vom 22.05.2015) ein GdB von 40 festzustellen. Entsprechend dem Beschluss des Senats vom 03.07.2017 hat die Entscheidung dem Berichterstatter zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern oblegen (§§ 105 Abs. 1, 153 Abs. 5 SGG).
Streitgegenständlich ist die mit Bescheid vom 12.01.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.05.2015 getroffene Entscheidung des Beklagten, den GdB von 50 auf 30 herabzusetzen, die der Kläger mit einer Anfechtungsklage angreift. Bei dieser auf § 48 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) gestützten Entscheidungen handelt es sich nicht um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, weil sich der Regelungsinhalt des Herabsetzungsbescheides im teilweisen Entzug des vormals festgestellten GdB erschöpft und der angefochtene Bescheid keine darüber hinausgehende Dauerwirkung hat (ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts – BSG -, vgl. BSG mit Urteil vom 07.12.1983 – 9a RV 26/82 -, Urteil vom 23.06.1993 – 9/9a RVs 1/92 -, Urteil vom 15.08.1996 – 9 RVs 10/94 -). Die Frage, ob die Herabsetzung rechtmäßig ist, beurteilt sich daher nicht nach dem Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz, sondern nach dem Zeitpunkt des Abschlusses des Verwaltungsverfahrens (BSG, Urteil vom 20.04.1993 – 2 RU 52/92 -, Urteil vom 05.05.1993 – 979a RVs 2/92 -, Urteil vom 10.09.1997 – 9 RVs 15/96 -), wobei damit der Abschluss des Widerspruchsverfahrens durch den Erlass des Widerspruchsbescheides gemeint ist (BSG, Urteil vom 12.11.1996 – 9 RVs 5/95 -). Vorliegend ist der Widerspruchsbescheid vom 22.05.2015 am 26.05.2015 abgesandt worden. Er gilt somit als am 29.05.2015 zugestellt.
Würde der maßgebliche Zeitpunkt hingegen auf die letzte mündliche Verhandlung verlegt, würde dies nach Ansicht des BSG dazu führen, dass behauptete oder während des Gerichtsverfahrens tatsächlich eingetretene Änderungen in den gesundheitlichen Verhältnissen des/der (Schwer-)Behinderten zu immer neuen Ermittlungen Anlass geben und den Abschluss des Gerichtsverfahrens in zahlreichen Fällen erheblich verzögern würden. Eine derart bedingte Verzögerung der gerichtlichen Entscheidung bei der Prüfung von Herabsetzungsentscheidungen sieht das BSG aber als unvertretbar an (BSG, Urteil vom 12.11.1996 – 9 RVs 5/95 -). Änderungen in den Verhältnissen, die während der Anhängigkeit einer Anfechtungsklage gegen die (teilweise) Aufhebung eines einen bestimmten GdB feststellenden Verwaltungsaktes eingetreten sind, sind daher grundsätzlich rechtlich unbeachtlich (BSG, Urteil vom 15.08.1996 – 9 RVs 10/94 -).
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme in erster und in zweiter Instanz hat sich bei dem Kläger das nervenfachärztliche Leiden insoweit gebessert, als die bei dem Kläger bestehende seelische Störung mit Somatisierung und chronischem Schmerzsyndrom nicht mehr mit einem Einzel-GdB von 40, sondern nunmehr mit einem Einzel-GdB von 30 zu berücksichtigen ist. Dies haben alle am Verfahren beteiligten Ärzte und Sachverständigen bestätigt: Dr. A. mit nervenfachärztlichem Gutachten vom 03.12.2015, die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie B. mit versorgungsärztlicher Stellungnahme vom 18.01.2016, Dr. Dr. C. mit neurologisch-psychiatrischem Gutachten vom 08.03.2017 und zuletzt die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. B. mit versorgungsärztlicher Stellungnahme vom 20.04.2017.
Insbesondere Dr. Dr. C. hat mit neurologisch-psychiatrischem Gutachten vom 08.03.2017 eingehend dargelegt, dass Anlass des Aufenthaltes des Klägers im Bezirkskrankenhaus S. vom 02.07.2012 bis 01.08.2012 die Nichtverlängerung der Rente gewesen ist und dies den Austrittsprägungsgrad des depressiven Geschehens hergestellt hat. Im psychischen Befund wurden damals „deutliche kognitive mnestische Defizite“ angegeben, psychomotorisch sei der Antrieb reduziert gewesen. Der Affekt sei „verarmt, gedrückt, nicht schwingungsfähig“ erschienen mit verzögerten Antwortlatenzen. Eine ausgeprägte Grübelneigung habe bestanden, außerdem Schlafstörungen, ein wechselhafter Appetit samt Klage „über eine ausgeprägte körperliche Kraftlosigkeit“. Es hätten auch konkrete Suizidgedanken im Vorfeld bestanden. – Eine solche Befundlage hat sich spätestens bei Dr. A. nicht mehr bestätigen lassen, ebenso wenig wie im Rahmen der aktuellen Untersuchung. Deswegen konnte Dr. A. von einer depressiven Entwicklung sprechen (Dysthymie, als Verlängerung einer Anpassungsstörung, in der oben angegebenen Form einer „Verbitterungsstörung“) mit „überlagernder rezidivierender depressiver Störung derzeit eher leicht als mittelgradig“, dies im Gegensatz zu der noch im Bezirkskrankenhaus S. angenommenen schweren depressiven Episode. Auch seien Aggravationstendenzen erkennbar gewesen. Ein konsequenter Behandlungsbedarf auch auf neuropsychiatrischem Gebiet wurde seinerzeit offenbar nicht mehr erfolgt, ebenso wenig wie aktuell. – Wie in der ärztlichen Stellungnahme vom 19.11.2014 festgestellt, hat sich nach 2013 ein konsequenter Behandlungsbedarf bis heute nicht mehr verfolgen lassen, weder organisch bezüglich der Schmerzsituation noch auf psychiatrischem Gebiet. Dem entspricht eine Verbesserung der Befundlage insbesondere im kognitiven Bereich, aber auch betreffend die Suizidalität. – Dem Berichtsverlauf ist weiter zu entnehmen, dass expansive, impulsive und mangelhaft kontrollierte Persönlichkeitsanteile, die die Kontaktfähigkeit gefährdet haben, zumindest relativ in den Hintergrund getreten sind. Expansive Ausnahmezustände wie noch bei Dr. R. (14.06.2011) oder bei Dr. W. (10.12.2012) beschrieben und bei Dr. D. (09.05.2012) noch anfangs gegeben, waren in der Folge zumindest halbwegs beherrschbar, so auch aktuell bei Dr. Dr. C …
Wenn alle vorstehend bezeichneten Ärzte (Dr. A., Frau B., Dr. Dr. C. und Dr. B.) die Herabsetzung des nervenfachärztlichen Einzel-GdB von 40 auf 30 übereinstimmend befürworten, entspricht dies dem Bewertungsrahmen, den die „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ (Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung in der jeweiligen Fassung) vorgeben. Dort ist in Teil B Rz. 3.7 (Neurosen, Persönlichkeitsstörungen, Folgen psychischer Traumen) bestimmt, dass stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) mit einem Einzel-GdB von 30 bis 40 zu berücksichtigen sind. Die vorstehend dargelegte Besserung gebietet es daher auch aus der Sicht des erkennenden Senats, dass der früher zugrunde gelegte diesbezügliche Einzel-GdB von 40 auf 30 herabzusetzen gewesen ist (§ 128 Abs. 1 SGG).
Wenn Dr. Dr. C. mit Gutachten vom 08.03.2017 eine weitere fachfremde Begutachtung nicht für erforderlich hält, bezieht er sich hierbei auf das Wirbelsäulenleiden des Klägers, das er aus neurologischer Sicht, wie der Beklagte, unverändert mit einem Einzel-GdB von 20 bewertet. Bei dem Kläger ist am 14.04.2010 ein Massenprolaps im Bereich L3/4 notfallmäßig operiert worden. Das neuropathisch-nozizeptive Schmerzsyndrom hat sich zwischenzeitlich weitgehend auch ohne Schmerztherapie zurückgebildet, dies sämtlich ohne überdauernde sensomotorische Defizite. Aus neurologisch-orthopädischer Sicht ist ein Schürzen- und Nackengriff möglich, die HWS-Reklination beträgt 30 Grad, die Rotation 60-0-50 Grad, die Seitneige 30-0-20 Grad bei massivem Gegenspann; den Finger-Fußboden-Abstand hat Dr. Dr. C. mit 40 cm gemessen, das Schober sche Zeichen mit 10/13 cm.
Die hieraus resultierende Funktionsbeeinträchtigung ist mit einem Einzel-GdB von 20 zutreffend bewertet. Denn die „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ bestimmen in Teil B Rz. 18.9 vergleichbar, dass Wirbelsäulenschäden mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierende und über Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome) mit einem Einzel-GdB von 20 zu berücksichtigen sind.
Ausgehend von zwei Beschwerdekomplexen mit Einzel-GdB-Werten von 30 (ab dem 29.05.2015) und 20 ist der Gesamt-GdB mit 40 zu bewerten. Denn bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Von Ausnahmefällen abgesehen (z. B. hochgradige Schwerhörigkeit eines Ohres bei schwerer beidseitiger Einschränkung der Sehfähigkeit) führen zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, auch nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichteren Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen („Versorgungsmedizinische Grundsätze“ in Teil A Rz. 3).
Im Falle des Klägers ist zu berücksichtigen, dass sich die bestehenden Funktionseinbußen teilweise überschneiden. Dies gilt vor allem für das chronische Schmerzsyndrom und die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule nach operiertem Bandscheibenschaden.
Nach alledem ist der Berufung des Klägers nur in dem beschriebenen Umfange stattzugeben gewesen. Der Gesamt-GdB beträgt ab dem 29.05.2015 40. Eine entsprechende Steuerbescheinigung gemäß § 33b Einkommensteuergesetz (EStG) ist auszustellen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt das teilweise Obsiegen/Unterliegen beider Parteien.
Die Revision ist nicht zuzulassen, da weder die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat noch das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).


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