Sozialrecht

Widerruf einer wirksamen Anfechtung einer Verpflichtungserklärung

Aktenzeichen  Au 6 K 20.1562

Datum:
17.11.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 35888
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 68
VwGO § 166
ZPO § 114
BGB § 133, § 157
GG Art. 20 Abs. 3
StGB § 263

 

Leitsatz

Tenor

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Anwaltsbeiordnung wird abgelehnt.

Gründe

Der Kläger wendet sich mit seiner Klage gegen die Inanspruchnahme aus einer für seine Tochter und drei ihrer Kinder abgegebenen Verpflichtungserklärung in Höhe von 2.711,31 Euro durch Bescheid des Beklagten und begehrt daneben die Feststellung, dass aus der Verpflichtungserklärung keine Ansprüche mehr hergeleitet werden können. Hierfür begehrt er Prozesskostenhilfe.
I.
Der Kläger verpflichtete sich am 9. November 2018 gegenüber der Ausländerbehörde des Landkreises * für seine am * 1987 geborene Tochter und drei ihrer am * 2009, am * 2015 und am * 2017 geborenen Kinder, eine türkische Familie kurdischer Volkszugehörigkeit, nach § 68 AufenthG die Kosten für den Lebensunterhalt und nach §§ 66, 67 AufenthG die Kosten für die Ausreise der jeweiligen Ausländer zu tragen (Behördenakte Bl. 23). Es wurde hierfür ein Formblatt der Bundesrepublik Deutschland verwendet. Ausweislich dieser Erklärung umfasst die Verpflichtung die Erstattung sämtlicher öffentlicher Mittel, die für den Lebensunterhalt einschließlich der Versorgung mit Wohnraum und der Versorgung im Krankheitsfall und bei Pflegebedürftigkeit aufgewendet werden (z.B. Arztbesuch, Medikamente, Krankenhausaufenthalt). Dies gelte auch, soweit die Aufwendungen auf einem gesetzlichen Anspruch beruhten; im Gegensatz zu Aufwendungen, die auf einer Beitragsleistung beruhten. Im Formular findet sich der Passus, dass der Verpflichtungserklärende u.a. auf Umfang und Dauer der Haftung, die Bindungswirkung dieser Verpflichtung und die Notwendigkeit von Versicherungsschutz hingewiesen worden ist. Der Kläger bestätigte mit seiner Unterschrift zudem, zu der Verpflichtung aufgrund seiner wirtschaftlichen Verhältnisse in der Lage zu sein. Die Ausländerbehörde vermerkte auf den Verpflichtungserklärungen, dass die finanzielle Leistungsfähigkeit des Verpflichtungserklärenden nachgewiesen worden ist.
Die Tochter und Enkelkinder erhielten von der Deutschen Botschaft in * am 12. Dezember 2018 antragsgemäß Schengen-Visa für einen Kurzaufenthalt gültig vom 25. Dezember 2018 bis 2. Januar 2019 erteilt und reisten nach eigenen Angaben am 25. Dezember 2018 auf dem Luftweg ins Bundesgebiet ein, wo sie am 24. Juli 2019 um Asyl nachsuchten. Ihnen wurden vom Beklagten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Asylbewerberleistungsgesetz im Umfang von zunächst 2.711,31 Euro bewilligt (Leistungsübersicht Behördenakte Bl. 86 ff.), nachdem die Tochter einen Antrag auf Leistungen gestellt und auch aufrechterhalten hatte.
Im Rahmen ihrer Anhörung durch den Beklagten zur Leistungsbeantragung teilte sie mit (Behördenakte Bl. 63 ff.), sie sei mit den drei Kindern am 25. Dezember 2018 auf dem Luftweg von * nach * gereist, um ihren Vater zu besuchen. Sie sei mit ihrem in * wohnenden Bruder nach * zu ihrem Vater gefahren. In der Zeit vom 25. Dezember 2018 bis zur Ankunft in * am 26. Juli 2019 sei sie ungefähr eine Woche bei ihrem Vater gewesen. Ihr Vater habe gewollt, dass sie wieder ausreise, was sie aber nicht gewollt habe. Sie hätten gestritten. Deshalb sei sie für eine Weile zu ihrer Schwester nach * gereist, habe ungefähr eine Woche bei ihrer Schwägerin in * verbracht, von dort sei sie zu ihrem anderen Bruder nach, dann wiederum zu ihrer Schwester nach * und von dort aus zu ihrem Bruder nach * gereist. Dieser habe sie letztendlich dazu gedrängt, einen Asylantrag zu stellen. Sie habe 3.500 Euro erspart gehabt und davon die Flüge und die Reise bezahlt; vom restlichen Geld hätten sie die vergangenen Monate gelebt, das sei jetzt bis auf 30 Euro aufgebraucht. Die Frage, ob sie Deutschland in der Zwischenzeit wieder verlassen habe, verneinte sie; sie sei die ganze Zeit in Deutschland gewesen. Ihre Reisepässe habe sie nach dem Streit mit ihrem Vater weggeworfen, damit er sie nicht zurückschicken könne. Auf Information, dass er nun in Haftung für ihren Lebensunterhalt genommen werde, äußerte sie, ihr Vater werde sehr wütend sein und sie habe Angst, dass er ihr und den Kindern etwas antue.
Der Kläger wurde mit Schreiben vom 4. September 2019 zu seiner Inanspruchnahme aus den Verpflichtungserklärungen vom 9. November 2018 angehört und teilte mit, seine Tochter sei kurz vor Weihnachten 2018 zu ihm gekommen und am 29. Dezember 2018 mit ihren Kindern von seinem Sohn abgeholt worden. Sie habe ihm mitgeteilt, dass sie nach Frankreich fliegen wollten. Seit dieser Zeit wisse er nichts mehr von seiner Tochter, wo sie wohne, was sie tue; er habe keinen Kontakt mehr zu ihnen und sei davon ausgegangen, dass sie wieder in der Türkei seien. Da sie nicht bei ihm geblieben seien, könne er auch nicht für sie sorgen. Er müsse deshalb seine Verpflichtung zurücknehmen (ebenda Bl. 70).
Der Beklagte wies den Kläger schriftlich darauf hin, er werde aus seiner Verpflichtungserklärung in Anspruch genommen und sollte er von einem Anfechtungsrecht Gebrauch machen, müsse er dies gegenüber jener Ausländerbehörde mitteilen, gegenüber der er die Verpflichtungserklärung abgegeben habe.
Der Kläger ließ seinen Bevollmächtigten mit Schreiben vom 15. November 2019 die Verpflichtungserklärung nach § 119 ff. BGB anfechten und berief sich auf einen Wegfall der Geschäftsgrundlage. Der Zweck der Abgabe der Verpflichtungserklärung sei gewesen, dass die Tochter mit ihren Kindern zu Besuch (Urlaub) zu ihrem Vater und Geschwistern nach Deutschland kommen wolle, sie sei bereits zuvor zweimal für jeweils drei Monate zu Besuch in Deutschland gewesen und dann in die Türkei zurückgekehrt. Dem Kläger sei jedoch nicht bekannt, dass seine Tochter mit den Kindern nach Ablauf der maximal 90 Tage dauernden Urlaubszeit gar nicht aus der Bundesrepublik ausgereist sei und stattdessen einen Asylantrag gestellt habe. Das Besuchsvisum müsse zeitlich spätestens im März 2019 ungültig geworden sein, womit der Zweck der Verpflichtungserklärung erfüllt sei. Der Asylantrag sei jedoch offensichtlich erst im Juli 2019 und nicht während des Besuchs oder vor Ablauf des Visums erfolgt, sodass ein Zweckwechsel vorliege, der zur Anfechtung berechtige. Der Kläger sei auch nicht leistungsfähig.
Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 18. August 2020 verpflichtete der Beklagte den Kläger bis zum 4. September 2019 zur Erstattung von 2.711,31 Euro für der Tochter und deren Kindern im Zeitraum vom 27. Juli 2019 bis 26. Januar 2020 erbrachter Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die genannten Leistungen erbracht worden seien und der Kläger sich mit der Verpflichtungserklärung vom 9. November 2018 für den Zeitraum von maximal 5 Jahren zur Erstattung sämtlicher öffentlicher Mittel verpflichtet habe. Ein atypischer Fall liege nicht vor, da die finanzielle Belastbarkeit des Klägers im Rahmen der Abgabe der Verpflichtungserklärung voll und individuell geprüft worden sei. Eine im weiteren Verlauf eingetretene Verschlechterung der finanziellen Situation liege hier nicht vor, insbesondere seien trotz Aufforderung keine Nachweise durch seinen Bevollmächtigten vorgelegt worden. Es spreche daher nichts dafür, dass die Heranziehung zur vollumfänglichen Kostenerstattung den Kläger unzumutbar belaste. Die angegebene Summe stehe vorbehaltlich weiterer anfallender Leistungen. Der Beklagte mahnte die Zahlung mit Schreiben vom 7. September 2020 an und bot Ratenzahlung an.
Gegen den seinem Bevollmächtigten am 22. August 2020 zugestellten Bescheid ließ der Kläger am 7. September 2020 Klage erheben (Au 6 K 20.1562), einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO stellen (Au 6 S 20.1716) und neben Prozesskostenhilfe beantragen,
1. Der Bescheid des Beklagten vom 18. August 2020 wird aufgehoben.
2. Es wird festgestellt, dass aus der Verpflichtungserklärung nach § 68 AufenthG des Klägers vom 9. November 2018 keine Ansprüche mehr hergeleitet werden können.
Zur Begründung ließ er unter Vertiefung seines Vorbringens im Verwaltungsverfahren ausführen, dass der Kläger nicht hafte, da seine Tochter nach seiner Kenntnis mit ihren Kindern und ihrem Bruder im Januar 2019 nach Frankreich ausgereist sei und sich wohl nach Ablauf ihres 90-tägigen Besuchsvisums illegal im Bundesgebiet an einem ihm unbekanntem Ort aufgehalten habe oder wohl in die Türkei zurückgereist sei. Dass sich die Tochter mit Kindern seit der Einreise am 25. Dezember 2018 ununterbrochen in Deutschland aufgehalten habe, werde ausdrücklich bestritten. Außerdem habe der Beklagte ihm die angeblichen Niederschriften und Unterlagen nicht zugänglich gemacht. Die Verpflichtungserklärung sei ohnehin erloschen, da ihr Zweck mit dem Besuch beim Kläger erfüllt worden sei. Auch die Stadt * mache Ansprüche gegen den Kläger aufgrund der Verpflichtungserklärung geltend, sodass er weitere Inanspruchnahmen befürchte. Außerdem sei der Kläger nicht finanziell leistungsfähig: Der Kläger legte je einen Bescheid über Einkommensteuer für die Jahre 2017 und 2018 vor, wonach er ein zu versteuerndes Einkommen von 15.667 Euro bzw. 21.605 Euro erzielt und darauf 1.402 Euro bzw. 2.899 Euro Einkommensteuer habe entrichten müssen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Unter Vertiefung der Begründung des Bescheids gehe der Beklagte davon aus, dass sich die Tochter mit Kindern durchgängig in Deutschland aufgehalten habe; gegenteilige Nachweise seien vom Kläger nicht vorgelegt worden. Selbst wenn die Familie nach Frankreich ausgereist sein sollte, habe die Verpflichtungserklärung jedoch Bestand, da sie sich auf einen Zeitraum von 5 Jahren erstrecke und die Ausreise in einen der Schengen-Staaten mit Besuchervisum und mit anschließender Rückreise ins Bundesgebiet die Verpflichtungserklärung nicht erlöschen lasse (§ 2 Abs. 5 AufenthG). Die Wirkung der Verpflichtungserklärung ende nicht mit der Asylantragstellung, denn die im Asylverfahren erteilte Aufenthaltsgestattung sei kein anderer Aufenthaltstitel als das Besuchsvisum, sodass kein Zweckwechsel des Aufenthalts vorliege. Der vorgelegte Bescheid über Einkommensteuer für das Jahr 2017 sei unerheblich, da die finanzielle Leistungsfähigkeit des Klägers im November 2018 ausschlaggebend sei. Die Angaben des Klägers zu seinen Einkünften seien nicht nachvollziehbar, da er angegeben habe, ein kreditfinanziertes Haus und einen Pkw zu besitzen und neben diesen laufenden Ausgaben auch noch den Lebensunterhalt für sich, seine Frau und sein Kind bestreiten wolle. Der Kläger habe bei Abgabe der Verpflichtungserklärung seine finanzielle Leistungsfähigkeit bestätigt und könne sich daher nicht nachträglich auf fehlende Leistungsfähigkeit berufen. Es sei kein Anfechtungsgrund oder Wegfall der Geschäftsgrundlage, dass der Kläger evtl. nur einen Besuchsaufenthalt seiner Tochter mit deren Kindern beabsichtigt habe, diese jedoch offensichtlich einen Daueraufenthalt im Bundesgebiet. Die Verpflichtungserklärung diene gerade der Absicherung der Kosten für den Lebensunterhalt.
Wegen der Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die Behördenakten verwiesen.
II.
Dem Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Anwaltsbeiordnung kann nicht entsprochen werden.
Gemäß § 166 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Hinreichende Erfolgsaussicht ist etwa dann gegeben, wenn schwierige Rechtsfragen zu entscheiden sind, die im Hauptsacheverfahren geklärt werden müssen. Auch wenn eine Beweisaufnahme ernsthaft in Betracht kommt und keine konkreten Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass diese mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil des Mittellosen ausgehen wird, ist vorab Prozesskostenhilfe zu gewähren (vgl. BVerfG, B.v. 14.4.2003 – 1 BvR 1998/02 – NJW 2003, 2976). Insgesamt dürfen die Anforderungen an die Erfolgsaussichten eines gerichtlichen Verfahrens nicht überspannt werden, eine gewisse Wahrscheinlichkeit des Erfolges genügt (Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 166 Rn. 26). Die Beiordnung eines Rechtsanwalts ist im Verfahren ohne Vertretungszwang immer geboten, wenn es in einem Rechtsstreit um nicht einfach zu überschauende Tat- und Rechtsfragen geht (Eyermann, a.a.O., Rn. 38).
Die nur teilweise zulässigen Klagen sind voraussichtlich unbegründet. Der Bescheid des Beklagten vom 18. August 2020 ist voraussichtlich rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Die Klagen sind als Anfechtungsklage gegen die bereits erfolgte Inanspruchnahme aus der Verpflichtungserklärung zulässig, aber als vorbeugende Feststellungsklage gegen eine künftige Inanspruchnahme aus der Verpflichtungserklärung unzulässig, da insofern das Rechtsschutzbedürfnis für die Inanspruchnahme vorbeugenden Rechtsschutzes fehlt. Es ist dem Kläger zumutbar, etwaige künftige Inanspruchnahmen aus der Verpflichtungserklärung durch Bescheidserlass mit Bezifferung der Forderung abzuwarten. Abgesehen davon ist die Stadt * als heute zuständige Sozialleistungsträgerin für die Tochter und ihre Kinder nicht Beteiligte dieses Klageverfahrens, sodass auch deswegen für eine vorbeugende Feststellungsklage gegen den Beklagten das Feststellungsinteresse fehlt.
2. Die Klagen sind bzw. wären voraussichtlich unbegründet. Die Anfechtungsklage ist unbegründet, da der angefochtene Bescheid vom 18. August 2020 nicht rechtswidrig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt. Auch die vorbeugende Unterlassungsklage wäre, sofern sie zulässig wäre, unbegründet, weil eine weitere Inanspruchnahme des Klägers aus der für einen Zeitraum von fünf Jahren abgegebenen Verpflichtungserklärung derzeit nicht erkennbar rechtswidrig wäre.
Der Bescheid vom 18. August 2020 ist voraussichtlich rechtmäßig. Die vom Kläger abgegebene Verpflichtungserklärung vom 9. November 2018 ist formwirksam und erstreckt sich in sachlicher Hinsicht auf die hier zu erstattenden Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (siehe a)). Die damit begründete Haftung dauerte in den streitgegenständlichen Leistungszeiträumen noch an, da sie nicht dadurch beendet wurde, dass den Begünstigten eine Aufenthaltsgestattung von Gesetzes wegen nach § 55 AsylG zukommt (siehe b)). Die Verpflichtungserklärung ist auch nicht wirksam angefochten oder widerrufen (siehe c)) oder wegen einer Zwangslage für den Kläger unwirksam (siehe d)). Die Heranziehung des Klägers ist auch nicht unverhältnismäßig (siehe e)).
Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung (vgl. BVerwG, U.v. 26.1.2017 – 1 C 10.16 – juris Rn. 17 m.w.N.; OVG Nds., U.v. 11.2.2019 – 13 LB 435/18 – juris Rn. 24), hier also der Zustellung des Bescheids vom 18. August 2020 am 22. August 2020. Maßgeblich ist das Aufenthaltsgesetz in der Fassung vom 15. August 2019 (BGBl. I, S. 1307).
Nach § 68 Abs. 1 Satz 1 AufenthG hat, wer sich der Ausländerbehörde oder einer Auslandsvertretung gegenüber verpflichtet hat, die Kosten für den Lebensunterhalt eines Ausländers zu tragen, für einen Zeitraum von fünf Jahren sämtliche öffentlichen Mittel zu erstatten, die für den Lebensunterhalt des Ausländers einschließlich der Versorgung mit Wohnraum sowie der Versorgung im Krankheitsfalle und bei Pflegebedürftigkeit aufgewendet werden, auch soweit die Aufwendungen auf einem gesetzlichen Anspruch des Ausländers beruhen. Gemäß § 68 Abs. 2 Satz 3 AufenthG steht der Erstattungsanspruch der öffentlichen Stelle zu, die die öffentlichen Mittel aufgewendet hat.
a) Hier begründet die Verpflichtungserklärung vom 9. November 2018 eine Erstattungspflicht für die in Streit stehenden Sozialleistungen.
Vorliegend hat sich der Kläger mit Verpflichtungserklärung vom 9. November 2018 gegenüber der Ausländerbehörde des Landkreises * schriftlich verpflichtet, für vier Mitglieder einer türkischen Familie – seine Tochter und drei Enkel -nach § 68 AufenthG die Kosten für den Lebensunterhalt zu tragen. Somit entspricht die Erklärung dem Schriftformerfordernis des § 68 Abs. 2 Satz 1 AufenthG; insbesondere wurde das vorgeschriebene bundeseinheitliche Formular verwendet (vgl. Nr. 68.2.1.1.1 Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz – AVwV). Die Erstattungspflicht gilt nach dem Inhalt der Verpflichtungserklärungen auch für Unterhaltsleistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch.
b) Die mit der Verpflichtungserklärung vom 9. November 2018 begründete Haftung erfasst zeitlich den streitgegenständlichen Zeitraum vom 27. Juli 2019 bis 26. Januar 2020.
Nach § 68 Abs. 1 Satz 3 AufenthG beginnt der Zeitraum der Haftung mit der durch die Verpflichtungserklärung ermöglichten Einreise des begünstigten Ausländers, hier also am 25. Dezember 2018 und dauert bis zum 25. Dezember 2023.
Nach § 68 Abs. 1 Satz 4 AufenthG erlischt die Verpflichtungserklärung vor Ablauf des Zeitraums von fünf Jahren ab Einreise des Ausländers nicht durch Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Abschnitt 5 des Kapitels 2 oder durch Anerkennung nach § 3 oder § 4 AsylG, erst recht nicht durch eine Aufenthaltsgestattung nach § 55 AsylG, die kein Aufenthaltstitel ist (arg. ex § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG). Der Kläger hat die Verpflichtungserklärung am 9. November 2018 abgegeben und dazu bundeseinheitlich verwendete Formblätter ausgefüllt, aus welchen sich zur Dauer der Verpflichtung ergibt, dass diese vom Tag der voraussichtlichen Einreise des Ausländers bis zur Beendigung dessen Aufenthalts oder bis zur Erteilung eines Aufenthaltstitels zu einem anderen Aufenthaltszweck dauern soll. Damit ist die sachliche und zeitliche Reichweite der eingegangenen Verpflichtung eindeutig bestimmt. Zweck der Begrenzung der Verpflichtungserklärung auf fünf Jahre und der Regelung, dass die Erteilung eines (anderen) humanitären Aufenthaltstitels die Haftung des Verpflichtungsgebers aus der Verpflichtungserklärung vor Ablauf des Zeitraums von fünf Jahren unberührt lässt, ist die Klarstellung, dass durch die Zuerkennung internationalen Schutzes und durch die anschließende Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 1 oder 2 AufenthG kein Zweckwechsel eintritt, der die Fünfjahresfrist verkürzt (vgl. BT-Drs. 18/8615, S. 24, 48). Erst recht tritt kein Zweckwechsel durch das bloße Asylverfahren ein. Schließlich ist auch keine Rückkehr in die Türkei ersichtlich, sondern nur vom Kläger ebenso behauptet wie eine angebliche Weiterreise nach Frankreich.
Die gesetzliche Geltungshöchstdauer von fünf Jahren ist noch nicht erreicht und es ist nichts ersichtlich, weswegen die Verpflichtungserklärung als einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung ausgehend von diesem bundeseinheitlichen Formular gemäß §§ 133, 157 BGB anders ausgelegt werden müsste (vgl. BayVGH, B.v. 26.8.2020 – 10 ZB 20.1516 – Rn. 9 m.w.N.).
c) Ein wirksamer Widerruf oder eine wirksame Anfechtung der Verpflichtungserklärung sind nicht ersichtlich.
Der Kläger kann sich nicht auf einen Inhalts- oder Erklärungsirrtum nach §§ 119 ff. BGB analog berufen, denn bei Abgabe der Verpflichtungserklärung kannte er seine darin formulierte und mit Unterschrift übernommene Verpflichtung. Ein etwaiger Motivirrtum des Klägers, seine Haftung ende mit dem Ende des Besuchs bei ihm oder mit Ablauf der erteilten Schengen-Visa, ist rechtlich und angesichts des klaren Wortlauts der Verpflichtungserklärung auch sachlich ebenso unbeachtlich wie ein etwaiger Motivirrtum des Klägers, seine Haftung ende mit einer Ausreise der Tochter und ihrer Kinder nach Frankreich, denn da seinen Angehörigen Schengen-Visa erteilt wurden, waren diese für den gesamten Schengen-Raum gültig, nicht nur für Deutschland. Selbst wenn der Kläger von seiner Tochter über den Zweck ihrer Einreise – Daueraufenthalt statt lediglich Kurzbesuch – getäuscht worden wäre, wäre ihre Täuschung auch dem Landkreis * nicht bekannt gewesen, der auf Anfrage der deutschen Botschaft wegen des Antrags auf Besuchsvisum ebenfalls nur von einem Besuchsaufenthalt ausging (arg. ex § 123 Abs. 2 Satz 1 BGB analog). Daher liegt auch kein Anfechtungsgrund vor.
Schließlich konnte der Kläger seine Erklärung auch nicht mehr wirksam gegenüber dem Landkreis * widerrufen, nachdem sie diesem am 9. November 2018 bereits schriftlich zugegangen war (arg. ex § 130 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 BGB).
Es sind auch sonst keine Gründe ersichtlich, die den Kläger berechtigen würden, sich nachträglich durch einseitige Erklärung von der übernommenen Verpflichtung zu lösen. Hierzu eignen sich nur die Fälle eines vom Erklärungsinhalt abweichenden Willens, deren Berücksichtigung der Empfänger der Verpflichtung billigerweise nicht ablehnen kann (vgl. zu einzelnen Fallgruppen vgl. Funke-Kaiser in GK-AufenthG, § 68 Rn. 32 ff. [Stand: 88. EL April 2017]). Solche Umstände sind weder vorgetragen worden noch sonst ersichtlich.
d) Die Verpflichtungserklärung ist auch nicht wegen einer etwaig bestehenden Zwangslage des Klägers unwirksam.
Aus dem Umstand, dass der Verpflichtungserklärende mit der Verpflichtungserklärung einem inneren Gebot zur Hilfeleistung (etwa aufgrund familiärer Verbindung) folgt, sie also in einer etwa als Zwangslage empfundenen Situation abgibt, folgt nicht, dass ihre Entgegennahme durch die Ausländerbehörde sittenwidrig oder mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar ist (vgl. BayVGH, B.v. 22.2.2009 – 19 C 07.2884 – juris). Bei der Voraussetzung des gesicherten Unterhalts – mit der Abgabe einer Verpflichtungserklärung wird dieses gesetzliche Hindernis beseitigt – geht es nicht um die Koppelung einer staatlichen Vergünstigung an eine Gegenleistung (vgl. § 56 VwVfG), sondern darum, dass eine begünstigende Entscheidung nur bei Vorliegen ihrer gesetzlichen Voraussetzungen getroffen werden kann. Trägt der an einer positiven Entscheidung Interessierte nicht das in seiner Macht Stehende dazu bei, die Voraussetzungen des andernfalls nicht erfüllten Begünstigungstatbestandes zu schaffen, nötigt die Rechtslage die Behörde dazu, die Begünstigung zu versagen. Einen entsprechenden Hinweis zu geben, ist ihre Pflicht und hat mit der Ausnutzung einer Machtstellung nichts zu tun (vgl. BVerwG, U.v. 24.11.1998 – 1 C 33/97 – juris Rn. 44).
e) Die Inanspruchnahme aus der Verpflichtungserklärung widerspricht voraussichtlich nicht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung aus Art. 20 Abs. 3 GG und das Gebot, bei der Aufstellung und Ausführung des Haushaltsplans die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit zu beachten (§ 6 Abs. 1 Haushaltsgrundsätzegesetz), verlangen grundsätzlich, dass die öffentliche Hand ihr zustehende Geldleistungsansprüche durchzusetzen hat. Davon kann jedoch bei Vorliegen atypischer Gegebenheiten – auch im Falle des Erstattungsanspruchs des § 68 AufenthG – abgewichen werden. Demgemäß ist der Verpflichtete im Regelfall zur Erstattung heranzuziehen, ohne dass es dahingehender Ermessenserwägungen bedürfte (vgl. BVerwG, B.v. 18.4.2018 – 1 B 6/18 – juris Rn. 9 m.w.N.). Ein Regelfall ist zu bejahen, wenn die Voraussetzungen des Aufenthaltstitels einschließlich der finanziellen Belastbarkeit der Verpflichteten im Verwaltungsverfahren geprüft worden sind und nichts dafür spricht, dass die Heranziehung zu einer unzumutbaren Belastung führen könnte. Im Falle des Vorliegens eines atypischen Falls, dessen Vorliegen anhand einer wertenden Betrachtung aller Umstände des Einzelfalls zu entscheiden ist, hat die erstattungsberechtigte Stelle im Wege des Ermessens zu entscheiden, in welchem Umfang der Anspruch geltend gemacht wird (vgl. BVerwG, B.v. 18.4.2018 – 1 B 6/18 – juris Rn. 9; U.v. 13.2.2014 – 1 C 4.13 – juris Rn. 16). Im Übrigen ist unter Würdigung vornehmlich der Umstände, unter denen die Verpflichtungserklärung abgegeben worden ist, zu klären, ob die Heranziehung zur vollen Erstattung der Aufwendungen gemäß § 68 AufenthG namentlich im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gerechtfertigt ist oder ob es weiterer Erwägungen bedarf, um zu einem angemessenen Interessenausgleich zu gelangen (BVerwG, U.v. 24.11.1998 – 1 C 33.97 – juris Rn. 60).
Es liegen hier voraussichtlich keine atypischen Gegebenheiten vor, die eine Abweichung vom Regelfall der Durchsetzung des Erstattungsanspruchs durch den Beklagten rechtfertigen würden. Es ist im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung nicht vorgetragen oder ersichtlich gewesen, dass die Voraussetzungen der Aufenthaltstitel nicht vorgelegen hätten. Angesichts der Angabe der Ausländerbehörde des Landkreises * in der streitgegenständlichen Verpflichtungserklärung, dass der Kläger seine finanzielle Leistungsfähigkeit glaubhaft gemacht hat, konnte der Beklagte vorliegend insbesondere davon ausgehen, dass die finanzielle Belastbarkeit des Klägers von der Ausländerbehörde geprüft worden ist und dass die Heranziehung des Klägers zu keiner unzumutbaren Belastung führen wird. Der Kläger hat in der Verpflichtungserklärung im Gegenteil bestätigt, dass er aufgrund seiner wirtschaftlichen Verhältnisse zu den Verpflichtungen in der Lage sei. Der Kläger hat erst im Klageverfahren dem Beklagten offenbart, dass er schon im Jahr 2017 nur geringe Einkünfte gehabt hat. Wer aber gegenüber der Ausländerbehörde ausdrücklich erklärt hat, zu den eingegangenen Verpflichtungen wirtschaftlich in der Lage zu sein, kann sich später nicht darauf berufen, dass die Ausländerbehörde seine Bonität nicht oder nicht genau geprüft habe (vgl. BayVGH, B.v. 26.8.2020 – 10 ZB 20.1516 – Rn. 10 m.w.N.).
Sollte sich im Klageverfahren gar herausstellen, dass der Kläger die Ausländerbehörde bei der Abgabe der Verpflichtungserklärung über seine Einkommens- und Vermögensverhältnisse getäuscht hätte, um seiner Tochter und Enkeln zu die Einreise ermöglichenden Visa zu verhelfen, obwohl er finanziell leistungsunfähig gewesen wäre, stünde eine Strafbarkeit nach § 263 StGB im Raum.
Ein atypischer Ausnahmefall liegt hier auch nicht darin begründet, dass der Kläger aus familiärer oder humanitärer Solidarität die Verpflichtungserklärungen abgegeben hätte. Die Besuchseinladung diente hier allein privatnützigen Motiven der beteiligten Personen, nicht der anderweitigen Erfüllung öffentlicher humanitärer Verpflichtungen.
Selbst etwaige moralische oder familiäre Motive entbänden den Verpflichtungsgeber aber nicht von seiner Verpflichtung gegenüber der Allgemeinheit, die den Begünstigten die Einreise unter dem ausdrücklichen Ausschluss einer finanziellen Belastung der Sozial- und Steuerkassen ermöglicht hat. Angesichts der zeitlichen Begrenzung der Verpflichtungserklärungen auf fünf Jahre (vgl. § 68 Abs. 1 Satz 4 AufenthG) ist nicht mit einer ungewissen Dauer des Aufenthalts der Begünstigten und einem damit verbundenen Risiko zu rechnen, zu Erstattungen in kaum abschätzbarer Höhe verpflichtet zu werden.
f) Soweit der Kläger einwendet, er habe die Unterlagen des Beklagten nicht einsehen können, weil ihm die Behördenakte nicht zugänglich sei, hätte er Akteneinsicht nehmen können (§ 100 VwGO), die er aber nicht beantragt hat.


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