Sozialrecht

Widerspruchsbescheid, Witwerrente, Entscheidung durch Gerichtsbescheid, Zurückverweisung, Sozialgerichtsgesetz, Landessozialgericht, Versicherungszeiten

Aktenzeichen  L 13 R 533/18

Datum:
28.11.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 35450
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
GVG § 184
SGG § 159
SGG § 61
VO (EG) 883/2004 Art.76

 

Leitsatz

1. Ein Versicherter, der Versicherungszeiten auch in einem Mitgliedsland der EU zurückgelegt hat und hieraus eine Rente bezieht, ist in Verfahren, die die Berechnung seiner Rente betreffen, berechtigt, Schriftsätze wirksam und fristwahrend in der Sprache dieses Landes (hier in slowakischer Sprache) einzureichen.
2. Auf die Frage, ob das Begehren im konkreten Fall zulässig ist, kommt es für die Frage eines grenzüberschreitenden Bezugs nicht an.
3. Zu den Voraussetzungen einer Zurückverweisung an das Sozialgericht.

Verfahrensgang

S 26 R 339/18 2018-07-25 GeB SGMUENCHEN SG München

Tenor

I. Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 25. Juli 2018 aufgehoben und der Rechtsstreit an das Sozialgericht München zurückverwiesen.
II. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die Berufung ist gemäß §§ 143,151 SGG zulässig, insbesondere statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt. Die Berufung ist im Sinne der zuletzt vom Kläger beantragten Aufhebung des Gerichtsbescheids vom 25.07.2018 und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Sozialgericht auch begründet. Gemäß § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG kann das Landessozialgericht durch Urteil die mittels Berufung angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn dieses die Klage abgewiesen hat, ohne in der Sache selbst zu entscheiden. Vorliegend hat das Sozialgericht entschieden, dass bereits eine wirksame Klage nicht vorliege und die Klage ohne weitere rechtliche Prüfung oder Befassung mit dem Streitgegenstand als unzulässig und damit durch Prozessurteil abgewiesen. Diese Auffassung hält einer rechtlichen Überprüfung jedoch nicht stand. Ob die Aufrechnung im streitigen Bescheid vom 29.11.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 02.02.2018 rechtmäßig erfolgt ist und ob der auf Neuberechnung und Nachzahlung gerichtete Antrag des Klägers zulässig ist, ist vom Senat nicht zu prüfen.
1. Die Berufung ist ungeachtet der Tatsache, dass sie innerhalb der Berufungsfrist von einem Monat nach Zustellung des streitigen Gerichtsbescheids nur in slowakischer Sprache eingelegt worden ist, zulässig. Die Berufung ist innerhalb der Monatsfrist schriftlich beim Landessozialgericht eingegangen. Aus den beigefügten Anlagen ergeben sich sowohl die angefochtene Entscheidung des Sozialgerichts als auch der Beklagte (§ 151 SGG).
Der Zulässigkeit der Berufungseinlegung steht nicht entgegen, dass sie in slowakischer und nicht in deutscher Sprache verfasst worden ist.
Zutreffend ist, dass nach § 61 Abs. 1 SGG i.V.m. § 184 Abs. 1 GVG die Gerichtssprache deutsch ist. Die gesetzliche Normierung der deutschen Sprache als Gerichtssprache betrifft alle Verfahrensstadien im sozialgerichtlichen Verfahren, nicht nur die Sitzung. Sie gilt für alle Erklärungen des Gerichts und gegenüber dem Gericht. Umstritten ist, ob Beteiligte verpflichtet sind, fremdsprachigen Schriftsätzen eine deutsche Übersetzung von einem beeidigten Dolmetscher beizufügen. Grundsätzlich haben fremdsprachlich eingereichte Schriftsätze keine unmittelbare rechtserhebliche Wirkung (Stäbler in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl. 2017, § 61 SGG, BSG, Urteil vom 22.10.1986 – 9a RV 43/85, Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 26.04.2001 – L 7 U 4894/99 -). Gleichwohl ist das Gericht aufgrund Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) verpflichtet, dem Einreicher aufzugeben, eine Übersetzung beizufügen. Wiedereinsetzung in Fristen ist ggf. zu gewähren und von Amts wegen eine Übersetzung einzuholen, wenn hinreichende Anhaltspunkte dafür bestehen, dass es sich hierbei um ein Klage- oder Rechtsschutzbegehren handeln könnte (FG Hamburg, Urteil vom 15.03.2017 – 4 K 18/17; BVerfG, Beschluss vom 10.06.1975 – 2 BvR 1074/74 – BVerfGE 40, 95).
Dies gilt allerdings nur dann, wenn sich nicht aus vorrangigen Gemeinschaftsregelungen etwas anderes ergibt. Dabei ist vor allem Art. 76 Abs. 7 VO (EG) 883/2004 zu beachten, wonach Behörden, Träger und Gerichte eines Mitgliedstaates die bei ihnen eingereichten Anträge oder sonstigen Schriftstücke nicht deshalb zurückweisen dürfen, weil sie in einer Amtssprache eines anderen Mitgliedsstaats abgefasst sind, die als Amtssprache der Organe der Gemeinschaft anerkannt ist. Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.
Der zur Wahrnehmung der Sprachenregelung berechtigte Personenkreis ergibt sich zunächst aus dem persönlichen Anwendungsbereich (Art. 2 VO (EG) 883/2004). Dies sind Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, Staatenlose und Flüchtlinge mit Wohnort in einem Mitgliedstaat, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, sowie für ihre Familienangehörigen und Hinterbliebenen. Außerdem muss ein grenzüberschreitender Bezug vorliegen, ein rein interner Sachverhalt genügt nicht (EuGH, Urteil vom 22.09.1992 – Rs. C-153/91 (Petit), Slg. 1992 I-4973 – für den Fall eines belgischen Staatsangehörigen, der stets in Belgien gewohnt und nur in Belgien gearbeitet hat). Der grenzüberschreitende Bezug unterliegt allerdings keinen strengen Anforderungen. Nach Leopold (Vorschriften des EU-Sozialrechts über das gerichtliche Verfahren, in ZESAR 2017, 109-116) genügt es jedenfalls, wenn eine Person in mehreren Mitgliedstaaten gearbeitet hat. Nach Wolff-Dellen (in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl. 2014, § 61, Rn. 53) soll sich bei EU-Bürgern der notwendige grenzüberschreitende Bezug sogar schon aus der Staatsbürgerschaft eines anderen EU-Mitgliedstaats ergeben.
Diese Voraussetzungen sind im Fall des Klägers zur Überzeugung des Senats erfüllt. Die Slowakei ist seit 2004 Mitglied der Europäischen Union. Entsprechend ist auch die slowakische Sprache eine der Amtssprachen der Europäischen Union. Der Kläger, der wie seine verstorbene Ehefrau Versicherungszeiten in der Slowakei und in Deutschland zurückgelegt hat und eine Versichertenrente wie auch eine Witwerrente bezieht, die nach deutschem und nach zwischenstaatlichen Recht berechnet ist, hat damit den erforderlichen grenzüberschreitenden Bezug nachgewiesen. Hinzukommt, dass es dem Kläger im Wesentlichen um die Berücksichtigung der in der Slowakei (früheren Tschechoslowakei) zurückgelegten Versicherungszeiten und der hieraus resultierenden Rentenberechnung geht. Auf die Frage, ob dieses Begehren im Einzelfall zulässig erhoben wird, kommt es für die Frage, ob ein grenzüberschreitender Bezug vorliegt und ein Rechtsmittel daher auch in der Muttersprache wirksam eingereicht werden kann, nicht an.
2. Die Berufung ist im Sinne der beantragten Zurückverweisung auch begründet, weil das Sozialgericht die Klage aus diesem Grund zu Unrecht als unzulässig behandelt hat. Die Klage, die innerhalb eines Monats nach der Bekanntgabe des Widerspruchsbescheids vom 02.02.2018 am 07.03.2018 in slowakischer Sprache verfasst schriftlich beim Sozialgericht eingegangen ist, ist vom Kläger zulässig erhoben worden. Sie ist auch nicht verfristet eingelegt worden. Zwar ist der Widerspruchsbescheid vom 02.02.2018 nach dem Absendevermerk schon am 02.02.2018 (einem Freitag) „zur Post gegeben“ worden und würde – falls damit die tatsächliche Übergabe an ein mit der Zustellung beauftragtes Unternehmen dokumentiert wurde – nach der sog. Drei-Tages-Fiktion spätestens am 05.02.2018 als zugegangen gelten (§ 37 Abs. 2 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – SGB X bzw. § 85 Abs. 3 Satz 2 SGG i.V.m. § 4 Verwaltungszustellungsgesetz – VwZG für den Fall der Zustellung durch die Post mittels Einschreiben). Die Bekanntgabefiktion des § 37 Abs. 2 SGB X bzw. § 4 Abs. 2 Satz 2 VwZG kommt allerdings dann nicht zum Tragen, wenn der Verwaltungsakt nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt tatsächlich zugegangen ist (vgl. auch § 37 Abs. 2 Satz 2 SGB X); im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsakts und seinen Zeitpunkt nachzuweisen. Der Kläger hat in seiner Klageschrift angegeben, den Widerspruchsbescheid tatsächlich am 09.02.2018 bei der Post abgeholt zu haben. Damit hat er Tatsachen dargelegt, aus denen schlüssig die nicht entfernt liegende Möglichkeit hervorgeht, dass ein Zugang des Verwaltungsakts erst nach dem von § 37 Abs. 2 Satz 1 HS. 1 SGB X vermuteten Zeitpunkt erfolgt ist (vgl. etwa Pattar in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl. 2017, § 37 SGB X, Rn. 106 mwN). Wann der Widerspruchsbescheid, der nach der Verfügung als Einschreiben zugestellt werden sollte, wofür die vom Kläger angegebene Abholung bei der Post spricht, sich in der Akte aber keine Nachweise finden, tatsächlich zur Post gegeben worden ist, kann dagegen nicht nachvollzogen werden.
Damit hat das Sozialgericht zu Unrecht nicht in der Sache entschieden. An einer Sachentscheidung fehlt es dann, wenn das Sozialgericht entweder zu Unrecht durch Prozessurteil entschieden hat oder aus anderen Gründen nicht zu einer Entscheidung über das materielle Rechtsschutzanliegen gelangt ist (vgl. nur beispielhaft Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/ Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 159 Rn 2a, 2b und aktuell Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 28. März 2018 – L 15 SO 52/17 -). Das war vorliegend der Fall. Das Sozialgericht hat sich mit dem Antrag des Klägers inhaltlich nicht befasst, weil es von einer unwirksamen Klageerhebung ausgegangen ist. Auf das Vorliegen eines Verfahrensfehlers im Sinne des § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG und das Erfordernis einer umfangreichen und aufwändigen Beweisaufnahme kommt es in dieser Konstellation nicht an. Das Ermessen, welches dem Landessozialgericht bei einer Entscheidung auf der Grundlage des § 159 SGG zusteht, übt der Senat im Sinne einer Zurückverweisung aus. Er räumt dem Erhalt des Instanzenzuges, auf den der Zurückverweisungsgrund des § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG letztlich auch abzielt, im vorliegenden Fall den Vorrang gegenüber einer erstinstanzlichen Sachentscheidung durch den Senat ein.
Eine Kostenentscheidung war durch den Senat nicht zu treffen. Sie bleibt der Entscheidung des Sozialgerichts vorbehalten.
Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), liegen nicht vor.


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