Sozialrecht

Zeitliche Beschränkung für nachzuzahlende Sozialleistungen

Aktenzeichen  L 6 R 490/17

Datum:
31.1.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 1609
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
GG Art. 14
GG Art. 3
SGB X § 44 Abs. 1
SGB X § 44 Abs. 4

 

Leitsatz

1. Die zeitliche Beschränkung des § 44 Abs. 4 S. 1 SGB X für nachzuzahlende Sozialleistungen (hier: Erwerbsminderungsrente) greift unabhängig von der Frage, ob dem zuständigen Sozialversicherungsträger eine Mitverursachung zuzurechnen ist. (Rn. 12)
2. Die Vorschrift des § 44 Abs. 4 S. 1 SGB X begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. (Rn. 13)

Verfahrensgang

S 17 R 420/17 2017-07-05 GeB SGAUGSBURG SG Augsburg

Tenor

I. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 5. Juli 2017 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die zulässige Berufung der Klägerin ist nicht begründet. Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 05.07.2017 ist nicht zu beanstanden. Die Beklagte hat mit den angegriffenen Bescheiden zu Recht Rentennachzahlungen erst ab dem 01.01.2012 erbracht.
Diese Vorgehensweise entspricht der Vorschrift des § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X. Danach werden Sozialleistungen, falls ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen wird, längstens für einen Zeitraum von 4 Jahren vor der Rücknahme erbracht. Der Zeitraum der Rücknahme wird vom Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird, § 44 Abs. 1 Satz 2 SGB X, und wurde vorliegend mit dem 01.01.2012 zutreffend berechnet. Das Regelungsgefüge des § 44 SGB X bringt insoweit zwei widerstreitende Prinzipien zum Ausgleich: Auf der einen Seite verhilft es der materiellen Gerechtigkeit zur Geltung. Adressaten rechtswidriger Verwaltungsakte sollen so gestellt werden, als hätte die zuständige Behörde von vornherein richtig gehandelt. Auf der anderen Seite berücksichtigt es die Bestandskraft behördlicher und gerichtlicher Entscheidungen, indem hohe tatbestandliche Anforderungen normiert und in Abs. 4 die leistungsrechtlichen Folgen einer Durchbrechung begrenzt werden. Damit sind zwei wesentliche Aspekte des in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Rechtsstaatsprinzips berührt: Einzelfallgerechtigkeit und Rechtssicherheit (vgl. Merten in: Hauck/Noftz, Rn. 3 zu § 44 SGB X m.w.N.). Im Interesse einer möglichst weitgehenden Verwirklichung sozialer Rechte setzt sich dabei – im Gegensatz zu anderen Verfahrensordnungen des deutschen Rechts – prinzipiell die Einzelfallgerechtigkeit respektive Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns (in Form eines gebundenen Aufhebungsanspruchs) durch. Das einfache Gesetzesrecht lässt dies ausdrücklich zu. Als die Bestandskraft von Verwaltungsakten einschränkende Norm ist § 44 SGB X eine andere gesetzliche Bestimmung im Sinne von § 77 SGG. Verfassungsrechtlich geboten ist dieser Vorrang aber nicht (vgl. BVerfG vom 27.02.2007, Az.: 1 BvR 1982/01; BSG vom 25.03.2003, Az.: B 1 KR 36/01 R).
Die Vierjahresfrist des § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X stellt in diesem Interessengefüge eine materielle Ausschlussfrist dar, die zwingend von Amts wegen zu beachten ist und nicht der Dispositionsbefugnis oder dem Ermessen der Verwaltung wie auch der Gerichte unterliegt. Gegen die Anwendung der Vorschrift kann weder der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung noch ein Verstoß gegen Treu und Glauben geltend gemacht werden (BSG vom 23.07.1986, Az.: 1 RA 31/85; BSG vom 26.05.1987, Az.: 4a RJ 49/86; Merten in: Hauck/Noftz, Rn. 91 zu § 44 SGB X m.w.N.). Rückwirkende Leistungen sind selbst dann auf einen Zeitraum von bis zu vier Jahren vor der Rücknahme beschränkt, wenn den Leistungsträger ein erhebliches Verschulden trifft (vgl. Hauck/Noftz, Rn. 98 zu § 44 SGB X; BSG vom 11.04.1985, Az.: 4b/9a RV 5/84). Entgegen der Auffassung der Klägerin ist daher für den vorliegenden Fall nicht entscheidungserheblich, ob und wenn ja welcher Verschuldensvorwurf den Handelnden zu machen und ob dieser Verschuldensvorwurf der Beklagten zuzurechnen ist. Insbesondere ist auch die Unterlassung einer an sich gebotenen Fehlerkorrektur genauso wie der ursprüngliche Fehler sanktionslos und verlängert die Rückwirkung nicht über Abs. 4 hinaus (Kasseler Kommentar, Rn. 24 zu § 45 SGB X). Schon deswegen ist der Vorwurf der Klägerin, die Beklagte hätte sich bei der Rentenversicherung der ehemaligen DDR erkundigen müssen, unerheblich. Er ist zudem nicht zutreffend. Die Beklagte hat entsprechend den ursprünglichen Angaben der Klägerin, denen sie im Rahmen der Rentengewährung nicht widersprochen hat, die Rente angewiesen. Es bestanden zum Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides vom 14.06.2005 keine Anhaltspunkte für die Beklagte, dass die zu Grunde gelegten Angaben hinsichtlich der Ausbildung der Klägerin nicht zutreffend sein könnten. Ein fehlerhaftes Verwaltungshandeln ist danach nicht ersichtlich. Darüber hinaus wäre nach herrschender Meinung auch für einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch § 44 Abs. 4 SGB X entsprechend anzuwenden (vgl. BSG, Urteil vom 27.03.2007, B 13 R 58/06 R, Steinwedel in Kasseler Kommentar, SGB X, § 44 Rdnr. 47, Schütze in von Wulffen, SGB X, § 44 Rdnr. 33 m.w.N.).
Zur Überzeugung des Senats begegnet die Vorschrift des § 44 Abs. 4 SGB X auch keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Sie verstößt weder gegen die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG noch gegen den aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitenden Grundsatz des Vertrauensschutzes oder gegen das Gleichheitsgebot des Art. 3 GG. Der Senat nimmt insoweit ausdrücklich auf die erschöpfende Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes Bezug (vgl. BSG vom 15.12.1982, Az.: GS 2/80; BSG vom 23.07.1986, Az.: 1 RA 31/85; BSG vom 21.01.1987, Az. 1 RA 27/86; BSG vom 23.07.1986, Az.: 1 RA 31/85 m. w. N.; s.a. LSG Hessen vom 23.08.2013, Az.: L 5 R 359/12).
Die Berufung war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 1, Abs. 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.


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