Sozialrecht

Zu den Voraussetzungen einer auflösenden Bedingung bei Stützrententatbeständen

Aktenzeichen  L 2 U 100/11

Datum:
12.7.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 136001
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGG § 54 Abs. 4, § 109, § 128 Abs. 1 S. 1, § 160 Abs. 2, § 193
SGB X § 24 Abs. 1, § 32, § 33, § 48 Abs. 1, § 56 Abs. 1 S. 2
SGB VII § 56 Abs. 2 S. 1

 

Leitsatz

1. Eine auflösende Bedingung muss hinreichend konkret den Wegfall der Leistung bei Eintritt eines genau bezeichneten zukünftigen Ereignisses regeln. Dabei muss auch das Ereignis hinreichend konkret bestimmt sein, damit erkennbar ist, von welchen Umständen die Geltung der Hauptregelung abhängt. (Rn. 77)
2. Die Mitteilung im Rentenbescheid, dass Anspruch auf Rente nur besteht, solange die Erwerbsfähigkeit wegen eines anderen Versicherungsfalls um mindestens 10 v.H. gemindert, enthält keine hinreichend bestimmte auflösende Bedingung. (Rn. 78)

Verfahrensgang

S 5 U 253/08 2011-02-08 GeB SGAUGSBURG SG Augsburg

Tenor

I. Auf die Berufung des Klägers werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 08.02.2011 und der Bescheid der Beklagten vom 20.10.2009 abgeändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger Verletztenrente für den Arbeitsunfall vom 04.03.1975 nach einer MdE von 10 v. H. über den 31.07.2011 hinaus zu zahlen.
II. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
III. Die Beklagte hat dem Kläger die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die zulässige Berufung des Klägers erweist sich teilweise als begründet.
Der Kläger hat wegen des Arbeitsunfalls vom 04.03.1975 keinen Anspruch auf eine Verletztenrente nach einer MdE von 20 v.H. Der Bescheid der Beklagten vom 27.05.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.07.2008 erweist sich als rechtmäßig.
Statthafte Klageart hinsichtlich der begehrten Verletztenrente nach einer MdE von 20 v.H. ist die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (vgl. § 54 Abs. 4 SGG). Gemäß § 56 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v.H. gemindert ist, Anspruch auf eine Rente. Mindern die Folgen des Versicherungsfalles die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 v.H., besteht für den Versicherungsfall gemäß § 56 Abs. 1 Satz 2 und 3 SGB VII Anspruch auf Rente, wenn die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Versicherungsfälle gemindert ist und die Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20 erreichen. Nach § 56 Abs. 3 Satz 2 SGB VII wird bei einer MdE Teilrente in Höhe des Vomhundertsatzes der Vollrente geleistet, der dem Grad der MdE entspricht.
Dabei richtet sich die MdE gemäß § 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten durch die Unfallfolgen auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens. Abgestellt wird nicht auf die konkrete Beeinträchtigung im Beruf des Versicherten, sondern es wird eine abstrakte Berechnung vorgenommen (vgl. Bereiter-Hahn, Gesetzliche Unfallversicherung, § 56 RdNr.10.1). Die Bemessung des Grades der MdE ist eine Tatsachenfeststellung, die das Gericht gemäß § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG nach seiner freien aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft (vgl. BSG, Urteil vom 05.09.2006 – B 2 U 25/05 – Juris RdNr. 10). Dies gilt für die Feststellung der Beeinträchtigung des Leistungsvermögens des Versicherten ebenso wie für die auf der Grundlage medizinischer und sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher oder seelischer Beeinträchtigungen zu treffende Feststellung der ihm verbliebenen Erwerbsmöglichkeiten (vgl. BSG ebenda). Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, sind eine wichtige Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE, vor allem soweit sie den Umfang der Beeinträchtigung der körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen betreffen (vgl. BSG, Urteil vom 05.09.2006 – B 2 U 25/05 R – Juris RdNr. 10). Erst aus der Anwendung (medizinischer) Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter Gesundheitsbeeinträchtigungen auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalles kann die Höhe der MdE geschätzt werden (vgl. BSG, SozR 3-2200 § 581 Nr. 8). Bei der Beurteilung der MdE sind die von der Rechtsprechung sowie dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze zu beachten. Diese sind zwar nicht bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis und unterliegen einem ständigen Wandel (vgl. BSG, Urteil vom 22.06.2005 – B 2 U 14/03 R – Juris RdNr. 12).
Unfallfolgen sind die Gesundheitsschäden, die wesentlich durch den Gesundheitserstschaden des Versicherungsfalls verursacht wurden oder die nach besonderen Zurechnungsnormen wie § 11 SGB VII dem Gesundheitserstschaden bzw. dem Versicherungsfall zugerechnet werden (vgl. BSG, Urteil vom 05.07.2011 – B 2 U 17/10 R – Juris).
Für die erforderliche Kausalität zwischen Unfallereignis und Gesundheitserstschaden sowie zwischen Gesundheits(erst) schaden und weiteren Gesundheitsschäden gilt die Theorie der wesentlichen Bedingung (vgl. BSG, Urteil vom 17.02.2009 – B 2 U 18/07 R – Juris RdNr. 12), die auf der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie beruht. Danach ist jedes Ereignis Ursache eines Erfolges, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio-sine-qua-non). Als rechtserheblich werden aber nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. Welche Ursache wesentlich ist, muss aus der Auffassung des praktischen Lebens über die besondere Beziehung der Ursache zum Eintritt des Erfolgs abgeleitet werden (vgl. BSG, Urteil vom 17.02.2009 – B 2 U 18/07 R – Juris RdNr. 12) sowie auf Basis des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes über die Möglichkeit von Ursachenzusammenhängen zwischen bestimmten Ereignissen und der Entstehung bestimmter Krankheiten (vgl. BSG, Urteil vom 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R – Juris RdNr. 17). Gesichtspunkte für die Beurteilung sind neben der versicherten Ursache als solcher, einschließlich Art und Ausmaß der Einwirkung, u.a. die konkurrierende Ursache (nach Art und Ausmaß), der zeitliche Ablauf des Geschehens, das Verhalten des Verletzten nach dem Unfall, Befunde und Diagnosen des erstbehandelnden Arztes sowie die gesamte Krankengeschichte (vgl. BSG, Urteil vom 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R – Juris RdNr. 16). Es kann mehrere rechtlich wesentliche Mitursachen geben. Ist jedoch eine Ursache – allein oder gemeinsam mit anderen Ursachen – gegenüber anderen Ursachen von überragender Bedeutung, so ist oder sind nur die erstgenannte(n) Ursache(n) „wesentlich“ und damit Ursache(n) im Sinne des Sozialrechts (vgl. BSGE 12, 242, 245). Eine Ursache, die zwar naturwissenschaftlich ursächlich ist, aber nicht als „wesentlich“ anzusehen ist, kann auch als „Gelegenheitsursache“ oder Auslöser bezeichnet werden (vgl. BSG, Urteil vom 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R – Juris RdNr. 15 m.w.N.).
Hinsichtlich des Beweismaßstabes ist zu beachten, dass das Vorliegen des Gesundheits(erst) schadens im Wege des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, für das Gericht feststehen muss, während für den Nachweis der wesentlichen Ursachenzusammenhänge die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit genügt (vgl. BSG, Urteil vom 02.04.2009 – B 2 U 29/07 R – Juris RdNr. 16).
Nach durchgeführter Beweisaufnahme vermag der Senat keine Unfallfolgen im Bereich der Wirbelsäule, insbesondere der LWS festzustellen, die bei der Bildung der MdE berücksichtigt werden könnten.
Weder hat die Beklagte im Bescheid vom 27.05.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.07.2008 Erstschäden im Bereich der LWS bindend anerkannt noch sind diese nach durchgeführter Beweisaufnahme nachgewiesen. Soweit in den ärztlichen Unterlagen Veränderungen im Bereich der Wirbelkörper der LWS genannt werden, können diese nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf den Unfall vom 04.03.1975 als wesentliche Teilursache zurückgeführt werden.
Entgegen der Auffassung des Klägers wurden bereits am Unfalltag im KKH E-Stadt Röntgenaufnahmen nicht nur vom Becken, sondern auch von der LWS gefertigt; in Auswertung dieser Unterlagen haben die behandelnden Ärzte nämlich eine Rechts-Dreh-Skoliose der LWS festgehalten. Das ergibt sich aus dem D-Arztbericht von Dr. D. vom 11.03.1975. Irgendwelche Brüche im Bereich der Lendenwirbelkörper, insbesondere des 1., 3. oder 4. LWK, haben die Ärzte damals dagegen nicht feststellen können und auch im Abschlussbericht nach sechstägiger stationärer Behandlung vom 13.03.1975 nicht dokumentiert.
Dr. G. hat für den Senat überzeugend dargelegt, dass es der ärztlichen Erfahrung widerspricht, dass ein frischer Vorderkantenabbruch des 1. Lendenwirbelkörpers bei erstmaliger Behandlung zu keinerlei dokumentierten Beschwerden geführt haben sollte. Im klinischen Befund des KKH E-Stadt über die Behandlung am 04.03.1975 wird aber eine freie LWS-Beweglichkeit ohne Klopf- oder Stauchungsschmerz beschrieben, bei normalen Reflexen sowie normaler Beweglichkeit und Sensibilität an den Beinen. Vor diesem Hintergrund ist aus gutachterlicher Sicht ein unfallbedingter LWK-Bruch hochgradig unwahrscheinlich, worauf Dr. G. schlüssig hingewiesen hat. Zeitnah erfolgte weitere Behandlungen wegen LWS-Beschwerden, die Hinweise auf Verletzungen der LWS geben könnten, sind nicht ersichtlich. Auch unter Berücksichtigung der beigezogenen und übersandten Unterlagen ist eine weitere Untersuchung im Bereich der LWS frühestens für 1980 dokumentiert. Denn Dr. P. hat in seinem Bericht vom 22.03.1982 eine Röntgenaufnahme der LWS vom 18.11.1980, erstellt von Dr. F., erwähnt.
Soweit sich der Kläger auf Arztbriefe von Dr. P., dem damaligen Chefarzt der chirurgischen Abteilung des KKH B-Stadt, aus dem Jahr 1982 stützt, genügen diese zum Nachweis von Wirbelbrüchen nicht. Der Einschätzung von Dr. P. am 22.03.1982, dass in den vom Kläger mitgebrachten Röntgenbildern vom Unfalltag eine Kompressionsfraktur des 1. LWK mit Absprengung eines 10 x 8 mm großen vorderen unteren Kantendreiecks erkennbar sei, steht die abweichende Beurteilung von Dr. K., dem damaligen Chefarzt der chirurgischen Abteilung des KKH E-Stadt vom 21.04.1982 gegenüber, der nach Durchsicht der Röntgenaufnahmen einschließlich derjenigen aus dem Jahr 1975, eine Verletzung des 1. bis 3. Lendenwirbelkörpers nicht bestätigen konnte.
Dr. K. hat erklärt, dass nur ein minimaler Vorderkantenabbruch am 1. LWK vermutet werden könne, zumal die Vorderkante des 1. LWK gegenüber den Vergleichswirbeln um ca. 3 mm höhenvermindert sei, und dass Verletzungszeichen an den übrigen Wirbelkörpern nicht zu erkennen seien. Er beschreibt im Röntgenbild der LWS nur eine minimale Höhenminderung der 1. LWK ohne Stufe in der Deckplatte.
Weitere gutachterliche Auswertungen der Röntgenbilder waren dem Senat verwehrt, da ihr Verbleib unbekannt ist. Prof. Dr. K. hat die Röntgenbilder von 1975 in seinem Gutachten nicht erwähnt bzw. ausgewertet. Soweit der Kläger auf spätere Befunde hingewiesen hat, in denen Veränderungen im Bereich der LWK genannt oder beschrieben worden sind, geben diese keinen Aufschluss darauf, ob sie bereits am Unfalltag vorhanden waren. Das gilt insbesondere, soweit sich Dr. P. im Arztbrief vom 22.03.1982 auf Röntgenaufnahmen aus dem Jahr 1980 – also erst fünf Jahre nach dem Unfall – stützt, soweit im Rehabilitationsbericht der Klinik W-Stadt Ende 1981 eine geringe Verformung des 1. LWK im Röntgenbild beschrieben wird, soweit die Ärzte der Praxis Dres. S. und P. Röntgenbilder aus dem Jahr 2003 bzw. soweit Dr. B. Röntgenbilder aus dem Jahr 2013 beschreibt. Im Übrigen hat Dr. P. im Arztbrief vom 17.01.1985 deutlich zurückhaltender als in seinem Arztbrief vom 22.03.1982 nur noch von einer in den Röntgenbildern der LWS angedeuteten keilförmigen Veränderung des 1. LWK gesprochen, möglicherweise nach leichter Kompressionsfraktur. Soweit sich der Kläger auf die Erwähnung von Wirbelkörperbrüchen in Arztbriefen stützt, ist darauf hinzuweisen, dass entsprechende Angaben insbesondere unter der Anamnese bzw. unter der Vorgeschichte zu finden sind, so von Dr. L. im Arztbrief vom 29.07.1981, von Dr. H. im Bericht vom 25.09.2003, von Dr. K. im Arztbrief vom 26.03.2016 oder von Prof. Dr. G. und Dr. L. in den Berichten vom 07.07.2016 und 11.10.2016, und damit auf Angaben des Klägers selbst beruhen. Belege dafür, dass Veränderungen der Wirbelkörper der LWS bereits 1975 aufgetreten wären, sind diesen Unterlagen aber nicht zu entnehmen.
Vor diesem Hintergrund ist nach Ansicht des Senats ein bereits am Unfalltag vorliegender frischer Bruch im Bereich der LWK unter Berücksichtigung der dokumentierten Erstbefunde unwahrscheinlich. Ausdrücklich weist der Senat darauf hin, dass es für Verletzungen des 3. und 4 LKW, die der Kläger später gegenüber behandelnden Ärzten wiederholt als Unfallfolgen genannt hat, keinen einzigen objektiven Anhaltspunkt in den vorliegenden Unterlagen gibt. Insbesondere hat Dr. P. nach Durchsicht der Röntgenbilder von 1975 und 1980 keine Wirbelkörperbrüche im Bereich des 3. und 4 LWK genannt. Im Gegenteil führte er im Arztbrief vom 17.01.1985 aus, dass mit Ausnahme des 1. LWK, der eine angedeutete keilförmige Veränderung aufweise, die aktuellen Röntgenbilder sonst unauffällige Wirbelkörper gezeigt hätten. Lediglich ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass Dr. G. auch keine funktionellen Einschränkungen der LWS festgestellt hat. Vielmehr war die Wirbelsäule insgesamt altersentsprechend beweglich, ohne Schmerzäußerungen während der Untersuchung, mit selbständigem Wiederaufrichten, möglicher Seitneigung um 30°, Drehung um 50°, Finger-Boden-Abstand von 30 cm, Zeichen nach Ott von 30 zu 31 cm und lumbalem Schober von 10 zu 14 cm, was insgesamt für eine gute Beweglichkeit der LWS spricht.
Die unfallbedingte Hüftprellung ist nach übereinstimmender Beurteilung aller vorliegenden Gutachten folgenlos ausgeheilt. Der im Bescheid der Beklagten als Erstschaden anerkannte distale Speichenbruch im linken Handgelenk hat dagegen eine mäßige Arthrose zwischen der linken Handwurzel und der Speichengelenkfläche zur Folge mit geringer Bewegungseinschränkung im linken Handgelenk. Unfallunabhängig ist dagegen die von Dr. H. genannte Rhizarthrose, die das Daumensattelgelenk betrifft, auch nach deren eigener Einschätzung. Die aus den Unfallfolgen im Bereich des Handgelenks resultierenden funktionellen Einschränkungen vermögen aber nach sorgfältiger Untersuchung von Dr. G. und seinen überzeugenden Ausführungen keine MdE von 20 v.H. zu begründen. Zutreffend hat Dr. G. darauf hingewiesen, dass die unfallmedizinische Literatur (u.a. Schönberger / Mehrtens / Valentin „Arbeitsunfall und Berufskrankheit“, 9. Auflage S. 581) für einen Speichenbruch mit Achsenabknickung und Einschränkung der Handgelenksbewegungen um insgesamt 40° im Seitenvergleich eine MdE von 10 v.H. vorsieht, während eine MdE von 20 bis 30 v.H. erst bei erheblicher Achsenabknickung und Einschränkung der Handgelenksbewegungen um insgesamt 80° vorgesehen ist. Eine Achsenabknickung des Speichenbruchs liegt angesichts der von den Gutachtern beschriebenen regelrechten Stellung im Gelenk nicht vor. Allerdings wird die Beweglichkeit des linken Handgelenks auch durch die mäßige unfallbedingte Arthrose in gewissem Umfang eingeschränkt.
In den vorliegenden Gutachten wurden folgende Bewegungsausmaße festgehalten:
Prof. Dr. K. 2002 rechts links
Unterarmdrehung 80-0-80° 70-0-80°
Handgelenk:
Streckung/Beugung
(handrücken-, hohlhandwärts) 35-0-50° 20-0-30°
ellenwärts/ speichenwärts 20-0-30° 10-0-20°
Dr. H. 2008 rechts links
Unterarmdrehung 80-0-90° 80-0-90°
Handgelenk:
Streckung/Beugung (handrücken-, hohlhandwärts) 50-0-30° 30-0-20°
ellenwärts/ speichenwärts 30-0-40° 20-0-20°
Dr. G. 2017 rechts links
Unterarmdrehung 80-0-90° 80-0-90°
Handgelenk:
Streckung/Beugung
(handrücken-, hohlhandwärts) 70-0-35° 55-0-40°
ellenwärts/ speichenwärt 30-0-15° 25-0-15°
Unabhängig von der Problematik, dass in der Messwertaufstellung von Prof. Dr. K. und Dr. H. die Bewegungsausmaße nach ellen- und speichenwärts vertauscht worden sind, wie Dr. G. überzeugend dargelegt hat, ergibt sich auf Basis der vorliegenden Messwerte eine Einschränkung der Gesamtbeweglichkeit der linken Hand insgesamt einschließlich Unterarmdrehung im Seitenvergleich im Jahr 2002 von 55°, im Jahr 2008 von 60° und im Jahr 2017 von 20°, also nicht in einem Ausmaß von 80°. Dr. G. hat ferner ausgeführt, dass aus handchirurgischer Sicht angesichts der aktuell besseren Messwerte früher dokumentierte schlechtere Bewegungsausmaße nicht nachvollziehbar sind. Das erscheint dem Senat überzeugend, zumal im Laufe der Zeit eintretende und hier festgestellte arthrotische Veränderungen erfahrungsgemäß eine Verschlechterungstendenz aufweisen und keine Operationen im Handgelenksbereich seit 2002 erfolgt waren, die Ursache für eine Besserung sein könnten. Da Dr. G. die ermittelten Bewegungsausmaße im Gutachten ausführlich und sorgfältig unter Nutzung von Fotodokumentationen belegt hat, während sich die Angaben in den übrigen Gutachten auf die bloße Mitteilung der Messwerte beschränkt, kommt nach Ansicht des Senats den Messwerten von Dr. G. für die Bestimmung des Ausmaßes der Bewegungseinschränkungen besondere Bedeutung zu.
Gegen wesentliche funktionelle Einschränkungen der linken Hand im Alltag spricht nach Überzeugung des Senats außerdem, dass in den seit 2002 erstellten Gutachten keine Minderungen der Hand-, Unterarm- oder Oberarmmuskulatur im Seitenvergleich und keine Minderung des Kalksalzgehalts im linken Handgelenk festgestellt wurden. Vielmehr sprechen die durchgehend beschriebene seitengleiche Handflächenbeschwielung, die 2002 zudem erwähnten Verarbeitungszeichen an den Händen sowie die bei den gutachterlichen Untersuchungen 2002 und 2008 beschriebenen Befunde wie der seitengleich kräftige Händedruck, der regelrechte Faustschluss, die uneingeschränkte Fingerbeweglichkeit und die uneingeschränkte Widerstandskraft der Finger für eine gute Funktion und gegen eine Schonung der linken Hand im Alltag. Zeichen für Nervenschäden, Durchblutungsstörungen, Weichteilverschmächtigungen trophische oder vegetative Störungen oder für eine Instabilität im Bereich des Handgelenks hat keiner der Sachverständigen festgestellt. Ausdrücklich hat der zuletzt untersuchende Sachverständige Dr. G. eine seitengleiche Muskulatur an Oberarm, Unterarm, Daumenballen und Kleinfingerballen und eine seitengleiche geringe Handbeschwielung festgehalten. Bei geführter Bewegungsprüfung war ein vollständiges Einschlagen aller Finger in die Hohlhand möglich. Die verschiedenen Greifformen sind zügig und normal gezeigt worden, bei vollständiger Fingerstreckung.
Selbst wenn man berücksichtigt, dass gewisse Tagesschwankungen in der Beweglichkeit des linken Handgelenks auftreten mögen, lässt sich nach Überzeugung des Senats in Übereinstimmung mit Dr. G. keine unfallbedingte MdE von 20 v.H. begründen. Demgegenüber überzeugt die gutachterliche Einschätzung der MdE in den Gutachten von Prof. Dr. K. und Dr. H. mit 20 v.H. nicht, zumal diese keine Bewertung der MdE getrennt nach Unfallfolgen der jeweiligen Arbeitsunfälle vorgenommen haben. Die Bildung einer Gesamt-MdE für mehrere Arbeitsunfälle ist aber nicht zulässig (vgl. BSG, Urteil vom 19.08.2003 – B 2 U 50/02 R – Juris RdNr. 21 f. m.w.N.).
Der Kläger hat aber über den 31.07.2011 hinaus Anspruch auf Zahlung von Verletztenrente nach einer MdE von 10 v.H. wegen seines Arbeitsunfalls vom 04.03.1975, obwohl – wie das Berufungsverfahren unter dem Az. L 2 U 452/12 ergeben hat – der Arbeitsunfall des Klägers vom 19.06.1980 in diesem Zeitraum keine MdE von 10 v.H. mehr bedingt und damit kein Stützrententatbestand mehr ersichtlich ist. Denn die Beklagte hatte dem Kläger mit Bescheid vom 20.10.2009 Verletztenrente nach einer MdE von 10 v.H. bewilligt. Diese Rentenbewilligung ist weder wegen Eintritts einer auflösenden Bedingung entfallen noch wurde der die Rente bewilligende Verwaltungsakt von der Beklagten zurückgenommen.
Mit der Formulierung im Tenor des Bescheides vom 20.10.2009 „Anspruch auf Rente haben Sie nur, solange Ihre Erwerbsfähigkeit wegen eines anderen Versicherungsfalls um mindestens 10 v.H. gemindert ist“ hat die Beklagte in den Bewilligungsbescheid keine rechtmäßige auflösende Bedingung für die Rentenbewilligung gemäß § 32 SGB X i.V.m. § 56 Abs. 1 Satz 2 SGB X aufgenommen (vgl. zur Frage der Zulässigkeit der auflösenden Bedingung bei Stützrentenbewilligung Kranig, in: Hauck/Noftz, Kommentar zum SGB VII, Stand 9/2010, zu § 56 RdNr. 30; Rieke, in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, Stand März 2017, zu § 56 SGB VII RdNr. 41).
Eine auflösende Bedingung muss den Wegfall der Leistung vom Eintritt eines genau bezeichneten, zukünftigen ungewissen Ereignisses abhängig machen (vgl. Benz, in: NZS 1998, S. 456 ff., S. 456). Gegen eine wirksame auflösende Bedingung spricht bereits, dass aus Sicht eines objektiven Empfängers keine wirksame Regelung für den Fall getroffen wird, dass die Erwerbsfähigkeit wegen eines anderen Versicherungsfalls nicht (mehr) um mindestens 10 v.H. gemindert ist (vgl. hierzu LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 17.11.2011 – L 10 U 5645/09 – Juris RdNr. 20). Insbesondere wird nicht hinreichend bestimmt gemäß § 33 SGB X geregelt, dass der rentenbewilligende Verwaltungsakt ohne weiteren Rücknahmebescheid der Beklagten bei Eintritt eines bestimmten, zukünftigen Ereignisses automatisch entfallen soll. Letztlich beschränkt sich die Formulierung hier auf die Wiedergabe einer von mehreren gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen für den Anspruch auf Verletztenrente nach einer MdE von 10 v.H. Dabei wird das mögliche Ereignis selbst, von dessen Eintritt das Entfallen des Verwaltungsaktes – der Rentenbewilligung – abhängen soll, nicht hinreichend konkret bezeichnet. Ebenso wie der Verwaltungsakt selbst müssen aber auch die Nebenbestimmungen gemäß § 32 SGB X hinreichend bestimmt sein (vgl. Mutschler, in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, 95. EL, zu § 32 SGB X RdNr. 9; Schütze in von Wulffen, Kommentar zum SGB X, 8. Auflage, zu § 32 SGB X RdNr. 32; vgl. BSG, Urteil vom 28.06.1990 – 4 RA 57/89 – Juris): Dazu gehört, dass das mögliche Ereignis selbst hinreichend bestimmt sein muss, damit erkennbar ist, von welchen Umständen die Geltung der Hauptregelung abhängt (vgl. Mutschler, a.a.O., RdNr. 15) und wann die auflösende Bedingung eintritt. Unklarheiten gehen zu Lasten der Behörde, der es grundsätzlich obliegt, klar, bestimmt, verständlich und widerspruchsfrei zu entscheiden (vgl. BSG, Urteil vom 25.06.1998 – B 7 AL 126/95 R – Juris RdNr. 34).
Ob die Erwerbsfähigkeit des Klägers wegen eines anderen Versicherungsfalles – also wegen irgendeines anderen Arbeitsunfalls oder irgendeiner anderen Berufskrankheit des Klägers – nicht mehr um mindestens 10 v.H. gemindert ist, ist aber schon kein hinreichend konkretes Ereignis zur Bestimmung des Endes eines Verletztenrentenanspruchs. Zum einen lässt die Formulierung offen, welcher oder welche Versicherungsfälle maßgeblich sein sollen. Zum anderen bedarf die Bestimmung der Höhe der MdE u.a. medizinischer Fachkenntnisse und Kenntnisse von den in der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Erfahrungswerten, wobei insbesondere die Abgrenzung einer MdE von 10 v.H. von einer MdE unter 10 v.H. erfahrungsgemäß sehr diffizil ist. Für den Versicherten ist daher regelmäßig nicht ersichtlich, ob bzw. wann seine unfallbedingte MdE infolge eines anderen Versicherungsfalls auf unter 10 v.H. sinkt. Schon deswegen können eine Änderung der MdE oder der Wegfall der MdE nicht zum Gegenstand einer auflösenden Bedingung gemacht werden, sondern allenfalls konkrete Ereignisse wie die Rücknahme der stützenden Verletztenrente durch entsprechenden Verwaltungsakt (vgl. hierzu auch Benz, in: NZS 1998, S. 255 ff., S. 460). Die Anfechtungsklage des Klägers ist daher hinsichtlich der im Tenor des Bescheides vom 20.10.2009 enthaltenen rechtswidrigen Nebenbestimmung begründet (vgl. zur isolierten Anfechtbarkeit unselbstständiger Nebenbestimmungen bei gebundenem Haupt-Verwaltungsakt Schütze, in: von Wulffen, Kommentar zum SGB X, 8. Auflage, zu § 32 RdNr. 35 ff.; BSG, Urteil vom 30.01.2002 – B 6 KA 20/01 R – Juris RdNr. 20).
Die Beklagte hat den rentenbewilligenden Verwaltungsakt auch nicht gemäß § 48 Abs. 1 SGB X zurückgenommen. Dem Schreiben der Beklagten vom 20.07.2011 lässt sich aus Sicht eines objektiven Empfängers keine Rücknahme des rentenbewilligenden Verwaltungsaktes vom 20.10.2009 entnehmen. Es handelt sich lediglich um ein Informationsschreiben zur S.- und Rechtslage. Die Beklagte teilt dem Kläger nach Darstellung der Sachlage abschließend mit, dass die Rentenzahlung in der Unfallsache vom 04.03.1975 zu dem Zeitpunkt wegfällt, zu dem der Wegfall der stützenden Rente aus der Unfallsache vom 19.06.1980 wirksam wird. Dieser Zeitpunkt konnte bei Verfassen des Schreibens vom 20.07.2011 schon deswegen noch nicht eingetreten sein, weil der Rücknahmebescheid vom 21.07.2011 hinsichtlich der stützenden Verletztenrente wegen des Arbeitsunfalls vom 19.06.1980 noch nicht erlassen, geschweige denn bekanntgegeben war. Das Schreiben vom 20.07.2011 enthält daher nur einen Hinweis auf einen künftig eintretenden Wegfall der Rentenzahlung, aber keine Regelung zum Ende des Rentenanspruchs oder zur Rücknahme des Rentenbescheides vom 20.10.2009, zumal es den Zeitpunkt nicht bestimmt. Dass die Beklagte das Schreiben vom 20.07.2011 nur als informelles Schreiben verfasst hat, zeigt sich auch daran, dass keine Rechtsmittelbelehrungbeigefügt war, dass sie das Schreiben – anders als den Bewilligungsbescheid vom 20.10.2009 oder den Rücknahmebescheid vom 21.07.2011 – gerade nicht als Bescheid bezeichnet hat und dass sie den Kläger nicht zuvor gemäß § 24 Abs. 1 SGB X angehört hatte, wie sie es vor Erlass des Rücknahmebescheides hinsichtlich der stützenden Rente vom 21.07.2011 getan hatte und wie es das Gesetz zwingend vorsieht.
Der Kläger hat folglich Anspruch auf Zahlung der Verletztenrente nach einer MdE von 10 v.H. über den 31.07.2011 hinaus aufgrund des bestandskräftigen Bewilligungsbescheides vom 20.10.2009.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt den Teilerfolg des Klägers.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.


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