Steuerrecht

BAföG: Anrechnungsfreistellung von Elterneinkommen zur Vermeidung unbilliger Härten, einkommensteuerrechtlicher Verlustvortrag, Forderungsverzicht von Gläubigern als „fiktives“ Einkommen

Aktenzeichen  12 ZB 17.656

Datum:
4.10.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 25283
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BAföG § 21, § 25
EStG § 10d

 

Leitsatz

1. „Sanierungsgewinne“ (durch Forderungsverzicht von Gläubigern) bleiben nicht als Einkommen nach § 21 Abs. 4 Nr. 4 BAföG unberücksichtigt. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
2. Verlustvorträge, die steuerlich als Sonderausgaben zu qualifizieren sind, können bei der ausbildungsförderungsrechtlichen Einkommensermittlung nach § 21 BAföG nicht berücksichtigt werden. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
3. Eine unbillige Härte i.S.d. § 25 Abs. 6 S. 1 BAföG ist gegeben, wenn ein steuerlich festgesetztes Einkommen dem Einkommensbezieher tatsächlich nicht zur Verfügung steht, sodass der Auszubildende entweder keinen oder allenfalls einen geminderten Unterhaltsanspruch realisieren kann, und er deshalb er hinsichtlich der Finanzierung der Ausbildung nicht auf den Elternteil verwiesen werden kann. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
4. Allein in der Erhebung eines Widerspruchs gegen den Elterneinkommen berücksichtigenden Bescheid über Ausbildungsförderungsleistungen liegt nicht zugleich ein Antrag auf Anrechnungsfreistellung zur Vermeidung einer unbilligen Härte. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 15 K 16.3464 2017-02-09 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

Die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 9. Februar 2017 (Az.: M 15 K 16.3463) wird wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung zugelassen.

Gründe

Die Klägerin wendet sich mit ihrer Klage gegen die Rückforderung von Ausbildungsförderungsleistungen für den Bewilligungszeitraum Oktober 2012 bis September 2013 unter Anrechnung von Einkommen ihres Vaters.
I.
1. Am 30. Juli 2012 beantragte die Klägerin für den Bewilligungszeitraum Oktober 2012 bis September 2013 Ausbildungsförderungsleistungen für ihr Studium der „Wissenschaftlichen Grundlagen des Sports“ an der TU München. Da bei Antragstellung der Einkommensteuerbescheid ihres Vaters für das für die Anrechnung von Elterneinkommen maßgebliche Jahr 2010 noch nicht vorlag, wurden ihr mit Bescheid vom 31. Oktober 2012 Ausbildungsförderungsleistungen nach § 24 Abs. 2 Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) unter dem Vorbehalt der Rückforderung bewilligt. Nachdem sie weiterhin im Hinblick auf das Einkommen ihrer Mutter am 18. Januar 2013 nach § 24 Abs. 3 BAföG einen sog. Aktualisierungsantrag gestellt hatte, berechnete das beklagte Studentenwerk die Höhe der Ausbildungsförderung zunächst mit Bescheid vom 30. Januar 2013 neu und bewilligte ihr zuletzt aufgrund einer Bedarfsänderung mit Änderungsbescheid vom 22. November 2013 Ausbildungsförderung i.H.v. 597,00 € monatlich.
2. Aufgrund eines Auskunftsersuchens an das Finanzamt M. vom 10. Dezember 2015 übermittelte dieses dem beklagten Studentenwerk den Einkommensteuerbescheid 2010 des Vaters der Klägerin. Dieser Steuerbescheid (vom 27. Februar 2013) wies Einkünfte aus Gewerbebetrieb i.H.v. 100.418,00 € sowie zugleich einen Verlustvortrag von 75.106,00 € sowie weitere Sonderausgaben i.H.v. 4.441,00 € aus. Aus dem danach berechneten, zu versteuernden Einkommen von 20.835,00 € ergab sich eine festzusetzende Einkommensteuer i.H.v. 2.927,00 €. Angesichts dessen löste das Studentenwerk den Vorbehalt aus § 24 Abs. 2 BAföG bezüglich des Einkommens des Vaters der Klägerin auf, setzte die Ausbildungsförderungsleistungen für den Förderzeitraum Oktober 2012 bis September 2013 mit Bescheid vom 18. März 2016 endgültig auf 0,00 € fest und forderte zugleich überzahlte Förderleistungen i.H.v. 7.164,00 € (12 x 597,00 €) zurück.
3. Mit Schreiben vom 6. April 2016 erhob die Klägerin gegen die Neufestsetzung der Ausbildungsförderung und die Rückforderung überzahlter Leistungen Widerspruch. In der Folge bat die Klägerin mit Email vom 12. April 2016 (Bl. 127 der Förderakte des Beklagten), in der sie sich zunächst nach dem Eingang des Widerspruchs erkundigte, um eine baldige „Klärung des Sachverhalts“, da im Einkommensteuerbescheid des Vaters aus dem Jahr 2010 „Forderungsnachlässe der Lieferanten und ein Darlehensverzicht der Raiffeisenbank“ enthalten gewesen seien und das zu versteuernde Einkommen daher nur 20.835,00 € betragen habe. Den Widerspruch der Klägerin wies das Studentenwerk mit Widerspruchsbescheid vom 21. Juli 2016 als unbegründet zurück. Dabei ging es weiterhin von einem anrechenbaren Einkommen des Vaters der Klägerin aus Gewerbebetrieb i.H.v. 100.418,00 € aus.
4. Mit Email vom 5. August 2016 reichte die Klägerin beim Studentenwerk einen „Billigkeitsantrag“ ein. Sie wies erneut darauf hin, dass das tatsächlich zu versteuernde Einkommen ihres Vaters im Jahr 2010 lediglich 20.835,00 € betragen habe und sich der Gesamtbetrag der Einkünfte i.H.v. 100.418,00 €, wie ihn der Einkommensteuerbescheid ausweise, aus einem Forderungsverzicht der Lieferanten und der Raiffeisenbank ergebe, um eine Insolvenz zu vermeiden. Dieses Geld habe ihrem Vater zu keinem Zeitpunkt tatsächlich zur Verfügung gestanden. Damit liege ein absoluter Ausnahmefall vor.
5. Nachdem das Studentenwerk gegen den Vater der Klägerin zugleich mit dem Erlass des Widerspruchsbescheids ein Verfahren wegen einer Ordnungswidrigkeit nach § 58 BAföG eröffnet hatte, reichte dieser im Rahmen einer Anhörung nach § 55 OWiG eine Bestätigung seines Steuerberaters ein, wonach im Einkommensteuerbescheid 2010 das zu versteuernde Einkommen aufgrund eines Verlustvortrags lediglich i.H.v. 20.835,00 € festgesetzt wurde. Im Gesamtbetrag der Einkünfte seien indes „Sondereffekte aufgrund des Darlehensverzichts der Raiffeisenbank von EUR 37.765,47 sowie Forderungsnachlässe von Lieferanten von EUR 35.311,63 enthalten“. Des Weiteren erklärte der Vater der Klägerin, er habe zur Vermeidung einer Insolvenz mit der Raiffeisenbank und Lieferanten Forderungsverzichte i.H.v. insgesamt 73.077,10 € ausgehandelt. Von daher erkläre sich die Summe der Einkünfte i.H.v. 100.418,00 €. Soweit der Forderungsverzicht reiche, hätten ihm diese „Einkünfte“ tatsächlich nicht zur Verfügung gestanden. Aufgrund seines Geschäftsbetriebs habe er lediglich ein effektives Einkommen von etwas mehr als 20.000,00 € erwirtschaftet. Daraufhin stellte das Studentenwerk mit Schreiben vom 28. Juli 2016 das Ordnungswidrigkeitenverfahren nach § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 170 Abs. 2 StPO ein.
6. Die gegen den Bescheid vom 18. März 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21. Juli 2016 gerichtete Anfechtungsklage wies das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 9. Februar 2017 als unbegründet ab. Das beklagte Studentenwerk habe bei der abschließenden Entscheidung nach § 24 Abs. 2 Satz 3 BAföG das ausbildungsförderungsrechtlich zu berücksichtigende Einkommen des Vaters der Klägerin zutreffend unter Berücksichtigung der gesetzlichen Bindung der Ämter für Ausbildungsförderung an die Angaben im bestandskräftigen Steuerbescheid gemäß § 24 Abs. 2 Satz 1 BAföG ermittelt. Der einkommensteuerrechtlich relevante Verlustvortrag nach § 10d EStG habe indes für die ausbildungsförderungsrechtliche Bestimmung des Elterneinkommens nicht berücksichtigt werden können, da dies § 21 Abs. 1 Satz 3 BAföG nicht vorsehe. § 21 Abs. 1 Satz 3, 4 i.V.m. § 21 Abs. 2 BAföG regle abschließend die Möglichkeiten, Abzüge vom Einkommen i.S.v. § 21 Abs. 1 Satz 1 BAföG vorzunehmen. Die grundsätzliche Nichtberücksichtigung von Sonderausgaben, zu denen auch der Verlustvortrag rechne, erweise sich als verfassungsrechtlich unbedenklich. Abweichend von den genannten Vorschriften sei auch kein weiterer Teil der Einkünfte des Vaters der Klägerin zur Vermeidung unbilliger Härten nach § 25 Abs. 6 Satz 1 BAföG anrechnungsfrei zu stellen gewesen. Den hierfür erforderlichen Antrag habe die Klägerin weder innerhalb des Bewilligungszeitraums noch unverzüglich nach Kenntnis der Umstände, die zur Anrechnung auf den Bedarf geführt haben, gestellt. Kenntnis von der höheren Anrechnung des Einkommens ihres Vaters auf den Bedarf habe die Klägerin spätestens nach Erlass des Rückforderungsbescheids vom 18. März 2016 besessen. Sie hätte daher einen Billigkeitsantrag innerhalb der Widerspruchsfrist stellen müssen, habe dies jedoch weder ausdrücklich noch konkludent getan. Insbesondere stelle die Einlegung eines Widerspruchs keinen konkludenten Antrag auf Einkommensfreistellung zur Vermeidung einer unbilligen Härte dar. Es bedürfe vielmehr einer eindeutigen Erklärung, dass ein bestimmter vorgetragener Sachverhalt bei der Einkommensanrechnung gesondert zu berücksichtigen sei. Hierfür genüge auch die am 13. April 2016 beim Beklagten eingegangene Email vom 12. April 2016 nicht, da sich aus ihr nicht ableiten lasse, dass der Vater der Klägerin im Bewilligungszeitraum nicht leistungsfähig gewesen wäre und deshalb ein besonderer Härtefall geltend gemacht werde. Das beklagte Studentenwerk habe nach dem bisherigen Schriftverkehr vielmehr davon ausgehen müssen, dass die Klägerin wiederum eine Anerkennung des Verlustabzugs nach § 10d EStG anstrebe. Die weiteren Erläuterungen im „Billigkeitsantrag“ vom 8. August 2016 erwiesen sich indes als verspätet.
7. Gegen das klageabweisende Urteil richtet sich der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung, mit dem sie sinngemäß ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung i.S.v. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO geltend macht. Der Vater der Klägerin habe im Jahr 2010 nicht über ein Einkommen i.H.v. 100.418,00 € sondern lediglich über 20.853,00 € verfügt. Er habe zur Abwendung einer Insolvenz einen Verlustvortrag i.H.v. 75.105,00 € geltend machen können. Dieser setze sich zusammen aus einem Darlehensverzicht der Raiffeisenbank i.H.v. 37.765,47 € sowie Forderungsnachlässen von Lieferanten i.H.v. 35.311,63 €. Hierbei handele es sich um gezielte Stützungsmaßnahmen, nicht hingegen um steuerlich oder verwaltungsrechtlich begründete Subventionen. Bereits im Klageverfahren sei darauf hingewiesen worden, dass „die dem Verlustvortrag entsprechende Summe“ dem Vater der Klägerin tatsächlich nie zur Verfügung gestanden habe. Hinzuweisen sei weiter auf den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 14. Juli 1999 (Az.: 12 ZC 99.974 – BeckRS 1999, 18841), in dem dieser auf die gesetzgeberische Intention der Vermeidung einer ausbildungsförderungsrechtlichen Besserstellung im Falle steuerrechtlicher Subventionierung abgestellt habe. Mit Blick auf die „tatsächliche Leistungsfähigkeit und Liquidität“ ergebe sich aus der Steuerberaterbescheinigung und durch die Art der vorgetragenen „Verluste“, dass im vorliegenden Fall gerade keine über die Besteuerung vorgenommene Subventionierung vorliege und der Vater der Klägerin hinsichtlich seiner tatsächlichen Leistungsfähigkeit und Liquidität nur so ausgestattet gewesen sei, wie es das Testat des Steuerberaters angegeben habe.
8. Demgegenüber verteidigt das beklagte Studentenwerk das streitgegenständliche Urteil. Im vorliegenden Fall komme es nicht auf die tatsächliche Leistungsfähigkeit des Vaters der Klägerin im Zeitraum der Leistungsgewährung an. Vielmehr seien die Ämter für Ausbildungsförderung aus Gründen der Vereinfachung und ohne Verstoß gegen Grundrechte allein an die Feststellung der positiven Einkünfte durch die Steuerbehörden gebunden. Abweichungen seien allenfalls über die Gewährung eines Härtefreibetrags nach § 25 Abs. 6 BAföG denkbar. Den hierfür erforderlichen Antrag habe die Klägerin indes weder im Bewilligungszeitraum noch unverzüglich nach Kenntnis der Anrechnung des Einkommens ihres Vaters gestellt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die dem Senat vorliegenden Gerichts- und Behördenakten verwiesen.
II.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat Erfolg, da hinsichtlich der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils ernstliche Zweifel i.S.v. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestehen.
Das Verwaltungsgericht wie auch das beklagte Studentenwerk gehen bei der Bemessung der Ausbildungsförderung der Klägerin im Bewilligungszeitraum Oktober 2012 bis September 2013 unzutreffend von anrechenbarem Einkommen des Vaters der Klägerin im maßgeblichen Jahr 2010 i.H.v. 100.418,00 € aus. Zwar ist diesbezüglich der steuerliche Verlustvortrag nach § 10d des Einkommensteuergesetzes (EStG), auf den sich die Klägerin auch berufen hat, nicht einkommensmindernd zu berücksichtigen (1.). Gleichwohl sind weitere Teile des Einkommens des Vaters, nämlich im Umfang des Darlehensverzichts der Raiffeisenbank i.H.v. 37.765,47 € sowie der Forderungsnachlässe von Lieferanten i.H.v. 35.311,63 € nach § 25 Abs. 6 Satz 1 BAföG zur Vermeidung unbilliger Härten anrechnungsfrei zu stellen (2.). Einen entsprechenden Härtefallantrag hat die Klägerin – jedenfalls konkludent – ohne schuldhaftes Zögern nach Kenntniserlangung von der Einkommensanrechnung i.H.v. 100.418,00 € im Zuge der Auflösung des Vorbehalts des § 24 Abs. 2 BAföG durch den streitgegenständlichen Bescheid vom 18. März 2016 gestellt (3.).
1. Ausgangspunkt für die ausbildungsförderungsrechtliche Einkommensermittlung bildet nach § 21 Abs. 1 Satz 1 BAföG die Summe der positiven Einkünfte i.S.v. § 2 Abs. 1 und Abs. 2 EStG. Diese beträgt beim Vater der Klägerin für das vorliegend maßgebliche Jahr 2010 nach dem bestandskräftigen Steuerbescheid 100.418,00 €. Soweit darin – resultierend aus dem Darlehensverzicht der Raiffeisenbank sowie Forderungsnachlässen von Lieferanten – Gewinne aus gewerblichen Einkünften i.H.v. insgesamt 73.077,10 € enthalten sind, bleiben diese nicht bereits deshalb nach § 21 Abs. 4 Nr. 4 BAföG als Einkommen unberücksichtigt, weil es sich um Einnahmen handelt, deren Zweckbestimmung einer Anrechnung auf den Bedarf entgegensteht. Denn derartige „Sanierungsgewinne“ (durch Forderungsverzicht von Gläubigern) dienen nicht nur – wie vorgetragen – der Abwendung einer Insolvenz, sondern zugleich auch der Sicherstellung des Lebensunterhalts des Vergleichsschuldners und sind daher als Einkommen zu berücksichtigen (vgl. Hartmann in Rothe/Blanke, Bundesausbildungsförderungsgesetz, § 21 Rn. 29.1; OVG Berlin, U.v. 21.11.1983 – 7 B 8/82 – BeckRS 2009, 42194).
Soweit § 21 Abs. 1 Satz 2 BAföG im Zuge der ausbildungsförderungsrechtlichen Einkommensermittlung den steuerlich möglichen Ausgleich von Einkünften einer Einkunftsart mit Verlusten einer anderen Einkunftsart bzw. mit Verlusten des zusammen veranlagten Ehegatten oder Lebenspartners ausdrücklich untersagt, steht ein derartiger Verlustausgleich im vorliegenden Fall nicht in Rede, da der Vater der Klägerin gegenüber den durch Darlehensverzicht und Forderungsnachlass erhöhten Einkünften einen Verlustvortrag i.H.v. 75.106,00 € nach § 10d EStG geltend gemacht hat. Nach § 10d Abs. 2 Satz 1 EStG können nicht ausgeglichene negative Einkünfte, die nicht bereits nach § 10d Abs. 1 EStG im Wege des Verlustrücktrags abgezogen worden sind, in den folgenden Veranlagungszeiträumen bis zu einem Gesamtbetrag der Einkünfte von 1 Million Euro unbeschränkt, darüber hinaus bis zu 60% des 1 Million Euro übersteigenden Gesamtbetrags der Einkünfte vorrangig vor Sonderausgaben, außergewöhnlichen Belastungen und sonstigen Abzugsbeträgen in Abzug gebracht werden (Verlustvortrag). Der Verlustvor- bzw. -rücktrag ermöglicht die Verteilung von die entsprechenden Einkünfte übersteigenden Verlusten eines Einkommensbeziehers auf mehrere Jahre und stellt daher eine steuerliche Subventionierung dar. Verlustvorträge, die steuerlich als Sonderausgaben zu qualifizieren sind, können indes bei der ausbildungsförderungsrechtlichen Einkommensermittlung nach § 21 BAföG nicht berücksichtigt werden (so bereits BayVGH, B.v. 14.7.1999 – 12 ZC 99.974 – BeckRS 1999, 1..8841 Rn. 3). Sie sind dort nicht als abzugsfähige Einkünfte bezeichnet. Da Verlustvorträge überdies die tatsächliche Leistungsfähigkeit eines Einkommensbeziehers im maßgeblichen Zeitraum nicht beeinflussen, sondern nur das zu versteuernde Einkommen mindern, kommt ihr Abzug ebenfalls nicht in Betracht. Die Ämter für Ausbildungsförderung bleiben insoweit an die Festsetzungen des Einkommensteuerbescheides hinsichtlich des zu versteuernden Einkommens gebunden.
2. Weiterhin sieht § 25 Abs. 6 Satz 1 BAföG jedoch vor, dass zur Vermeidung unbilliger Härten auf besonderen Antrag, der vor dem Ende des Bewilligungszeitraums zu stellen ist, weitere Teile des Einkommens anrechnungsfrei gestellt werden können. Diese Bestimmung dient zugleich als verfassungsrechtlich gebotenes Korrektiv zum Verlustausgleichsverbot des § 21 Abs. 1 Satz 2 BAföG in atypischen Konstellationen (vgl. BVerfG, B.v. 15.9.1986 – 1 BvR 363/86 – juris; BVerwG, B.v. 10.2.1987 – 5 B 10.87 – BeckRS 1987, 31287224; OVG Lüneburg, B.v. 9.3.2011 – 4 LA 218/10 – BeckRS 2011, 51643; VG München, U.v. 20.1.2006 – M 15 K 04.2086 – BeckRS 2006, 31212; VG Dresden, U.v. 9.6.2009 – 5 K 2568/07 – juris). Insbesondere in Fällen, in denen ein steuerlich festgesetztes Einkommen dem Einkommensbezieher tatsächlich nicht zur Verfügung steht, sodass der Auszubildende gegen ihn entweder keinen oder allenfalls einen geminderten Unterhaltsanspruch realisieren kann, kann er hinsichtlich der Finanzierung der Ausbildung nicht auf den Elternteil verwiesen werden (vgl. Winkler in BeckOK Sozialrecht, Stand 1.6.2019, § 25 BAföG Rn. 31). Insoweit wurde in der Rechtsprechung wiederholt entschieden, dass die Anrechnung von real nicht existierendem, lediglich „fiktivem“ steuerlichen Einkommen im Einzelfall eine unbillige Härte darstellen kann und daher weitere Einkommensteile von der Anrechnung freigestellt werden müssen (vgl. insb. OVG Schleswig, U.v. 14.8.2014 – 3 LB 12.12 – BeckRS 2014, 56863: „Sanierungsgewinn“ wegen Forderungsverzicht von Gläubigern bei anschließendem Steuererlass; OVG Berlin-Brandenburg, U.v. 23.5.2017 – OVG 6 B 85.15 – BeckRS 2017, 111915 Rn. 19 ff.: entgegen dem Steuerbescheid tatsächlich nicht zugeflossenes Einkommen; VG München – U.v. 20.1.2006 – M 15 K 04.2086 – BeckRS 2006, 31212: bestandskräftige Steuerschätzung trotz tatsächlich fehlender Einkünfte; VG Dresden, U.v. 9.6.2009 – 5 K 2568/07 – juris: Einkommen lediglich aufgrund einer Steuerschätzung durch Finanzamt).
Vorliegend hat sich ausweislich der vom Vater der Klägerin vorgelegten Bestätigung seines Steuerberaters das zu versteuernde Einkommen im Jahr 2010 aus Gewerbebetrieb durch Forderungsverzichte von Lieferanten und der Raiffeisenbank zur Vermeidung einer Insolvenz um 73.077,10 € erhöht, wohingegen aus dem tatsächlichen Geschäftsbetrieb des Vaters der Klägerin etwas mehr als 20.000,00 € erwirtschaftet worden sind. Steuerlich hat der Vater der Klägerin sein unter Anrechnung der Forderungsverzichte gebildetes zu versteuerndes Einkommen durch den Verlustvortrag nach § 10d EStG wiederum auf etwas über 20.000,00 € gesenkt. Tatsächlich stand ihm der zur Abwendung einer Insolvenz durch den Forderungsverzicht erzielte „Sanierungsgewinn“ nicht zur Verfügung, sodass es für die Klägerin eine unbillige Härte darstellen würde, sie auf das „fiktive steuerliche Einkommen“ ihres Vaters zur Finanzierung der Ausbildung zu verweisen (vgl. zur identischen Fallkonstellation OVG Schleswig, U.v. 14.8.2014 – 3 LB 12.12 – BeckRS 2014, 56863). Insofern hätte bei der Berechnung des Einkommens des Vaters der Auszubildenden ein Betrag i.H.v. 73.077,10 € anrechnungsfrei gestellt werden müssen.
3. § 25 Abs. 6 Satz 1 BAföG sieht weiterhin vor, dass ein Billigkeitsantrag zur Anrechnungsfreistellung von Einkünften innerhalb des Bewilligungszeitraums zu stellen ist. Gerade mit Blick auf § 24 Abs. 2 BAföG, der die Leistung von Ausbildungsförderung unter dem Vorbehalt der Rückforderung vorsieht, wenn der Steuerbescheid des Einkommensbeziehers dem Amt für Ausbildungsförderung noch nicht vorliegt und der Auszubildende keine Kenntnis von der genauen Höhe der Anrechnung des Elterneinkommens besitzt, hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden, dass in diesen Fällen der Billigkeitsantrag auch nach Ablauf des Bewilligungszeitraums gestellt werden kann, wenn dem Auszubildenden vorher kein Anhaltspunkt dafür bekannt war, dass das vom Amt für Ausbildungsförderung in Ansatz gebrachte Einkommen zu einer Rückforderung führt (vgl. BVerwG, U.v. 15.11.1990 – 5 C 78.88 – BVerwGE 87, 103 = BeckRS 9998, 48027, LS 2; U.v. 23.2.2010 – 5 C 2.09 – BVerwGE 136, 109 = BeckRS 2010, 4..9403 Rn. 31 ff.). Der Billigkeitsantrag ist dabei „unverzüglich“ nach Kenntnis der Einkommensanrechnung und spätestens bis zum Ablauf der Widerspruchsfrist zu stellen. Dabei liegt allein in der Erhebung eines Widerspruchs gegen den Elterneinkommen berücksichtigenden Bescheid über Ausbildungsförderungsleistungen nicht zugleich ein Antrag auf Anrechnungsfreistellung zur Vermeidung einer unbilligen Härte (vgl. BVerwG, U.v. 23.2.2010 – 5 C 2.09 – BVerwGE 136, 109 = BeckRS 2010, 4..9403 Rn. 31 ff.; Sächsisches OVG, U.v. 13.9.2012 – 1 A 78/11 – BeckRS 2012, 5..9970 Rn. 6). Es bedarf insoweit vielmehr einer eindeutigen, ggf. auch konkludenten Erklärung des Auszubildenden, dass ein bestimmter vorgetragener Sachverhalt bei der Einkommensanrechnung gesondert zu berücksichtigen ist (Sächsisches OVG, a.a.O; ferner, U.v. 13.9.2012 – 1 A 383/10 – BeckRS 2012, 5..9969 LS 2; OVG Saarlouis, B.v. 26.3.2008 – 3 A 466.07 – BeckRS 2008, 3..4430 Rn. 11; BayVGH, U.v. 22.10.1998 – 12 B 96.426 – BeckRS 2005, 29304).
Dem folgend hat das Verwaltungsgericht zunächst zutreffend festgestellt, dass die Klägerin einen ausdrücklichen „Billigkeitsantrag“ erst nach Zugang des Widerspruchsbescheids gestellt hat. Zugleich hat es in der Email der Klägerin an das Amt für Ausbildungsförderung vom 12. April 2016 jedoch keinen Billigkeitsantrag erkannt. Diese Auffassung begegnet indes ernstlichen Zweifeln, da ein Billigkeitsantrag auch in der Weise konkludent gestellt werden kann, dass an das Amt für Ausbildungsförderung die besonderen Umstände der Einkommensanrechnung herangetragen und deren Berücksichtigung gefordert wird (vgl. Sächsisches OVG, U.v. 13.9.2012 – 1 A 383/10 – BeckRS 2012, 59969; VG München, U.v. 20.1.2006 – M 15 K 04.2086 – BeckRS 2006, 31212: Schreiben, dass der gesamte Besitz zur Begleichung von Verbindlichkeiten zwangsversteigert wurde; Winkler in BeckOK Sozialrecht, Stand 1.6.2019, § 25 BAföG Rn. 32). Dies ist vorliegend jedoch mit der Email der Klägerin vom 12. April 2016 geschehen, da sie nicht – wie das Verwaltungsgericht meint – lediglich nochmals auf den ausbildungsförderungsrechtlich irrelevanten Verlustvortrag nach § 10d EStG hingewiesen, sondern vielmehr ausdrücklich die „Forderungsverzichte“ der Lieferanten und der Raiffeisenbank thematisiert und um deren „baldige Klärung“ bei der Einkommensanrechnung gebeten hat. Deutlicher kann der Wille, eine Billigkeitsentscheidung in Anspruch nehmen zu wollen, nicht hervortreten. Damit hat die Klägerin der Sache nach einen konkludenten Billigkeitsantrag gestellt, sodass die Voraussetzungen des § 25 Abs. 6 Satz 1 BAföG vorliegen. In der Folge sind daher, anders als das Verwaltungsgericht meint, von den Einkünften des Vaters der Klägerin 73.077,10 € anrechnungsfrei zu stellen. Sähe man in der Email vom 12. April 2016 indes keinen Billigkeitsantrag, hätte das beklagte Studentenwerk gegenüber der Klägerin jedenfalls eine Beratungspflicht getroffen, deren Verletzung ggf. einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch begründen würde.
Mithin gebieten ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung nach § 124 Abs. 2 Satz 1 VwGO die Zulassung der Berufung. Dem Beklagten wird angesichts des vorstehend Ausgeführten empfohlen, den streitgegenständlichen Rückforderungsbescheid vom 18. März 2016 aufzuheben und einer für diesen Fall zu erwartenden Erledigungserklärung der Klägerin vorab zuzustimmen. Das Verfahren wird nunmehr unter dem Aktenzeichen 12 B 19. fortgeführt. Eine Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.


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