Steuerrecht

Widerruf der behördlichen Aussetzungsentscheidung

Aktenzeichen  20 CS 16.368

Datum:
20.6.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 80 Abs. 4, Abs. 5
KAG Art. 13 Abs. 1 Nr. 5a
AO AO § 222
GKG GKG § 66 Abs. 3 S. 3

 

Leitsatz

1 Das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis entfällt nicht infolge einer rechtswdrigen Stundung der streitgegenständlichen Forderung. (redaktioneller Leitsatz)
2 Die Aussetzungsentscheidung gemäß § 80 Abs. 4 S. 1 VwGO kann durch die Behörde im Rahmen eines laufenden gerichtlichen Aussetzungsverfahrens (§ 80 Abs. 5 VwGO) nur dann geändert werden, wenn veränderte Umstände vorliegen (Fortführung von BayVGH, BeckRS 2005, 17872). (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 10 S 15.5139 2016-01-27 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

I.
Der Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 27. Januar 2016 wird aufgehoben.
Es wird festgestellt, dass die Vollziehung des Bescheids des Antragsgegners vom 23. Juni 2015 in der Gestalt des Änderungsbescheids vom 21. August 2015 aufgrund der Erklärung des Antragsgegners vom 25. November 2015 bis zur Entscheidung des Landratsamts Starnberg über den Widerspruch der Antragstellerin ausgesetzt ist.
II.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
III.
Der Streitwert wird für beide Rechtszüge auf jeweils 3.805,46 € festgesetzt.

Gründe

I.Der Antragsgegner betreibt eine öffentliche Einrichtung zur Wasserversorgung für das Gebiet der Gemeinde P., Landkreis Weilheim-Schongau. Zur Deckung seines Aufwands für die Herstellung der Anlage erhebt er von den Grundstückseigentümern und Erbbauberechtigten Beiträge auf der Grundlage seiner Beitrags- und Gebührensatzung zur Wasserabgabesatzung (BGS/WAS) vom 13. Dezember 2013 in der Fassung der jeweils gültigen Änderungssatzung.
Die Antragstellerin ist Eigentümerin des an die Wasserversorgungsanlage des Antragsgegners angeschlossenen Grundstücks Fl.Nr. 1291 der Gemarkung …, auf dem sie eine Grüngutsammelstelle betreibt.
Mit Bescheid vom 23. Juni 2015 i. d. F. des Änderungsbescheids vom 21. August 2015 setzte der Antragsgegner gegenüber der Antragstellerin für dieses Grundstück einen Herstellungsbeitrag für die Wasserversorgungseinrichtung in Höhe von zuletzt brutto 15.221,82 € fest. Die als „Umgriff“ veranlagte Grundstücksfläche war in einem dem Bescheid beigefügten Plan dargestellt.
Gegen beide Bescheide des Antragsgegners erhob die Antragstellerin fristgerecht Widerspruch. Mit Schreiben vom 20. Juli 2015 und 3. November 2015 beantragte sie beim Antragsgegner die Aussetzung der Vollziehung. Eine Reaktion erfolgte nach Aktenlage nicht.
Mit Schriftsatz ihrer Bevollmächtigten vom 16. November 2015 beantragte die Antragstellerin beim Verwaltungsgericht München, die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs gegen den Beitragsbescheid vom 23. Juni 2015 i. d. F. des Änderungsbescheids vom 21. August 2015 anzuordnen.
In einem Aktenvermerk vom 25. November 2015 hielt die Berichterstatterin des Verwaltungsgerichts München fest, dass der Antragsgegner nach einem Telefonat die Vollziehung des angefochtenen Bescheids bis zu einer Entscheidung über den Widerspruch aussetzen werde. Ein Schreiben folge. Der Antragsgegner teilte mit Schreiben vom 25. November 2015 mit, dass dem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs zugestimmt werde und „die Vollstreckung bis zur Entscheidung des Widerspruchs durch die (…) zuständige Aufsichtsbehörde“ ausgesetzt werde.
Mit Telefax vom 8. Dezember 2015 an das Verwaltungsgericht teilte der Antragsgegner mit, dass im Schreiben vom 25. November 2015 ein Fehler unterlaufen sei. Dem Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung werde nicht zugestimmt. Es hätte nur einer Stundung des fälligen Bescheides/Betrages zugestimmt werden sollen. Hiermit werde die Zustimmung zur Aussetzung widerrufen.
Das Bayerische Verwaltungsgericht München lehnte den Antrag mit Beschluss vom 27. Januar 2016 ab. Zur Begründung führte das Verwaltungsgericht aus, dass bereits die Zulässigkeit des Antrags nicht gegeben sei, da es am erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis fehle. Der Antragsgegner habe nämlich mit Schreiben vom 8. Dezember 2015 erklärt, dass der Bescheid zumindest bis zu einer Entscheidung durch die Widerspruchsbehörde zwar nicht in der Vollziehung ausgesetzt, wohl aber der geforderte Betrag bis dahin gestundet wäre. Der Antragstellerin drohe daher für den Zeitraum der Stundung keine Vollstreckung, so dass es einer Anordnung der aufschiebenden Wirkung nicht bedürfe. Die zuvor durch den Antragsgegner mit Schreiben vom 25. November 2015 erklärte Aussetzung der Vollziehung entfalte keine Bindungswirkung für diesen, auch liege hierin kein Anerkenntnis entsprechend § 173 VwGO i. V. m. § 307 ZPO, da es sich bei der Vollzugsaussetzung schon nicht um einen prozessualen Anspruch handele. Ungeachtet dessen spreche viel dafür, dass der Antrag auch inhaltlich unbegründet sei.
Gegen diesen Beschluss ließ die Antragstellerin Beschwerde erheben und beantragt,
unter Aufhebung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts München vom 27. Januar 2016 die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 23. Juni 2015 in der Gestalt des Änderungsbescheids vom 21. August 2015 anzuordnen.
Das Verwaltungsgericht verkenne, dass der Antragsgegner mit Schreiben vom 25. November 2015 eine prozessuale Erklärung abgegeben habe, die den Antrag der Antragstellerin anerkenne. Eine solche sei unanfechtbar und unwiderruflich. Der Antragsgegner habe sein erklärtes Anerkenntnis daher nicht durch den Widerruf vom 8. Dezember 2015 beseitigen können. Das Verwaltungsgericht könne sich auch nicht darauf stützen, dass nach dem Widerruf eine Stundung der streitgegenständlichen Beitragsforderung erklärt worden sei. Suspensiveffekt und Stundung seien zwei völlig unterschiedliche Gegenstände. Die Voraussetzungen einer Stundung hätten hier nicht vorgelegen. Die Würdigung des Verwaltungsgerichts, wegen der Stundung fehle es am Rechtsschutzbedürfnis, sei daher falsch. Auch die Einschätzung des Verwaltungsgerichts zur inhaltlichen Unbegründetheit sei fehlgehend.
Der Antragsgegner verteidigt den Beschluss des Verwaltungsgerichts und beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die beigezogenen Gerichts- und Behördenakten verwiesen.
II. Der Antrag der Antragstellerin ist sachgerecht dahingehend auszulegen, dass damit auch die Feststellung, dass die Vollziehung der streitgegenständlichen Bescheide nach § 80 Abs. 4 VwGO ausgesetzt ist, begehrt wird (§ 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO analog, vgl. Schoch in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, 29. Ergänzungslieferung Oktober 2015, § 80, Rn. 356 m. w. N.). Dies ergibt sich einerseits aus der Beschwerdebegründung, in der dahingehend argumentiert wird, dass die Erklärung des Antragsgegners vom 25. November 2015 nicht habe widerrufen werden können, andererseits aus dem Bestreiten des Antragsgegners, dass die Aussetzung der Vollziehung nicht mehr gelte.
Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Dem Antrag fehlt insbesondere entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht das Rechtsschutzbedürfnis.
Beim allgemeinen Rechtsschutzbedürfnis handelt es sich um eine allgemeine Zulässigkeitsvoraussetzung für jegliche Inanspruchnahme eines Gerichts. Es ist insbesondere dann nicht gegeben, wenn der Antragsteller sein Ziel auf anderem Wege schneller und einfacher erreichen könnte, wenn ein Erfolg seine Rechtsstellung nicht verbessern würde oder wenn es ihm auf dem Klageerfolg gar nicht ankommt (vgl. zum Ganzen Rennert in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, vor §§ 40 ff., Rn. 11 ff). Für den Entfall des Rechtsschutzbedürfnisses ist grundsätzlich ein strenger Maßstab anzulegen (Rennert a. a. O.). Danach fehlt dem Antrag vorliegend das Rechtsschutzbedürfnis aufgrund einer etwaigen Stundung nicht. Denn dem Schreiben des Antragsgegners vom 8. Dezember 2015 ist eine Stundung nach dem objektiven Empfängerhorizont schon nicht zu entnehmen. Dort wird lediglich erklärt, dass in dem vorherigen Schreiben vom 25. November 2015 eine Stundung beabsichtigt gewesen sei. Eine Erklärung, dass nun der fällige Betrag gestundet werde, lässt sich dem Schreiben nicht entnehmen. Im Schreiben vom 25. November 2015 findet sich keinerlei Anhaltspunkt dafür, dass damit eine Stundung erklärt werden sollte. Vielmehr deutet dieses Schreiben, das in Anlehnung an die gesetzlichen Begriffe des § 80 Abs. 4 VwGO formuliert ist, eindeutig auf eine Aussetzung der Vollziehung nach § 80 Abs. 4 VwGO hin. Da der Antragsgegner beharrlich auf dem Standpunkt bleibt, dass eine Aussetzung der Vollziehung nicht erfolgt ist, kann dem Antrag das Rechtsschutzbedürfnis nicht abgesprochen werden (vgl. hierzu Schoch in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, 29. Ergänzungslieferung Oktober 2015, § 80 Rn. 498). Dies umso mehr, als im vorliegenden Fall die Voraussetzungen einer Stundung nach Art. 13 Abs. 1 Nr. 5. a) KAG i. V. m. § 222 Abgabenordnung offenbar nicht vorgelegen haben, da insbesondere nicht ersichtlich ist, worin hier die erhebliche Härte für die Antragstellerin liegen sollte. Damit handelte es sich bei der (nicht erklärten) Stundung, auf die sich der Antragsgegner für das Entfallen des allgemeinen Rechtsschutzbedürfnisses beruft, um eine rechtswidrige Stundung, die jederzeit rückgängig zu machen wäre. Auch vor diesem Hintergrund kann das Rechtsschutzbedürfnis für den vorliegenden Antrag nicht entfallen sein.
Der Antrag ist auch begründet. Denn der Antragsgegner hat in seinem Schreiben vom 25. November 2015 an das Verwaltungsgericht eindeutig erklärt, dass eine Aussetzung der Vollziehung nach § 80 Abs. 4 VwGO erfolgt (s.o.). Die zunächst erklärte Aussetzung der Vollziehung nach § 80 Abs. 4 VwGO wurde im Schreiben vom 8. Dezember 2015 durch den Antragsgegner nicht explizit widerrufen. Dort wurde lediglich ausgeführt, dass die „Zustimmung zur Aussetzung“ widerrufen werde. Einer derartigen Zustimmung bedurfte es jedoch nicht, da der Antragsgegner selbst für die Entscheidung nach § 80 Abs. 4 VwGO zuständig war. Aber auch wenn man diese Erklärung dahingehend auslegen wollte, dass damit ein Widerruf der Entscheidung nach § 80 Abs. 4 VwGO erfolgen sollte, so wäre dieser im vorliegenden Fall nicht wirksam.
Ob eine Aussetzungsentscheidung nach § 80 Abs. 4 Satz 1 VwGO von der Behörde, die sie getroffen hat, jederzeit wieder geändert oder aufgehoben werden kann (so Schmidt in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 80 Rn. 51; Kopp/Schenke, VwGO, 21. Aufl. 2015, § 80 Rn. 118; Redeker/v. Oertzen, VwGO, 16. Aufl. 2014, § 80 Rn. 34; OVG Münster, NVwZ-RR 2004, 725) oder ob hierfür veränderte Umstände vorauszusetzen sind (so BVerwG, B. v. 17.9.2001, NVwZ-RR 2002, S. 153 f.; BVerwG, B. v. 1.3.2012, 9 VR 7/11, juris, Rn. 8; Schoch in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, 29. Ergänzungslieferung Oktober 2015, § 80 Rn. 320), ist grundsätzlich umstritten. Zutreffend weist jedoch der 25. Senat des Verwaltungsgerichtshofs in seinem Beschluss vom 14. Dezember 2005 (Az. 25 CS 05.2886, juris, Rn. 3) darauf hin, dass für eine Änderung einer einmal getroffenen Aussetzungsentscheidung nach § 80 Abs. 4 VwGO veränderte Umstände zu fordern sind, wenn die Aussetzung im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO erfolgt. Denn andernfalls würden dem Antragsteller ohne Not mehrfach sich erledigende Verfahren mit mehrfachem Kostenrisiko nach § 161 Abs. 2 VwGO aufgezwungen werden können. Überträgt man diese Gesichtspunkte auf den vorliegenden Fall, so ist festzuhalten, dass veränderte Umstände in diesem Sinn nicht ersichtlich sind. Insbesondere lässt sich eine Änderung einer einmal getroffenen Aussetzungsentscheidung nicht damit rechtfertigen, dass man nun ungeachtet der gesetzlichen Voraussetzungen eine (rechtswidrige) Stundung beabsichtige.
Der Beschwerde war daher stattzugeben und die Entscheidung des Verwaltungsgerichts aufzuheben. Auf die materiell-rechtlichen Argumente der Beteiligten kam es streitentscheidend nicht an.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 53 Abs. 3 Nr. 2, 52 Abs. 3, 1 GKG i. V. m. Ziffer 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit, wonach ein Viertel des streitigen Betrages anzusetzen war.
Dieser Beschluss ist gemäß § 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG unanfechtbar.


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