Steuerrecht

(Zur Bindungswirkung rechtskräftiger Revisionsurteile gemäß § 110 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 FGO)

Aktenzeichen  VI R 37/18

Datum:
11.2.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
BFH
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BFH:2021:U.110221.VIR37.18.0
Normen:
§ 37 AO
§ 38 AO
§ 47 AO
§ 122 Abs 1 S 1 AO
§ 218 Abs 2 AO
§ 226 Abs 1 AO
§ 347 Abs 1 S 2 AO
§ 133 BGB
§ 157 BGB
§ 387 BGB
§ 40 Abs 2 FGO
§ 44 FGO
§ 46 Abs 1 FGO
§ 110 Abs 1 S 1 Nr 1 FGO
§ 110 Abs 2 FGO
Spruchkörper:
6. Senat

Leitsatz

1. NV: Die Bindungswirkung rechtskräftiger Urteile gemäß § 110 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 FGO besteht nicht nur bei Identität der Gegenstände im Erst- und Zweitverfahren, sondern auch, soweit im Erstverfahren über eine materiell-rechtliche Vorfrage für das Zweitverfahren entschieden worden ist. Die Rechtskraftwirkung eines Urteils bewirkt auch eine Bindung des Richters in einem nachfolgenden Verfahren, wenn die im ersten Verfahren rechtskräftig festgestellte Rechtsfolge eine präjudizielle Voraussetzung für das im zweiten Verfahren verfolgte Klageziel ist.
2. NV: Für die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit eines Abrechnungsbescheids sind die Verhältnisse im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung (Einspruchsentscheidung) maßgebend. Hat das Finanzamt über einen Antrag auf Erlass eines Abrechnungsbescheids nicht entschieden, kommt es auf die Verhältnisse zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz oder –wenn eine solche nicht stattgefunden hat– auf die Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung der Tatsacheninstanz an.
3. NV: Für das Rechtsschutzbedürfnis einer allgemeinen Leistungsklage, durch die die Finanzbehörde zur Zahlung eines durch Abrechnungsbescheid festgestellten Erstattungsanspruchs verurteilt werden soll, muss klägerseits dargelegt werden, dass die Finanzbehörde im konkreten Streitfall der sich aus dem Abrechnungsbescheid ergebenden Zahlungsverpflichtung nicht nachkommen werde.

Verfahrensgang

vorgehend FG Köln, 30. Mai 2018, Az: 3 K 2086/17, Urteil

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Köln vom 30.05.2018 – 3 K 2086/17 aufgehoben, soweit das Finanzgericht den Beklagten verurteilt hat, an die Klägerin 135,19 € zu zahlen; insoweit wird die Klage abgewiesen.
Im Übrigen wird die Revision zurückgewiesen.
Die Kosten des gesamten Verfahrens haben die Klägerin zu 20 % und der Beklagte zu 80 % zu tragen.
Die von der Klägerin zu tragenden Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Tatbestand

I.
1
Das Amtsgericht (AG) … eröffnete 2008 das Verbraucherinsolvenzverfahren über das Vermögen des … (Insolvenzschuldner) und bestellte die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) zur Treuhänderin. Mit Beschluss von Mai 2010 kündigte das AG dem Insolvenzschuldner die Restschuldbefreiung an und bestätigte die Klägerin als Treuhänderin.
2
Im Juni 2010 hob das AG das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Insolvenzschuldners mangels einer zu verteilenden Masse ohne Schlussverteilung auf. In dem Beschluss hieß es weiter: “Hinsichtlich etwaiger – auf die Dauer des Insolvenzverfahrens entfallender – Steuererstattungsansprüche wird die Nachtragsverteilung angeordnet (§ 203 Abs. 1 InsO).”
3
Der Insolvenzschuldner und seine Ehefrau gaben am 24.10.2010 die gemeinsame Einkommensteuererklärung für das Streitjahr (2009) ab. Darin machte der Insolvenzschuldner bei seinen Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit Fahrten zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte als Werbungskosten geltend. Die einfache Entfernung gab er mit 25 km an.
4
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt –FA–) setzte die Einkommensteuer mit Bescheiden vom 13.12.2010 auf 5.265 € fest. Die Einkommensteuerbescheide wurden dem Insolvenzschuldner persönlich sowie dem Insolvenzverwalter über das Vermögen der Ehefrau einzeln bekannt gegeben. Der Klägerin gab das FA die Einkommensteuerfestsetzung nicht bekannt. Die für die Wege zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte des Insolvenzschuldners anzusetzende Entfernungspauschale berechnete das FA erklärungsgemäß mit 1.725 € (230 Tage x 25 km x 0,30 €). Nach Abzug der vom Lohn des Insolvenzschuldners und seiner Ehefrau einbehaltenen Lohnsteuer, Lohnkirchensteuer und des Solidaritätszuschlags ergab die Abrechnung eine Überzahlung. Über die Verwendung des Guthabens wurde eine besondere Mitteilung angekündigt.
5
Das FA errechnete für den Insolvenzschuldner einen anteiligen Erstattungsanspruch in Höhe von 349,01 €, der sich aus 188,53 € Einkommensteuer, 99,62 € Kirchensteuer und 60,86 € Solidaritätszuschlag zusammensetzte. Diesen Betrag zahlte das FA an den Insolvenzschuldner aus und teilte dies der Klägerin mit.
6
Die Klägerin machte daraufhin geltend, die Erstattung habe aufgrund der angeordneten Nachtragsverteilung nicht mit schuldbefreiender Wirkung an den Insolvenzschuldner ausgezahlt werden dürfen, und forderte das FA auf, den Erstattungsbetrag auf das Treuhandkonto zu überweisen.
7
Das FA erließ daraufhin einen Abrechnungsbescheid vom 06.01.2011, mit dem es feststellte, dass der Erstattungsanspruch des Insolvenzschuldners durch die an ihn geleistete Zahlung erloschen sei.
8
Gegen den Abrechnungsbescheid erhob die Klägerin nach erfolglosem Einspruchsverfahren Klage, der das Finanzgericht (FG) stattgab. Die Revision des FA gegen das finanzgerichtliche Urteil wies der Bundesfinanzhof (BFH) mit Urteil vom 20.09.2016 – VII R 10/15 als unbegründet zurück. Das FA habe gegenüber dem Insolvenzschuldner nicht mit befreiender Wirkung leisten können, weil dessen Einkommensteuererstattungsanspruch für den Veranlagungszeitraum 2009 der Nachtragsverteilung unterlegen habe. Der Umstand, dass der Einkommensteuerbescheid dem Insolvenzschuldner und nicht der Klägerin erteilt worden sei, habe daran nichts geändert. Nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens sei die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis wieder auf den Insolvenzschuldner übergegangen, weshalb die Bekanntgabe eines nun ergehenden Steuerbescheids diesem gegenüber habe erfolgen müssen. Der Insolvenzschuldner sei wieder Inhaltsadressat geworden, weil die Festsetzung der Steuer ihm gegenüber als demjenigen, der den Steuertatbestand verwirklicht habe, wirken solle. Ergebe sich aus dem dem Erhebungsverfahren zuzurechnenden Abrechnungsteil des Steuerbescheids ein Erstattungsanspruch, der von der Nachtragsverteilung erfasst werde, sollte dieser auch dem Treuhänder bekannt gegeben werden. Eine Voraussetzung für die Geltendmachung des Anspruchs seitens des Treuhänders sei die Bekanntgabe jedoch nicht.
9
Die Klägerin bat das FA daraufhin mit Schreiben vom 26.02.2017 um Mitteilung, wann mit einer Auszahlung des Erstattungsbetrags zur Masse zu rechnen sei. Das FA unterrichtete die Klägerin mit Schreiben vom 23.03.2017, dass es den Einkommensteuerbescheid für 2009 nunmehr auch ihr in ihrer Eigenschaft als Treuhänderin bekannt geben werde. Der an den Insolvenzschuldner gerichtete Einkommensteuerbescheid vom 13.12.2010 löse im Verhältnis zur Klägerin keine Bindungswirkung aus, so dass der Steuerfestsetzung die materiell zutreffende Einkommensteuer zugrunde gelegt werden könne. Es sei beabsichtigt, bei der Berechnung der Entfernungspauschale anstelle einer Entfernung von 25 km nur 14 km anzusetzen, da dies laut einem Routenplaner die kürzeste Straßenverbindung sei.
10
Mit Schreiben vom 27.03.2017 vertrat die Klägerin demgegenüber die Ansicht, der Bescheid vom 13.12.2010 sei bestandskräftig, so dass der Erstattungsbetrag nicht durch eine anderweitige Steuerfestsetzung gekürzt werden könne. Die sich aus dem Bescheid vom 13.12.2010 ergebende Steuererstattung sei an sie in voller Höhe auszuzahlen. Dessen ungeachtet setzte das FA mit –an die Klägerin als Treuhänderin über das Vermögen des Insolvenzschuldners gerichtetem– Bescheid vom 21.04.2017 die Einkommensteuer für das Streitjahr auf nunmehr 5.468 € fest. Dabei berücksichtigte es die Entfernungspauschale –wie angekündigt– nur noch in Höhe von 966 € (230 Tage x 14 km x 0,30 €). Durch die höhere Einkommensteuerfestsetzung verringerte sich der auf den Insolvenzschuldner anteilig entfallende Erstattungsbetrag auf 213,82 € (69,67 € Einkommensteuer, 89,49 € Kirchensteuer und 54,66 € Solidaritätszuschlag). Außerdem setzte das FA in dem Bescheid vom 21.04.2017 Erstattungszinsen zur Einkommensteuer fest, die in Höhe von 21,07 € auf den Insolvenzschuldner entfielen. Die vorgenannten Beträge überwies das FA auf das Treuhandkonto der Klägerin.
11
Die Klägerin legte gegen den Einkommensteuerbescheid Einspruch ein und begehrte weiterhin die Auszahlung des restlichen Erstattungsguthabens aus dem Bescheid vom 13.12.2010. Mit einem am 10.05.2017 beim FA eingegangenen Schreiben erhob die Klägerin außerdem eine von ihr so bezeichnete “Untätigkeitsbeschwerde”, die das FA mit Schreiben vom 16.05.2017 ohne Beifügung einer Rechtsbehelfsbelehrung zurückwies. Den Einspruch der Klägerin gegen den Einkommensteuerbescheid wies das FA mit Einspruchsentscheidung vom 06.07.2017 ebenfalls als unbegründet zurück.
12
Die Klägerin erhob daraufhin erneut Klage, mit der sie beantragte, den Einkommensteuerbescheid vom 21.04.2017 und die Einspruchsentscheidung vom 06.07.2017 aufzuheben, das FA zu verpflichten, einen Abrechnungsbescheid über einen Erstattungsanspruch in Höhe von 135,19 € zu ihren Gunsten zu erlassen, und das FA zu verurteilen, an sie 135,19 € zu zahlen.
13
Das FG gab der Klage mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte 2018, 1925 veröffentlichten Gründen statt.
14
Mit der Revision rügt das FA die Verletzung formellen und materiellen Rechts.
15
Es beantragt,das Urteil des FG aufzuheben und die Klagen abzuweisen.
16
Die Klägerin beantragt,die Revision zurückzuweisen.


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